»Und«, fragt mich meine 13-jährige Tochter, nachdem sie die Lobhudelei über meine Reise nach Grönland über sich ergehen hatte lassen. »Könntest du dort leben?« »Darüber muss ich nachdenken«, antwortete ich. Und schließlich war es eine Frage, die mich nicht mehr losließ. Text: Jennifer Latuperisa-Andresen

Mitten im Nichts

Die ersten Minuten nach der Landung in Kangerlussuaq sind eine Mischung aus Verwunderung und Enttäuschung. Meine Erwartungen an Grönland sind so hoch, dass man sie hier am internationalen Flughafen, einer ehemaligen US-Militärbasis im Nirgendwo, nicht wirklich erfüllen kann. Die Hotels drum herum sind Wellblechgebäude, die eher einer Lagerhalle als einer gemütlichen Herberge gleichen. Der Monsterbus mit Riesenreifen, der mich quer durch das unwegsame Gelände transportiert, schaukelt so sehr, dass ich fast seekrank werde, und hat nicht einmal die Chance, auf Tuchfühlung mit einem Baum zu gehen.

Farbenpracht Grönland. Hier in Kangerlussuaq

Jennifer Latuperisa-Andresen

Denn es gibt keinen. Keine Blume, auch keine Blüte. Selbst Tiere, einmal abgesehen von Vögeln, scheinen wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Aber das kann nicht sein. Denn laut Reiseführer muss es sie hier irgendwo geben. Große Rentierherden sollen hier grasen. Von Moschusochsen und Polarfüchsen ist die Rede. Nur eben nicht jetzt. Ich stehe also kurz nach der Ankunft auf der größten Insel der Welt auf einem glattgewaschenen Felsen und schaue dem Moos beim Wachsen zu, habe uneingeschränkten Handyempfang und trage im Herzen ein wenig Traurigkeit.

Vor dem Roberts Gletscher in Grönland

Jennifer Latuperisa-Andresen

Wo sind die Iglus oder die Inuit? Wo sind die Hundeschlitten – aber was einen noch mehr bewegt – wo ist das Eis? Da huscht für einen klitzekleinen Moment der Gedanke durch den Kopf, dass diese Reise eine Enttäuschung werden könnte. Absolut grundlos. Denn schon ein paar Minuten später stehe ich auf dem Roberts-Gletscher. Eis unter den Winterstiefeln bei strahlend blauem Himmel. Eine Gletscherwanderung ist leicht möglich, selbst das Übernachten auf dem Gletscher wird von vielen Veranstaltern angeboten. Das muss ein Erlebnis sein. Das unruhige Eis unter dem Schlafsack und die tanzenden Polarlichter am Firmament. Ein Abenteuer, das durchaus reizvoll ist.

Nuuk – eine Stadt irgendwo zwischen Arktis und Moderne

Ich ziehe weiter gen Nuuk, in die grönländische Hauptstadt. Eine Stadt, die in den letzten Jahren aus allen Nähten platzte. Goldgräberstimmung kann man das wohl nennen, denn Grönland und das umgebene Polarmeer sind reich an Bodenschätzen. Allein das Vorkommen der Seltenen Erden – eine Mischung aus verschiedenen Metallen –, deren Einsatz in gebräuchlichen Gegenständen wie Flachbildschirmen oder Mobiltelefonen unverzichtbar ist, locken internationale Investoren. Ein gutes Geschäft für Grönland, andererseits aber ein zweischneidiges Schwert für die Zukunft. Denn wo die einen auf Profit und dazugehörigen Wohlstand hoffen – Letzteres ist in Grönland nicht selbstverständlich –, sehen andere die Geschäftsgrundlage des Tourismus gefährdet. Und die ihres eigentlichen Lebensunterhalts, denn man darf nicht vergessen, dass der Hauptteil der Bevölkerung Jäger und Fischer sind.

