Die Umgebung von Anchorage eignet sich perfekt zur Erkundung von Wildnis und Natur. Die Grenze zur Zivilisation muss dabei nicht verlassen werden. Text: Ralf Johnen

Der Tunnel nach Whittier ist gesperrt. Ein Schlagbaum, ein Schild und gleich zwei Ampeln lassen daran wenig Zweifel. Amerikaner sind vorsichtige Menschen – auch hier oben im Norden. Bald darauf nähert sich mit unzweideutigen Geräuschen der Grund für die Blockade. Es ist der Zug aus Anchorage, der die enge Röhre für sich beansprucht.

Reporter Ralf Johnen ist sichtlich glücklich bei seinem Gletscherspaziergang

Ralf Johnen

Seit 1943 nutzt die Alaska Railroad die Schienen, um am anderen Ende des fast fünf Kilometer langen Tunnels einen geschützten Hafen anzusteuern. Lange war dieser von großer strategischer und logistischer Bedeutung für den entlegenen Bundesstaat. Davon zeugt eine verwaiste Plattenbausiedlung, die zwischen dem stahlblauen Pazifik und einem mächtigen Bergmassiv der Verwitterung ausgesetzt ist. Heute legen in Whittier Kreuzfahrtschiffe an, deren Passagiere zu Landausflügen starten. Auf dem Wasser aber schaukelt auch eine Armada von Segelschiffen sanft vor sich hin, deren Besatzungen sich an diesem milden Junitag in bunten Holzhütten mit Proviant für Expeditionen in den Prinz William Sund rüsten.

Die Leere ist seltsam

Wir machen es uns etwas einfacher und begeben uns an Bord des Klondike Express, einem schnittig aussehenden Katamaran. Schon kurz nachdem wir losgemacht haben, stehen frische Heilbutt-Nuggets und ein hopfenbetontes India Pale Ale auf dem Tisch. Während wir den Fjord verlassen, bereue ich es kurz, mich zugunsten der Nahrungsaufnahme nicht an Deck aufzuhalten. Doch ich vertraue dem Sinn für dramatische Choreografien, die bekanntlich ein verlässlicher Bestandteil der amerikanischen DNA ist.

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Tatsächlich erinnern die ersten Seemeilen an einen deutlich weiter im Süden gelegenen Aufenthaltsort: An Land gedeihen üppige Koniferen, und die Sonne verbreitet eine angenehme Wärme. Nur die Leere ist seltsam: Die mit Meeresblick gesegneten Hänge sind nicht zugebaut – so, als zählten wir das Jahr 1778, als Captain James Cook als erster Europäer die Gewässer Alaskas erkundete. Bald durchqueren wir Esther Passage, eine nur wenige Hundert Meter breite Meeresstraße, in der sich eine Handvoll bunter Trawler an den scheinbar reichen Fischbeständen labt. Als wir Kurs auf Richtung Nordost nehmen, ist es vorbei mit der Bedächtigkeit. Von nun an geht es Schlag auf Schlag: Am Horizont zeigt sich eine Reihe kapitaler Gletscher, deren Eisfelder bis ans Meer heranreichen. Unmissverständliche Vorboten sind die kleinen Eisberge, die nach einer mutmaßlich Tausende von Jahren dauernden Reise vom Packeis abgebrochen sind. Der Kapitän der Klondike Express umschifft sie ohne erkennbare Mühe. Die ersten schwimmenden Eiseilande sind unbewohnt. Bald aber geraten weiße Inseln ins Visier, auf denen es sich Seehunde gemütlich gemacht haben. Doch sie sind nicht die einzigen Wasserbewohner, die sich zu erkennen geben: Unweit des Schiffes blickt uns eine Kolonie Otter neugierig entgegen. Die meisten lassen sich entspannt auf dem Rücken treiben. Andere frönen dem gattungseigenen Hang zur Hyperaktivität.

Die Südküste Alaskas ist atemberaubend

Dartmouth, Yale und Harvard heißen die Gletscher hier, und tatsächlich scheint es so, als sei die Südküste Alaskas nichts anderes als eine große Universität des Lebens. Als finale Lektion eines jeden Semesters bietet sich Surprise Glacier an, der zwischen Dutzenden Weiß- und Grautönen changiert und in Form einer kapitalen Mauer ins Meer abbricht. Zu deren Linken ergießt sich beiläufig eine Handvoll mächtiger Wasserfälle in den Harriman Fjord, deren frei werdende Energie die abermals von Seehunden belagerten Mini-Eisberge ohne erkennbares Ziel antreibt.

