Jamaika besticht mit grandioser Natur und geradlinigen Menschen. Doch die Wurzeln der stolzen Nation reichen noch nicht weit in die Vergangenheit. Eine Spurensuche. Text: Markus Grenz

»Yu did a see di doctabird?«

Unser Skipper lässt kurz seinen Bambusstock in der linken Hand ruhen und deutet mit der rechten auf das schon ziemlich undurchdringlich grüne Dickicht am Flussufer. Unter uns gurgelt gemächlich der Martha Brae River. Bevor ich mir die im breiten Slang vom anderen Floßende herübergerufene Frage im Kopf übersetzt habe, ist der winzig kleine Schwalbenschwanz schon längst weitergeschwirrt. »Ääh«, stammele ich zur Antwort, und «Captain» Messam nickt befriedigt. Stolz sind die Jamaikaner auf ihre nationalen Symbole, und dazu gehört auch der Kolibri mit dem grünen Federkleid und den ellenlangen schwarzen «Rockschößen». Na ja, jedenfalls habe ich den Kapitän nicht enttäuscht, denn meine Nichtantwort klang in seinen Ohren wie ein »Eeh« – und das bedeutet auf Jamaika-Kreolisch ein »Ja«. Ganz schön schwierig, dieses Patois.

Das Land der Wälder und des Wassers

Seit knapp 30 Minuten schippern wir auf unserem Bambusfloß den Fluss hinunter, ein Wechselspiel aus Naturerlebnis, kleinem Sprachunterricht und Einblick in Messams Alltag. Um uns herum plätschert das reine und nur durch den Boden braune Flusswasser. Strahlendes Sonnenlicht wechselt sich ab mit kühlem Schatten, den die saftige Vegetation aufs Wasser wirft. Begleitet vom Zirpen der Zikaden, geht es rund viereinhalb Kilometer lang vorbei an sich sonnenden Schildkröten, riesenhaften Bambusbäumen, dicken Nussbäumen oder sanft schwingenden Häuptern von Kokospalmen. Von Zeit zu Zeit staune ich darüber, wie die großen Termitenbauten auf den Ästen der Schwerkraft trotzen. Lianen und Wurzeln hängen Spalier. Und stellenweise sieht es aus, als hätte sich am Ufer eine grüne Flut ins Wasser ergossen. Jamaika ist ein Naturerlebnis, daran besteht kein Zweifel. Nicht umsonst lautet die Übersetzung des Landesnamens so viel wie »Land der Wälder und des Wassers«, nicht umsonst steht das Grün in der schwarz-gelb-grünen Nationalflagge für die üppige Natur der Antilleninsel und das Gelb für die Sonne. »Jah Mon«, würde dazu unser Skipper sagen. Denn das heißt so viel wie »Aber sicher«.

Markus Grenz

Und noch alles Mögliche weitere, das eine Aussage bekräftigt. Immer wieder lässt unser Kapitän die wohl am häufigsten auf Jamaika benutzte Wendung in seine Erzählungen einfließen. Seit mehr als 20 Jahren ist der Mittvierziger auf dem Fluss unterwegs, ist einer von insgesamt 80 Skippern hier – die sind aber Gott sei Dank nicht alle gemeinsam unterwegs. «Sieht einfach aus, ist aber ganz schön kräftezehrend. Der Fluss ist nur bis zu 1,20 Meter tief, hat aber auch starke Strömungen», erklärt er und spannt den Bizeps an. Arme und Beine sind auch nicht viel dicker als seine Bambusstange, mit der er das Floß steuert. Aber dafür nichts als sehnig. Das Leben auf der Trauminsel ist, wie so oft, für die Einheimischen nicht immer paradiesisch, jeder Fünfte lebt unterhalb der Armutsgrenze.

»Du musst stark sein«, spricht Messam eigentlich über seinen Job, könnte aber auch seine knapp drei Millionen Landsleute meinen.