Nuuk - Die Hauptstadt Grönlands

Jennifer Latuperisa-Andresen

Nuuk zeigt sich als irrwitzige Mischung zwischen Arktis und Moderne. Kleine, rotgetünchte Fischerhäuschen treffen auf moderne Architekturbauten, geräucherter Walspeck auf amerikanischen Chili-Burger. Hier wollen die Jugendlichen modern, jung und hip sein, und dennoch will man seine Traditionen nicht abschütteln. So werden die historischen Trachten auch weiterhin mit Stolz getragen. Die Grönländer halten an ihrer einzigartigen Geschichte fest und schaffen zudem Platz für den Fortschritt. Für Reisende wird insbesondere in Nuuk die Sehnsucht nach dem rauen, dem ursprünglichen, ja gar unangetasteten Grönland nicht gestillt. Hier ist es eher ein Staunen bis Schämen über die eigenen Klischees, die von der Realität nicht erfüllt werden.

Das Eis hat die Form einer Kirche. Oder eines Monsters …

Doch dann kommt die Erlösung für jeden Grönlandreisenden: Ilulissat. Weiterhin in Westgrönland, nur ein bisschen weiter nördlich. Direkt an der Disko-Bucht liegt die Hauptstadt der Eisberge, die als solche auch als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt ist. Und bereits der erste Anblick der weißen Riesen, die dort im Meer treiben, ist atemberaubend. Dabei sieht man tatsächlich und sprichwörtlich nur die Spitze des Eisbergs, die vielleicht 150 Meter aus dem Wasser schaut, dafür aber unterhalb des Meeresspiegels bis zu 1.000 Meter in die Tiefe ragt. Ein Eisgigant, der bis zu 25.000 Jahre alt sein kann. Dieser Ort übt eine unvergleichbare Faszination aus, und auch auf die Gefahr hin, dass es nun etwas esoterisch klingt, packt dieses Fleckchen Erde einen auf ganz besondere Art und Weise. Eissüchtig, nenne ich das.

Wahnsinn! Die Eisberge zeigen sich in fantastischen Formen. Sehr ihr hier auch einen Totenkopf?

Jennifer Latuperisa-Andresen

Denn das Licht, das sich hier spiegelt und bricht und spielt, ist nirgends auf der Welt ähnlich. Das Eis ist mal blau, mal weiß, mal durchsichtig. Es hat ab und an die Form eines Monsters oder einer Kirche. Es schwimmt in Bögen, in Würfeln und in Brocken und wird belebt durch landende Vögel, umherkreisende Wale und zahlreiche Fischschwärme, die sich besonders gern in diesen Gewässern tummeln, weil diese wohl besonders rein sind.

Robert Peary, US-Ingenieur und Polarforscher, der behauptete, er sei der erste Mensch gewesen, der den Nordpol auf einer Expedition am Anfang des 20. Jahrhundert erreicht hat. Jedoch wird diese Aussage bis heute angezweifelt. Fest steht, dass bei dieser Eiseskälte und den damaligen Bedingungen seine Expedition eine übermenschliche Leistung war.

Peary sagte einst: »Das arktische Fieber ergriff mich als ein Gefühl.«

Dieses Gefühl kostete ihn acht Zehen, machte ihn aber weltberühmt. Der dänische Maler Emanuel Petersen wollte eigentlich gen Portugal reisen, als er sein Schiff verpasste und einfach das nächste nahm. Dieses führte ihn nach Grönland, und er verlor sich in der Liebe zu den Eisbergen. Bis zu seinem Tod malte er 3.500 Bilder der Eislandschaft, von denen nun acht Stück im dänischen Königshaus hängen.

Es dauert nicht lange, und ich bin eissüchtig

Und ich. Ich wandere die sogenannte Rote Route herab gen Küste, und als ich zum ersten Mal den Eisfjord sehe, in dem sich all die Eiskolosse tummeln, springt mein Herz vor Freude. Ich setze mich und muss erst einmal diesen Anblick verarbeiten, denn hier empfinde ich wirklich pures Glück – und ehrlich gesagt ist dies noch untertrieben ausgedrückt. Peary, Petersen und ich – allesamt eissüchtig. 80 Prozent von Grönland liegen unter einer Eisschicht, die bis zu 3.400 Meter dick ist. Millionen Tonnen von Eis drückt das grönländische Eisschild landeinwärts in den engen Fjord bei Ilulissat und presst es wie durch einen riesigen Muttermund ins Meer.

Alle fünf Minuten wird, speziell in den Sommermonaten, ein neuer gigantischer Eisberg tosend geboren. Dieser kann ein mächtiger Brocken sein, der beim Hinabkalben eine Flutwelle auslöst.

