Seit jeher steht Menorca im Schatten der großen Schwesterinsel Mallorca. Und das ist gut so. Denn dadurch konnte sich das Inseljuwel bis heute seinen Charme und seine Ursprünglichkeit erhalten. Text: Susanne Wess

Menorca Schritt für Schritt

»Faulpelze haben auf Menorca nichts verloren. Unsere Insel muss man sich erlaufen«,

erklärt Gutsbesitzer Jaume de Febrer durchaus ein wenig stolz. Dass der gebürtige Menorquiner selbst viel zu Fuß unterwegs ist, sieht man sofort – so schlank und braungebräunt, wie er uns im Innenhof seines historischen Landhotels Alcaufar Vell empfängt. »In acht Stunden kommt man von einem Ende zum anderen und in einer Woche rund um die Insel«, so Jaume, dessen Boutiquehotel im Südosten der Insel nur rund 20 Autominuten von der Hauptstadt Maó entfernt und doch mitten in abgeschiedener Stille liegt.

Susanne Wess

Die rund einwöchige Tour per pedes unternehmen all diejenigen, die Menorcas schönste und vor allem geheime Ecken erkunden wollen. 185 Kilometer ist der alte Reitweg lang, der »Camì de Cavalls«, den die Menorquiner wieder instand gesetzt und mit präzisen Markierungen versehen haben. Zwar sind die Pfade manchmal schweißtreibend und holprig, aber sie sind allesamt für geübte Wanderer kein Problem, und an vielen Stellen bieten sich Abzweigungen zu karibikartigen Badebuchten an.

Über 80 Buchten gibt’s davon auf der Baleareninsel, von schroffen Felsbuchten über solche mit schwarzem Sand bis hin zu Stränden, wo man am liebsten sofort die Füße im weißen Sand vergraben möchte. Und das Meer, das wie Muranoglas in allen Blau- und Türkistönen schillert, lässt unweigerlich Bacardi-Feeling aufkommen. Aber wen interessiert schon die Karibik, wo Menorca doch so nah ist …?

Naturparadies für Vögel und Wandervögel

Jaume selbst stapft oft gerne im Naturpark S‘Albufera des Grau im Nordosten der Insel umher und empfiehlt uns die Etappe zum Cap de Favàritx, an dessen Ende ein imposanter Leuchtturm in den Himmel ragt. Diese als »mittelschwer« bezeichnete Strecke führt auf acht-einhalb Kilometern durch Waldstücke und an der Küste entlang.

Immer wieder blitzen von Schirmpinien umrahmte Buchten auf. Das Meer strahlt so türkisblau, als hätte da jemand den Farbregler von Photoshop überdreht. Unser Staunen lässt die Anstrengung vergessen, der schwere Atem wird vom Pfeifen und Singen diverser Vögel überlagert. Das ist keine Seltenheit, denn in dem rund 1,95 Hektar großen Naturpark, der aus Weiden und Wäldern, Feuchtzonen, einer Lagune sowie Steilküsten und Stränden besteht, leben über 100 Vogelarten. »Vor allem Fisch- oder Zwergadler, aber auch Enten und Blesshühner sieht man hier zuhauf«, berichtet Jaume, während er unter einem großen Sonnenschirm auf der Gartenterrasse sitzt, lässig den inseltypischen Aperitif Pomada in der Hand, einen Gin mit Bitter Lemon und einem Schuss Zitrone.

Typischer Gin aus Menorca

Susanne Wess

Erst buntes Treiben

Der Gin hielt mit der Eroberung Maós durch die Engländer 1708 auf der Insel Einzug. Die Marke Xoriguer wird noch immer von einem Familienbetrieb in der Hauptstadt hergestellt. Bis heute erfreut er sich in allen Geschmacksvariationen, etwa kombiniert mit Kräutern oder Lakritz, größter Beliebtheit. Wir selbst testen die bittersüße Pomada in einer der Bars mit bunten Plastikstühlen am Puerto de Maó, dem größten Naturhafen des Mittelmeers, und schauen den glamourösen Kreuzfahrtschiffen zu, die sich in das Hafenbecken geschickt wie in ein schmales Nadelöhr einfädeln. Der Kapitän des Glitzerriesen hat hoffentlich vor diesem Manöver nicht dem Wacholderschnaps zugesprochen…

Auch in Maó erweisen sich Schusters Rappen als das beste Fortbewegungsmittel durch die holperigen Straßen und alten Gassen. »Aber kauft euch vorher ein Paar Avarques – das ist menorquinische Tradition an den Füßen«, rät Jaume, bevor wir zu unserem Stadtspaziergang aufbrechen.