Der Stolz der Bevölkerung ist überall zu spüren

Es ist eine Mischung aus Stolz und Stärke, die überall auf dieser Insel, die mit rund 11.000 Quadratmetern in etwa doppelt so groß ist wie das Bundesland Hessen, präsent ist – auch ein Ausdruck der Selbstbehauptung. Das gilt für die Menschen in den Küstenstädten wie Kingston, Montego Bay oder Ocho Rios ebenso wie für die im bergigen und grünen Innenland. Aufrechte Haltung, ein Körperkult, muskulös bei den Herren und betont feminin bei den Damen, dazu ein mitunter fast schon stolzierender Gang, springen immer wieder ins Auge. Die vielen Fitnessstudios der Insel sind gut besucht. Ergänzt wird das Ganze von einem selbstbewussten Sprechen, an das sich mancher Tourist erst gewöhnen muss. Unser Führer Carey Dennis kennt diese Besonderheit der jamaikanischen Seele sehr genau: »Wir scherzen manchmal, dass man alle unbequemen Leute auf den Sklavenschiffen auf Jamaika abgeladen hat. Wir sprechen hier keinen Singsang wie auf den anderen karibischen Inseln. Das ist aber nicht arrogant oder aggressiv, wir sind nur direkt und offen«, erklärt er: »Wir sind stolze und glückliche Leute.«

Stolz seien die Jamaikaner auf den führenden Charakter ihrer Nation in der karibischen Community, darauf, das erste englischsprachige Land der Karibik gewesen zu sein, den letztlich erfolgreichen Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft gewonnen zu haben, auf die eigenen Musikstile Dancehall und Reggae, ebenso auf die vielen lorbeerbekränzten Sportler wie den derzeit schnellsten Menschen der Welt, Usain Bolt. «Es sind viele Details, die unser Nationalgefühl ausmachen und uns in unseren Augen hervorheben«, sagt Carey. Eine Mentalität, die sich erst langsam entwickeln musste oder die man erst langsam entwickeln musste. Etwa mit dem spezifischen Patois, dem bisweilen verwirrenden Gemisch aus Englisch, afrikanischen Sprachen und anderen Einflüssen, die man im Rest der Welt durch den Hip-Hop kennt. Denn die erst 54 Jahre junge Nation, die zu 90 Prozent aus den Nachfahren ehemaliger Sklaven aus Westafrika besteht und in der den Rest andere Zuwanderer ausmachen, ist eigentlich entwurzelt. «Out of many, one people» ist im Landeswappen verewigt, ein Volk aus vielen.

Freiheitskämpfe der Sklaven hinterließen Spuren

Sucht man auf der Insel nach Wurzeln, so findet man nur wenige Orte für Rückbezüge. So richtig beginnt die Geschichtsschreibung der Nation erst mit den Sklaven, die ab dem 17. Jahrhundert hergebracht wurden, und deren Aufständen. In der Nationalflagge steht das Schwarz für die dunkelhäutige Bevölkerung, die die finstere Zeit der Sklaverei hinter sich gelassen hat. Die Ureinwohner, Taino und Kariben, haben als eigene Völker nicht überlebt. Einen Platz der Wurzeln zeigt uns Carey im Norden der Insel. Charles Town ist einer von vier Orten auf Jamaika, in denen die Maroon leben. In ethnischer Hinsicht unterscheiden sich die Nachfahren ehemaliger Sklaven aus u. a. Ghana und der Elfenbeinküste nicht von den meisten anderen Jamaikanern. Und auch das Dorf sieht mit seinen türkisen, gelben bzw. rot angepinselten oder schlicht roh belassenen eingeschossigen Holzhütten und -häuschen aus wie ein typisches Dorf im Inland der Insel. Die gemeinsame Klammer ist der erfolgreiche Freiheitskampf, die Maroon sind die Nachfahren der Sklaven, die sich mit der englischen Kolonialmacht gleich zwei Kriege und mehrere Aufstände lieferten. Sie sind fester Bestandteil der Befreiungsgeschichte Jamaikas, und haben u. a. mit dem marinierten Fleisch, das sie unter der Erde garen, um keinen Rauch zu erzeugen und Verfolger nicht anzulocken, Spuren in der Alltagskultur hinterlassen. Überall auf Jamaika kann man das köstliche Nationalgericht Jerk Chicken frisch aus umfunktionierten Ölfässern genießen.