Wer das Glück hat, mit einem Flugzeug über die Gletscher zu fliegen und die Massen an Eis aus der Luft zu sehen, der kann sich schlichtweg nicht vorstellen, dass es eines Tages tatsächlich so weit sein soll, dass das endlos scheinende Eis wegschmilzt und als sechs bis sieben Meter höherer Meeresspiegel wieder auftaucht. Die Aussicht darauf scheint am Ort des Geschehens weiter weg als in Deutschland auf der Couch, wo in den Medien ständig das Schmelzen der Polkappen Thema ist. Doch wenn man sich die Zahlen anschaut, und die Grönländer gucken tatsächlich ganz genau hin, erfährt man, dass dreimal so viel Eis sich aus dem Gletscher löst wie vor 14 Jahren.

Die Eismassen Grönlands aus dem Flugzeug

Jennifer Latuperisa-Andresen

Die Zeit rennt …

Das Polarmeer, das im Winter üblicherweise gefriert und den Fischern neue Wege eröffnet, hat nicht mehr die Zuverlässigkeit der letzten Jahre. Ein Schicksalsschlag für diejenigen, die ihre Hunde vor den Schlitten spannen, um sich über das Eis in Gefilde zu wagen, wo man eisfischt oder Robben jagt, allerdings nun zwangsläufig mit einem neuen Realitätsbewusstsein.

Ilulissat hat 4.600 Einwohner, und im Sommer kommen reichlich Touristen, die sich das Schauspiel der Eisberge nicht entgehen lassen wollen. Sie werden angelockt von der Friedlichkeit der weißen Riesen. Sie wandern entlang der Pfade, gehen in die kleinen Restaurants, um die grönländische Küche zu kosten (Achtung, da kommt man schon mal an seine Grenzen). Dann touren entweder mit dem Boot oder dem Flieger zu den Gletschern, und das Irrwitzige ist ja, dass genau diese Neugier, diese Sehnsucht nach Eis, das befeuert, was der Faszination Grönlands eines Tages den Garaus ausmachen wird.

»Und, Mama, könntest du dort jetzt leben?«, fragt mich meine Tochter noch einmal. Ich glaube, ja. Mir würde vieles fehlen. Insbesondere an Komfort, deswegen kann ich auch den Wunsch der Inuit nach mehr Wohlstand durchaus nachvollziehen. Meist – und das ist wirklich sehr traurig anzusehen – wohnen sie in heruntergekommenen Sozialbauten, die weder der Landschaft noch der Menschheit zuträglich sind, und beziehen Gelder vom dänischen Staat, der jedoch – und das bleibt auch zu bemerken – an Grönland festhält, und sicherlich nicht, weil die dänische Krone es als ihre Pflicht betrachtet, den 50.000 Menschen unterstützend zur Seite zu stehen. Es geht vielmehr um die Bodenschätze, um den Profit. Aber: Auch die Grönländer profitieren von den Dänen; so sind die medizinische Versorgung, der Mindestlohn und der Lebensstandard überraschend hoch. Selbst in kleinen Siedlungen befinden sich Supermärkte, die einem kontinentaleuropäischen in nichts nachstehen.

Jennifer Latuperisa-Andresen

Wer in Ilulissat durch den Markt streift, der findet nicht nur Polarfuchsfell, übrigens überraschend wenig wert, weil es so viele Tiere gibt, und Lampenöl, sondern auch jede gängige Gemüse- oder Obstsorte. Auch Alkohol, Schokolade oder Zigaretten gibt es in Hülle und Fülle. Und wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mir entlang der Wanderroute schon ein perfektes Plätzchen für ein Haus erdacht. Auf einen Garten kann man bei den Temperaturen ja getrost verzichten. Das kommt mir entgegen, kann ich mich nicht einmal ordentlich um eine Zimmerpflanze kümmern. Wie praktisch auch, dass hier keine Bäume wachsen, die ich eh nicht benennen kann. Dafür hätte ich bodentiefe Fenster, um von meinem Schreibtisch aus das Panorama zu genießen, während ich Geschichten und Reportagen schreibe.

Ja, ich könnte hier leben. Denn mein Name ist Jennifer Latuperisa-Andresen, und ja, ich bin eissüchtig.

Infos. Einen guten Einblick bekommt man über: www.greenland.com

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Diese Reportage finden Sie auch als Podcast.