China verlangt dem Besucher einiges ab. Vor allem eine Neuordnung der Dimensionen für Zeit und Raum, die hier ein ganz anderes Niveau zu haben scheinen. Eine Stippvisite durch die Provinz Henan – die Wiege der chinesischen Kultur. Text: Andreas Dauerer

Blick über den Tellerrand

Eine Hand habe ich schon dran. Ach was, eigentlich schaukle ich in ihr bereits ganz sanft, bin ich doch schon über 24 Stunden in der Provinz Henan, die für sich beansprucht, die Wiege der chinesischen Kultur zu sein. Die Hand kommt mir nur deshalb in den Sinn, weil ich mit meinen Stäbchen etwas ungelenk ein Rinderstückchen aus der Schale greifen möchte.

Kultur geht auch durch den Magen, besonders in China.

Das heißt nicht nur, Messer und Gabel aus dem Wortschatz zu streichen, sondern sich auch von den europäischen Kategorien Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch zu verabschieden. Genau dafür reisen wir ja immer wieder, um über den Tellerrand zu blicken und in andere Töpfe zu gucken. Reis? Fehlanzeige. Dafür stehen nach einer Viertelstunde bereits 30 Schälchen und Schalen mit den verschiedensten Leckereien auf dem Tisch, nahezu unberührter Skorpion inklusive.

Delikatesse in Henan

Andreas Dauerer

Zunächst serviert die zierliche Chinesin in ihrem schwarz-roten Umhang kalte, meist vegetarische Gerichte, dann die warmen Sachen, meistens alle Arten von Fleisch. Anschließend kommen der Fisch, dann die Suppe und schließlich ein paar Schälchen mit süßen Sachen. Nachtisch also. Dann hebt der Gastgeber die Tafel auf, und man geht zufrieden seinen Weg.

China ist auch das Land der Hierarchie und Höflichkeit

Dass das nicht immer nur von Vorteil ist, erfahre ich am nächsten Morgen. Da nämlich brummt der Schädel. Wurde ich doch am Abend zuvor noch mit dem Gesicht zum Eingang gesetzt, was der beste Platz der Tafel ist. Darauf waren dann drei Schnaps zu trinken, was ich natürlich nicht ablehnen konnte, denn auch ich bin höflich. Anschließend kamen noch die beiden Gastgeber, Herr Li und Herr Yuang, um die Ecke, um mit jedem Gast am Tisch mindestens einmal anzustoßen. Da waren es also fünf. Bis zum Fisch wurde dann noch wild umhergeprostet. Gānbēi, und runter damit. Da tröstet es einen irgendwann auch nicht mehr, dass der Schnaps sehr klein ist. Mit vorrückender Speisedauer macht’s einfach die Menge.

Als die Kellnerin den Fisch serviert, habe ich elf dieser kleinen Klaren bereits intus.

»Du hast Pech«, raunt mir Herr Li zu. »Der Kopf des Fisches zeigt nicht auf dich.« Wen der Fisch aus seinem trüben Auge also direkt anblickt, der darf den Fisch zwar anschneiden, muss aber vorher einen Schnaps mit den übrigen Gästen trinken. Zwölf. »Aber auch Glück«, so Herr Li weiter, »der Schwanz zeigt zu dir.« Was so viel bedeutet wie dreimal ›Gānbēi‹. Ich weiß nicht, ob es an den Schnäpsen liegt, aber in Herrn Lis Stimme schwingt eine kleine Portion Triumph mit. Letztlich ist es aber nur die überbordende Gastlichkeit, denn auf diese sind solche kleinen Rituale zurückzuführen. Der Tisch muss voll sein, für leer gegessene Schälchen kommen ziemlich schnell wieder neu gefüllte in die Mitte. Und bei den Getränken ist es ganz genauso. Wer es da versäumt, gleichzeitig genügend Wasser zu trinken, dem brummt eben in der Früh der Schädel.

Andreas Dauerer

Genügend Sitzfleisch muss man haben

Irgendwie ist es ja doch beruhigend, dass selbst in China die biologischen Gesetze nicht aus den Angeln gehoben werden können. Für mich trifft es sich ganz gut, dass Kultur an der frischen Luft auf dem Programm steht. Zumindest theoretisch. Denn wo man auch hinwill, welche Attraktion man auch sehen möchte in diesem Land, zunächst heißt es, genügend Sitzfleisch mitzubringen. Nicht nur beim Essen, auch für den Rest des Landes bedarf es einer kleinen gedanklichen Korrektur, was die Größenverhältnisse anbelangt. Natürlich weiß man, dass über ein Fünftel der Weltbevölkerung Chinesen sind, und zwar auf einer Fläche, die größer ist als die USA. Trotzdem ist die vierspurige Autobahn, die uns nach Luoyang bringen soll, relativ leer. Links und rechts huscht eine beige-graue Landschaft vorbei, und immer wieder bohren sich halbfertige Betonpfeiler für die künftige Schnellzugtrasse wie Gerippe in den Himmel.