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Marcia Douglas ist so etwas wie die Gouverneurin in Charles Town, die vier Gemeinschaften sind autonom. Ganz ohne formelles Brimborium führt uns die patente Enddreißigerin durch den einfachen Holzbau, in dem ihr Vater Kenneth ein Museum untergebracht hat. »Die Maroon-Kultur ist Teil des Unesco-Welterbes«, erklärt sie uns und zeigt uns traditionelle Musikinstrumente, geflochtenes Kunsthandwerk oder ein Modell des karstigen Cockpit-County im Landesinneren, in dem sich ihre Vorfahren lange der Verfolgung, selbst durch Bluthunde, entzogen haben. Große Tafeln zeugen von den ganz eigenen Heilungsritualen. »In Kursen unterrichte ich unsere Kinder in der speziellen Rhythmik unserer Musik und unserer Tänze, erzähle von unserer Geschichte oder gebe mein Wissen über Kräuter weiter, das ich von unseren Vorvätern bekommen habe«, berichtet Marcia. Auch sie sucht weiter nach Wurzeln, ist ambitionierte Ahnenforscherin. Doch diese Roots, die findet sie in den Ursprungsländern nicht mehr. Von verwandtschaftlichen Beziehungen wurden die verschleppten Westafrikaner rigoros abgeschnitten.

Kingston-Town, das Zentrum der Musik

Irgendwie geht es immer wieder überall auf dieser Insel um Wurzeln und Identität. »Und die sind bei uns auch verknüpft mit der Musik. Wir haben mit Sicherheit die höchste Rate an Musikstudios pro Einwohner auf der ganzen Welt»« erzählt uns unser Guide Carey, während wir unterwegs sind in den Südosten der Insel, zum Zentrum der Musik, nach Kingston-Town. Es kribbelt ein wenig, schließlich hat man von dieser größten englischsprachigen Stadt südlich von Miami schon viel gehört, auch schlechtes. Doch als wir uns durch den Verkehr langsam ans Zentrum dieser 940.000-Einwohner-Metropole heranarbeiten, finde ich wenig davon bestätigt. Entlang der Boulevards brodelt das bunte Großstadtleben auf den Bürgersteigen. Bepackt mit Einkaufstaschen, schieben sich Hausfrauen durch das Gedränge, jüngere Geschlechtsgenossinnen stöckeln an uns vorbei, ziehen die Blicke unter den Basketball-Mützen-Schirmen der Männer auf sich, eine ganze Gruppe Schulmädchen in blauen Röcken und beigen Polohemden vertreibt sich die Wartezeit an einer Fußgängerampel mit Kichern und ihren Smarthphones.

»Kingston ist längst nicht so schlimm wie sein Ruf. Auch nach Downtown kann man als Weißer gehen«, kommentiert Carey das Geschehen, während wir nur schrittchenweise vorankommen und mir aus den Verkaufsbuden immer wieder Reggae-Gedudel oder dessen Abwandlungen aus Ghettoblastern entgegenschlägt.

Eigentlich klar, schließlich befinden wir uns in der Welthauptstadt des Reggaes.

Und die hat, wenn man so will, ihren »Regierungssitz« an der Hope Road. In dieses bessere Viertel hatte es Robert Nesta Marley verschlagen, nachdem er als Bob Marley Ende der 1960er-Jahre endlich erste Erfolge feiern durfte. Durch eine enge Einfahrt, gesäumt von Steinmauern mit Graffiti des King of Reggae, fahren wir auf das Grundstück. Nach Marleys Krebstod 1981 wandelte Witwe Rita das hübsche zweistöckige Häuschen in ein Museum um. »Unter diesem Mangobaum hat er gesessen, Gitarre gespielt und Marihuana geraucht«, begrüßt uns die noch ziemlich junge Museumsführerin Susan. Sie wirkt selbst, als hätte sie am Morgen einen ganzen Zehnerpack Joints verdrückt, fängt ständig an zu lachen und zu kieksen oder fordert die Gäste zum »Feelin’ good» auf. Aus dem Internet weiß ich, dass dies hier zur Folklore gehört, und folge der jungen Dame ins Haus.

