Pilsner Bier war schon immer eines der besten der Welt. Und hat zum Glück – wie man vor allem in Norddeutschland meint – nichts mit dem bayerischen Bier zu tun. Meinen Sie auch? Dann sollten Sie mal ins tschechische Pilsen fahren, der Geburtsstadt des gleichnamigen Bieres. Dort werden Sie schnell eines Besseren belehrt. Text: Philipp Eins

Ein Glas schales, lauwarmes Bier kann einem den ganzen Tag vermiesen. Die Einwohner der böhmischen Stadt Pilsen haben damit so ihre Erfahrungen. Die dunkle, trübe, warm vergorene Brühe, die ihnen über viele Jahre tagtäglich vorgesetzt wurde, muss einfach abscheulich geschmeckt haben. Der Frust der Bürger jedenfalls war so groß, dass ihnen eines Tages die mentalen Sicherungen durchbrannten: Sie stürmten zum Marktplatz und vergossen aus Protest mehrere Fässer des üblen Gebräus vor dem Rathaus – vor den Augen des Bürgermeisters. Dem war klar: Wenn ihm Amt und Leben lieb sind, musste etwas geschehen. Und zwar schnell.

Mehr als 150 Jahre ist das nun her. Die Auswirkungen auf die Geschichte des Bieres aber sind gewaltig. Ob Beck‘s, Jever, Flensburger oder Berliner Kindl: Das Bier nach Pilsner Brauart, wie man es heute auf der ganzen Welt kennt und liebt, wurde erst nach dem Aufstand der Wutbürger erfunden – und ist damit kaum älter als das Telefon.

Vorurteile über Bord geworfen

Wen das überrascht, der sei an dieser Stelle gewarnt: Die Suche nach dem Ursprung des böhmischen Bieres in der heute tschechischen Stadt Pilsen führt dazu, dass man so manches lieb gewonnene Vorurteil über Bord werfen muss – was für jeden gebürtigen und gefühlten Norddeutschen eine schmerzliche Erfahrung sein kann.

Der historische Spaziergang beginnt an der Brauerei Pilsner Urquell, nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Ein Torbogen aus kaminrotem Backstein empfängt die Besucher, dahinter ein architektonischer Querschnitt mehrerer Jahrhunderte: Ein altertümlicher Wasserturm mit Spitzdach steht neben einem gläsernen Sudhaus und einer modernen Abfüllanlage, in der stündlich bis zu 120000 Flaschen pasteurisiert übers Band gehen. Dazwischen – gut versteckt – liegt die eigentliche Attraktion: das alte Brauhaus, ein unscheinbares, gelb verputztes Gebäude mit spitzem Schieferdach und einem langen Schornstein aus kaminrotem Klinker. Hier wurde im Jahr 1842 zum ersten Mal ein echtes Pilsner gebraut.

Das Geheimnis des Pilsner Bieres ist dasselbe wie vor mehr als 150 Jahren

Martina Gillichora öffnet die Tür. Eine zierliche, blonde Frau, die nicht im Geringsten dem Bild einer breitschultrigen, biertrinkenden Bauernmagd ähnelt, die noch vor hundert Jahren Kübel voller Gerste zu den Braukesseln geschleppt haben muss. Eigentlich studiert sie Journalismus, erzählt Martina. Um sich etwas dazuzuverdienen, führt sie Touristen durch die alten Gemäuer. Die Dielen im Innern des Sudhauses knarren bei jedem Schritt, es riecht nach morschem Holz. In der ehemaligen Lagerhalle im Erdgeschoss ist heute eine Rohstoff­ausstellung untergebracht, in der man Malz und Hopfen kosten kann. Ein Stockwerk höher stehen zwölf zwiebelförmige Kupferkessel, in denen einst die gemälzte und geschrotete Gerste im Wasser aus dem 100 Meter tiefen Hausbrunnen aufgekocht wurde. Seit eine computergesteuerte Anlage im 2004 neu gebauten Sudhaus installiert wurde, ist das Maischen kein Handwerk mehr, sondern eine Aufgabe für Ingenieure, die an der Prager Hochschule ausgebildet werden. Die Kupferkessel im alten Brauhaus sind nur noch als Ausstellungsstücke zu gebrauchen.