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Während die Passagiere dieses Schauspiel noch eine Weile gebannt beobachten, positioniert sich auf dem unteren Deck ein Teil der Crew mit Keschern. Ihr Interesse gilt nicht den Ottern, sondern den wehrlosesten der Schwachen: kleinen Eisbergsplittern, die ihnen ohne Widerstand ins Netz gehen – um noch während der Rückfahrt in Form krude geformter Würfel in einer Gletschereis-Margarita zu enden. Ein wirksames Rezept gegen den Schmerz darüber, dass wir uns unwiderruflich auf der Rückfahrt befinden. Als der Hafen von Whittier und dahinter die verlassenen Hochbauten schon in Sicht sind, passiert die Klondike Express eine Felswand, die dicht mit Seemöwen besetzt ist. Plötzlich nähert sich ein Weißkopfseeadler, um unbarmherzig einen Vogel zu reißen. Ganz so, als sei es seine Aufgabe, uns daran zu erinnern, dass wir uns in der Wildnis befinden. Mittendrin.

Anchorage wirkt wie alles Mögliche, nur nicht nach Alaska

Nach so einem Trip dauert es mehr als nur ein paar Stunden, um wieder runterzukommen. Anchorage bietet dafür den passenden Rahmen. Alaskas größte Stadt wirkt im Juni erstaunlich unaufgeregt: Sie ist groß – wenn es hier am 61. Breitengrad an etwas keinen Mangel gibt, dann ist es Platz. Sie verfügt über ein recht ausgeprägtes Nachtleben, breite Straßen, auf denen die Achtzylindermotoren der Pickups vor sich hintuckern, Einkaufszentren und natürlich über einen Bahnhof, wo die Alaska Railroad keineswegs nur in der kurzen Touristensaison einrollt – die Strecke nach Fairbanks ist das gesamte Jahr über in Betrieb. Kurzum: Anchorage wirkt auf den ersten Blick wie alles Mögliche, was man mit dem amerikanischen Kontinent assoziiert. Nur eben nicht wie Alaska.

Das Rätsel, warum die Pioniere ihre Häfen erst in Seward und später in Whittier angelegt haben, beantwortet eine Joggingrunde zum Coastal Trail im Elderberry Park. Cook Inlet, der nach dem bereits erwähnten Abenteurer benannte Meereszugang Anchorages, wird von einem enormen Tidenhub geprägt, der nur eine Alibischifffahrt gestattet. Die maritimen Einflüsse aber bewirken das durchaus verträgliche Klima der Stadt, die sich auf demselben Breitengrad wie Helsinki befindet.

Die größte Sehenswürdigkeit in Alaska: the big rock

Am späten Nachmittag nimmt die Sommererfahrung surreale Züge an, denn wir ergattern wahrhaftig einen Platz in der Rooftop Bar des Williwaw, wo die »nouveaux riches« des Nordens den kurzen Sommer feiern – mit einem Pint IPA und einem exklusiven Fernblick bis hin zu »the big rock«, wie die Alaskans ihre größte Sehenswürdigkeit nennen. Später dinieren wir bei Simon & Seafort’s, einem Seafood-Restaurant mit abgeklärter Großstadtatmosphäre. Die Margarita (diesmal ohne Gletschereis) und die King Crabs schmecken ebenso formidabel wie der Heilbutt in Käsekruste. Auch zum Nachtisch um 22 Uhr macht die Sonne noch keine Anstalten, unterzugehen.

Der Abend endet in Bernie’s Bungalow, dem größten und wildesten Nachtclub des Nordens. Hier kommt alles hin, was sich in Alaska amüsieren möchte. Notfalls erfolgt die Anreise per Wasserflugzeug. Am Eingang liegt eine Liste mit Namen unerwünschter Gäste aus, die nicht viel dünner als das örtliche Telefonbuch ist. Auf den Dancefloors aber geht es an diesem Abend eher unspektakulär zu. Viel Disko, wenig Outlaw. Der gelegentliche Blick vom Balkon verrät, dass die Nacht auch weiterhin nicht vorhat, dunkel zu werden.

Mit dem Wasserflugzeug geht es Richtung Denali

Der nächste Tag beginnt mit einiger Nervosität. Wir stehen am größten Wasserflugzeugflughafen der Welt und erfahren, dass die Chancen auf eine planmäßige Durchführung unseres Fluges nicht schlecht stehen. Ziel ist bereits erwähnter Big Rock, jener Berg also, den die Welt Mt. McKinley genannt hat, bis Präsident Obama ihn am 29. August 2015 in »Denali« umgetauft hat. Eine Respektbekundung an die vielen Stämme der First Nations, die in Alaska beheimatet sind und in deren Sprache der höchste Berg Nordamerikas immer so geheißen hat.