Marley Museum

Markus Grenz

Bob Marley, die größte Ikone des Landes

Während uns von der Wand goldene Schallplatten entgegenblitzen, führt Susan uns durch die Räumlichkeiten. Bedenkt man, wie viel Bewegung von hier ausging, ist die Einrichtung eher schlicht. An den Wänden hängen Devotionalien hinter Glas, Marleys berühmtes Jeanshemd oder sein Lieblings-Fußballshirt, Auszeichnungen und Orden, ein paar Instrumente stehen herum. Tourposter und zahlreiche Zeitungsausschnitte zeugen von der bewegten Karriere. Auf wenigen Quadratmetern ist das opulente Mischpult ins kleine Aufnahmestudio gequetscht. »Sympathisch, nur wenig Hall-of-Fame-Angeberei«, denke ich mir. Dabei hat auch von hier aus der »Wurzel-Reggae«, der Roots-Reggae, seinen Erfolgszug in die Welt angetreten. Selbst wenn der Sound in den heutigen Clubs auf der Insel eher zweitrangige Bedeutung hat, ist er aus dem Nationalgefühl nicht wegzudenken. Er ist quasi der musikalische Ausdruck des Kampfes um Freiheit und Unabhängigkeit und der Suche nach den »Roots«, und Marley hat ihn mit erfunden und ihm eine Stimme gegeben. Der Sohn einer Jamaikanerin und eines Engländers ist wahrscheinlich die größte Ikone des Landes.

«Hier ist der Ruheraum», Susan dämpft ausnahmsweise ihre Stimme, als wir im hinteren Teil des Gebäudes stehen. Ein geschichtsträchtiges Plätzchen: Es ist 1976, Jamaika befindet sich in schweren Unruhen, und der bekannteste Musiker soll das Friedenskonzert »Smile Jamaica« geben. Zwei Tage vorher schießen Unbekannte auf Bob und Rita Marley sowie Manager Don Taylor, als sie sich im Ruheraum befinden. Taylor und Marleys Frau werden schwer verletzt, genesen aber wieder. Bob selbst erleidet nur leichte Verletzungen, absolviert das Konzert und flüchtet dann nach England. Nach zwei Jahren wird er von der Regierung zurückgebeten. Im Land herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, und Marley soll ein Versöhnungskonzert geben. Er willigt ein, und was danach passiert, ist legendär: Während des »One Love Peace«-Konzerts in Kingston zitiert er die Rivalen, Premierminister Michael Manley und Oppositionsführer Edward Seaga, gegen deren Willen auf die Bühne. Das Bild, beide Politiker mit moralinsaurem Gesicht beim zunächst widerstrebenden Handschlag auf der Bühne, während Marley unter den hochgereckten Armen der beiden umhertanzt, sollte um die Welt gehen. Und der Beginn ruhigerer Zeiten werden. Nachdem wir Ruheraum und Haus verlassen haben, wartet im Schatten unter der Marley-Statue unser Führer Carey. »Hast du jetzt ein bisschen von unserem Nationalstolz verstanden?«, fragt er mich. »Jah Mon«, antworte ich ihm.

Infos. Offizielle Touristeninformationen gibt es in Deutschland beim Jamaika Tourist Board, Schwarzbachstraße 32, 40822 Mettmann, Tel.: 02104 83 29 74 oder im Internet unter: www.visitjamaica.com

Anreise. Nur die Fluggesellschaft Condor fliegt derzeit direkt nach Jamaika: im Sommer zweimal wöchentlich (mittwochs und samstags) ab Frankfurt a. M. nonstop nach Montego Bay; im Winter zusätzlich auch noch wöchentlich ab München (donnerstags). Der Hinflug München- Montego Bay erfolgt mit Zwischenstopp in Holguin (Kuba). Da man die Maschine nicht verlassen muss, ist es ein Direktflug, aber kein Nonstopflug. Der Rückflug erfolgt aber nonstop.

Weitere Informationen und Tipps in unserem Reiseguide hier.