Doch ob mit Computer oder ohne: Das Geheimnis der Pilsner Brauart ist dasselbe wie vor mehr als 150 Jahren, verrät Martina Gillichora. Entdeckt hat es nicht etwa ein Pilsner Bürger, sondern – und das ist die zweite große Überraschung! – ein Bayer: der Braumeister Joseph Groll aus dem beschaulichen Vilshofen an der Donau. Aber der Reihe nach.

Nach dem Protest der Pilsner Einwohner beschloss der Pilsner Bürgermeister um 1840 herum, die gut 300 über die Stadt verteilten Kellerbrauereien zu einem einzigen Brauhaus zusammenzuführen. Er schickte einen erfahrenen Bauern auf Wanderschaft, der in Bayern nach dem Geheimnis des guten Bieres suchen sollte. Bei seinen Erkundungen traf der auf den erfahrenen Braumeister Joseph Groll – und überzeugte den damals 29-Jährigen, mit ihm nach Böhmen zu reisen und dort sein Wissen zu teilen.

Anibal Trejo

Das Pilsner Brunnenwasser war nahezu salzfrei und extrem weich

Als Groll Pilsen erreichte, begann er sofort mit der Arbeit. Ganz nach bayerischer Tradition kochte er das Gemisch aus Malz und Wasser, die sogenannte Maische, dreimal in einer Braupfanne auf und gab dem Sud Hopfen hinzu. Die Zutaten allerdings waren anders als die in Bayern: Das Pilsner Brunnenwasser war von Natur aus fast salzfrei und extrem weich. Das leicht geröstete, außergewöhnlich helle Malz, das heute als Pilsner Malz bekannt ist, verlieh dem Bier eine leichte Note von Getreide. Und gehopft wurde besonders kräftig, was den herben Geschmack des Pilsners ausmacht.

Im Unterschied zum bis dahin in Böhmen bekannten Bier gab Groll dem Sud untergärige Hefe hinzu, die gelösten Malzzucker in Kohlensäure und Alkohol umwandelte. Das Besondere an diesem auch in Bayern recht neuen Verfahren: Untergäriges Bier ist länger haltbar, muss allerdings bei Temperaturen zwischen vier und neun Grad Celsius ausreifen – was zur damaligen Zeit vor allem im Sommer schwierig war. In Pilsen aber traf Josef Groll auf einen glücklichen Umstand: Der Pilsner Untergrund glich zu jener Zeit einem riesigen, vormodernen Kühlschrank. Fast die gesamte Altstadt war in den Jahrhunderten zuvor unterkellert worden, teils über mehrere Stockwerke, um dort Lebensmittel länger lagern zu können.

Ein erster Einblick in die Pilsner Kühlkeller ist gleich in der Brauerei möglich. Martina Gillichora führt durch die unterirdischen Gewölbe, die verschachtelt sind wie in einem Labyrinth. Schummriges Licht erleuchtet die Gänge, Wassertropfen sammeln sich an Mauern und Decken, die Luft ist kühl und feucht. Am Ende unseres Weges gelangen wir in einen Schacht voll dunkler Eichenfässer. Hier lagert ungefiltertes Pilsner fünf Wochen lang nach traditioneller Art, allerdings nur in kleineren Mengen, die Besuchern zum Probierenangeboten werden.

Im Museum: frühere Mälzertrachten, antike Korkmaschinen, seltene Bierkrüge

Das echte Pilsner Bier – es ist also nichts als eine Variante des bayerischen Originals. Eine Einsicht, die frustriert. Wer trotzdem nicht allen Mut verloren hat, kann auf der nächsten Station noch tiefer in die Geschichte einsteigen: dem städtischen Brauereimuseum.