Reporter Ralf Johnen und das Wasserflugzeug

Ralf Johnen

Flüge zum 6.190 Meter hohen Denali sind wegen der solitären Lage des Berges, der enormen Temperaturunterschiede und den daraus resultierenden Winden auch für erfahrene Piloten heikel. Erleichtert nehmen wir zur Kenntnis, dass Scott Rockys Daumen hochgeht. Der Mann im kernigen Karohemd fliegt seit 17 Jahren in Alaska, er wird es also wissen. Nach dem Start geht es zunächst über die Suburbs von Anchorage, deren Fläche nach so viel mehr als 300.000 Einwohnern aussieht. Weiter draußen sehen wir die Reste eines gescheiterten Versuchs, Alaska mit einer eigenen Milchfarm ein Stück unabhängiger zu machen. Dann enden die Spuren der Zivilisation.

Unzählige Flüsse mäandern umständlich durch das Land. Die einen werden von Quellwasser gespeist und sind tiefblau. Die anderen, die aussehen, als würde Milch in ihnen fließen, beziehen ihr Wasser aus den umliegenden Gletschern. Plötzlich ist es vorbei mit kontemplativen Beobachtungen dieser Art: Der Denali wird größer und größer. Auf Augenhöhe ziehen wir vorbei an schroffen Felsen, die bei allem sportlichen Wahn unserer Zeit noch nie ein Mensch erklommen hat. Ein Blick zum Gipfel zeigt, dass der Wind den Schnee aus tieferen Lagen hinaufpeitscht, um ihn irgendwo auf der anderen Seite des Berges wieder niedergehen zu lassen.

Auf zum Chelatna Lake

Wir sehen den Zusammenfluss zweier Gletscher, die in der Ferne in Geröllwüsten übergehen – der sichere Indikator dafür, dass der Klimawandel auch vor Alaska nicht Halt macht. Wieder auf weißem, scheinbar flachem Untergrund folgt etwas, das an ein Camp erinnert. Wenig später erblicke ich einen Trupp von Bergsteigern, die sich in Reih und Glied ihren Weg durch den Schnee nach oben bahnen. Der Denali, sagt Scott, gilt als nicht sonderlich schwer – anders als die Bedingungen.

Gletscher aus dem Wasserflugzeug fotografiert

Ralf Johnen

Nach weiteren Runden über das ewige Eis geht Scott rasant in den Sinkflug. Wir steuern Chelatna Lake an, auf dem wir wenig später landen. Es ist das Highlight dieser atemberaubenden Tour: Bei 15 Grad und Windstille klettern wir aus dem Wasserflugzeug und stehen an einem kristallklaren Bergsee. Um uns herum sehen wir tiefgrüne Hänge und Berge, aber keine Spuren der Zivilisation. Spätestens nun ist klar: Das ist wieder so ein Alaska-Tag, von dem sich der Geist ein wenig wird erholen müssen, um wieder Neues aufnehmen zu können.

Wie aus dem Nichts taucht ein Schwarzbär auf

Also gehen wir erst zwei Tage später an Bord der Alaska Railroad, um über Bergpässe und vorbei an Gletscherseen nach Seward zu fahren. Nachdem wir so viel Eis gesehen haben, wollen wir nun endlich drauf. Kevin Trippe, ein durchtrainierter Biologe aus dem fernen Michigan, begleitet uns auf den Exit Glacier, der ganz in der Nähe kalbt. In gut einer Stunde legen wir rund 300 Höhenmeter zurück, ehe wir Spikes und Helm anziehen, um die Gletscherzunge zu betreten.

Auf dem Eis herrscht vollkommene Stille. Dennoch lauern in Form von Gletscherspalten überall Gefahren. Ihre Tiefe ist schwer einzuschätzen. Erst als Kevin einen Stein hinabwirft, der mehrere Sekunden benötigt, bis er ein akustisches Signal von sich gibt, können wir uns eine Vorstellung davon machen, wie dick der Eispanzer noch ist.

Als wir während des Abstieges das Panorama genießen, hält Kevin plötzlich inne, als stehe er vor einer verschlossenen Schranke. Diesmal aber fehlt der Schlagbaum. Den Grund sehen wir wenig später: Ein ausgewachsener Schwarzbär blockiert in gut 20 Metern Entfernung den Pfad. Kurz darauf taucht auch ein Jungtier auf. Beide scheinen uns zu ignorieren, und auch Kevin ist keineswegs nervös. Wir halten uns ein paar Minuten still, bis auch diese Wegblockade aufgehoben ist. Auf dem Weg zurück zum Van unterhalten wir uns beschwingt. Alaska – das ist trotz aller Anzeichen der Zivilisation vor allem immer noch eines: Wildnis.

Unseren Alaska-Reiseführer gibt es hier.