Avarques, das waren früher die »Arme-Leute-Schuhe

Hergestellt aus einer Gummisohle aus alten Autoreifen und zwei Lederriemen – fertig. Heute sind die Materialen natürlich edler und vielfältiger, es gibt sie auch in glitzernden High-Heel-Varianten. Wir versuchen uns erst einmal an einem schlichten Ledermodell und fühlen uns sofort pudelwohl, als wir darin durch die von englischer Architektur geprägte Altstadt schlendern. Vom Hafen gehen wir hinauf zum Kreuzgang eines alten Klosters, in dem sich inzwischen ein Fisch- und Gemüsemarkt nebst überbordendem Angebot an Imbissbuden angesiedelt hat. Kleine Spitztütchen mit frittierten Fleisch- und Gemüsebällchen, gegrillte Mini-Sardinen oder Muscheltöpfchen kurbeln den Speichelfluss an. Keine Chance, der Verlockung zu widerstehen. Gut, dass man auf Menorca so viel zu Fuß läuft. Nach der Stärkung marschieren wir weiter zum Hauptplatz, der Plaça de Esplanada, und lassen uns dort vom Geplapper in den Cafés und spanientypischer Lebendigkeit einfangen. Eviva la vida!

Jetzt Gelassenheit

Damit präsentiert sich Maó ganz anders als ihre Schwesterstadt Ciutadella am entgegengesetzten Ende der Insel. Die schnurgerade, 45 Kilometer lange Hauptstraße führt vom äußersten Südosten an den westlichsten Zipfel Menorcas. Die Strecke, auf der uns kaum Autos begegnen, ist von Weideflächen und Wäldern mit Steineichen und Aleppokiefern gesäumt – Grün, soweit das Auge reicht. Kein Wunder, denn rund 45 Prozent Menorcas stehen unter Naturschutz, kein Haus darf höher als bis zur Baumhöhe gebaut werden. In einem Referen- dum haben das die Menorquiner beschlossen, und es ist ihnen gelungen, die natürliche Schönheit ihrer Insel zu bewahren.

Auch Ciutadella offenbart sich mit seinen pastellfarbenen alten Wohnhäusern, der mächtigen Kathedrale Santa Maria und dem zinnengekrönten Rathaus an der Placa del Born als ein wahres Schmuckstück – allerdings der ganz leisen Art. Gemächlich gehen die Menschen hier durch die verkehrsberuhigten Straßen, sie haben keine Eile, nach Hause zu kommen, denn die Stadt ist ihr Zuhause. Auch das des alten Jorge, der in einem inseltypischen Regiestuhl vor dem Haus sitzt und sein Gesicht in die Sonne hält. »Ich bin nie auch nur einen Tag aus Menorca weggegangen«, erzählt der 86-Jährige mit wach blitzenden, fröhlichen Augen. »Wozu auch? Ich lebe hier auf dem schönsten Fleck unserer Erde. Die Sonne scheint fast das ganze Jahr, unser Meer und unsere Strände sind ein Traum, die Natur ist einzigartig schön, und die Menschen sind entspannt. Was will ich mehr?« Eine Frage, die nicht nach einer Antwort verlangt …

Susanne Wess

Prall gefüllte Schatzkiste

Auf unserer weiteren Reise müssen wir noch oft an Jorge denken. Zum Beispiel, als wir zu den bezaubernden Buchten im Süden, Cala Galdana, Macarelleta und Cala Mitjana, wandern, dabei den Duft der Macchia mediterranea erschnuppern und unsere Handtücher im feinen Sand ausbreiten. Oder als uns ein Verkäufer auf dem Fischmarkt in Ciutadella bereitwillig seinen Tagesfang erklärt und einen Sonderpreis anbietet, weil wir so interessiert sind. Wir denken auch an Jorge, als wir in der S‘Albufera des Grau in dem kleinen
Restaurant auf der Holzterrasse sitzen und der Sonne beim Untergehen zusehen. Und wir denken an den stolzen Jaume, wenn wir unsere Füße wieder in die Avarques stecken, um zum nächsten Ziel aufzubrechen. Ja, Menorca ist ein Schatzkästchen für Naturfreunde, dessen Geheimnis zu lüften sich lohnt. Menorca muss man entdecken  – am besten zu Fuß, Schritt für Schritt – und mit ganz viel Zeit und Gelassenheit im Gepäck.

Detaillierte Infos bekommen Sie in unserem Menorca -Reise-Guide.