Der Weg dorthin führt entlang des Stadtflusses Radbuza, dann über eine schmale Brücke und schließlich quer durch die Altstadt, vorbei am Marktplatz mit seinem gotischen Dom und dem Rathaus mit der vom Ruß der umliegenden Skoda-Fabriken geschwärzten Renaissancefassade. Die jüngste Geschichte hat deutliche Spuren hinterlassen: Mit barocken Malereien versehene Bürgerhäuser aus der Habsburgerzeit stehen neben sozialistisch-kolossalen Betonbauten wie dem Hotel Central, das unter den Einwohnern als Schandfleck der Stadt gilt.

PR/Pilsener Urquell

Das Brauereimuseum ist gar nicht so leicht zu finden: Von außen unterscheidet sich der dreistöckige, pastellfarben verputzte Altbau in einer schmalen Gasse südlich des Marktplatzes kaum von dem umliegenden Wohnhäusern. Kein Wunder: Das Museum befindet sich in einem ehemals brauberechtigten Handwerkshaus. Es diente dem Braumeister und seiner Familie als Werkstatt und Wohnung. Wo früher Gerste geschrotet, eingeweicht und getrocknet wurde, stehen heute Exponate: frühere Mälzertrachten, antike Korkmaschinen, seltene Bierkrüge. Über eine Treppe im Keller ist zudem ein Teil des Pilsner Untergrunds zu erreichen: Auf einem Rundgang von 800 Metern Länge ist ein kleines Stück der insgesamt neun Kilometer langen Gänge zu besichtigen, die zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert ausgegraben wurden.

Irgendwann will man dann auch mal ein Pilsner Bier trinken

Wer sich den ganzen Tag lang mit der Geschichte der Pilsner-Bier-Braukunst beschäftigt, wird irgendwann – klar: ganz schön durstig. Ein frisch Gezapftes im rustikalen Restaurant Mansfeld leistet schnelle Hilfe. Hier gibt es das Pilsner Bier nicht nur flüssig, sondern auch in Form von Speisen, zum Beispiel als Biergulasch mit Knödeln. So gut das schmeckt, so schnell versöhnt man sich auch mit den Bayern – und ist Braumeister Josef Groll letztlich dankbar für sein kunstfertiges Handwerk.

Dessen Vertrag am Bürgerlichen Brauhaus in Pilsen lief übrigens 1845 aus, nur wenige Jahre nach seinem großen Erfolg. Nach seiner Rückkehr übernahm Groll die Brauerei seines Vaters in Vilshofen, wo er im Alter von 74 Jahren verstarb. Bis zu seinem Tod blieb er dem Bier treu. Darauf: Prost!

Anreise. Von vielen deutschen Städten kommt man bequem mit dem Zug nach Pilsen. Von München aus gibt es für knapp € 50 eine Direktverbindung, die Reise dauert etwa vier Stunden. Von Berlin aus ist man mit Umstieg in Prag etwa sieben Stunden unterwegs. www.bahn.de

Unterkunft. Komfortabel und zugleich zentral übernachtet man im Hotel Angelo, U Prazdroje 6, 301 00 Pilsen. Das Hotel verfügt über 132 Zimmer, von den oberen Stockwerken hat man einen hervorragenden Blick über die Stadt. Übernachtungen kosten ab € 59. Fitnesscenter vorhanden. Weitere Informationen unter Tel.: +420 378 016 111 oder per E-Mail: info@angelo-pilsen.cz

Sightseeing. Die Brauerei Pilsner Urquell befindet sich wenige Minuten vom Hauptbahnhof entfernt in der Straße U Prazdroje 7, 304 97 Pilsen. Führungen werden u. a. auf Deutsch und Englisch angeboten. Geöffnet ist von April bis September täglich von 8 bis 18 Uhr und von Oktober bis März täglich von 8 bis 17 Uhr. Weitere Informationen unter Tel.: +420 377 062 888 oder per E-Mail: exkurze@prazdrojvisit.cz