Wenn man Herrn Li fragt, wie groß die Stadt ist, die wir gerade durchfahren, erntet man ein leichtes Schulterzucken. Mehr als fünf, weniger als zehn Millionen, vermutet er.

Irgendwie ist es letztlich auch nicht wichtig.  Südlich des Flusses, wie die Provinz Henan auch genannt wird, leben mehr Menschen als in Deutschland. Weil die Fläche jedoch nur halb so groß wie die der Bundesrepublik ist, begegnet man mitunter dem einen oder anderen Chinesen oder besser: der einen oder anderen chinesischen Touristengruppe. Denn Chinesen, so erklärt das Herr Li, haben ein sehr ausgeprägtes Gefühl für das Miteinander.

Herrschaftssitz von neun Dynastien

Was Herr Li meint, versteht man direkt nach Ankunft in Luoyang, einer der früheren Hauptstädte des chinesischen Kaiserreichs und Herrschaftssitz von gleich neun Dynastien. Die Longmen-Grotten sind landauf und landab berühmt. Auf etwa einem Kilometer direkt am Yishui-Fluss haben die verschiedenen Herrscher unzählige Buddha-Statuen und Inschriften in den Fels hauen lassen. Vor allem unter der Sui- und Tang-Dynastie erreichten die Grotten ihre heutigen Ausmaße. Heute, über 1.000 Jahre danach, kann der Besucher hier 2.300 Tempelanlagen in den Grotten und Felsnischen und über 3.600 Steininschriften betrachten.

Dazu rund 100.000 verschiedene Buddha-Statuen, wobei die größte über 17 Meter misst und die kleinste gerade mal zwei Zentimeter hoch ist.

Das allein ist schon beeindruckend, wäre da aber nicht auch jener chinesische Gemeinschaftssinn, der das Ganze noch verstärkt. Denn alleine hat man die Grotten nicht für sich. Im Gegenteil. Bereits am Eingang auf dem, natürlich, riesigen Parkplatz stellen sich die Touristen brav in Reih und Glied und warten darauf, dass der Guide mit den Eintrittskarten kommt. Anschließend führt er durch das Gelände. Im Schnelldurchlauf. Sehenswerter Buddha, Foto ohne, dann, weil es einfach viel lustiger ist, mit Menschen. Junge und alte Chinesen drapieren sich mal mehr und mal weniger elegant um die Statuen, die ziemlich schnell nur noch schmückendes Beiwerk sind. Es ist erstaunlich und wunderbar, anzusehen, wie sehr sich die Chinesen hier produzieren und selbst in Szene setzen.

Andreas Dauerer

Nach kürzester Zeit geht es so von einer zur nächsten Sehenswürdigkeit

Die Bilder ähneln sich, es wird viel gekichert und gelacht, und man hat beinahe das Gefühl, man sei in einem Vergnügungspark mit steinernen Superstars gelandet und nicht an einem Ort, der seit dem Jahr 2000 zur Liste der UNESCO-Weltkulturerbestätten zählt. Überhaupt hat man bei vielen touristischen Höhepunkten der Provinz das Gefühl, dass eine Portion Disneyland auf keinen Fall fehlen darf. Das gilt auch für das verhältnismäßig kleine Städtchen Dengfeng, der Heimat der Shaolin-Mönche und des Kung Fu.

Auch heute noch wollen viele Jungen und Mädchen in einem der vielen Internate zum Shaolin ausgebildet werden, meist mit dem Ziel, um es später auch unterrichten zu können. 70.000 Schüler sind es, die jeden Morgen um 5:10 Uhr aus den Betten kriechen, um gemeinsam die erste Einheit zu absolvieren und so ihren Körper abzuhärten. Das nämlich war die Ursprungsidee dahinter und hatte anfänglich nichts mit Kampfkunst zu tun, sondern schlicht mit harter Trainingsarbeit.

Andreas Dauerer

Die Wurzeln des Kung-Fu

Als die Mönche nämlich vor ewiger Zeit ein wenig beleibter zu werden drohten, überlegten sie sich, wie sie das am effektivsten bekämpfen könnten. Daraus resultierte mit der Zeit die hohe Kunst des Kung-Fu. Deshalb ist ein Besuch des berühmten Shaolin-Klosters selbstredend ein Pflichttermin.

Einst hatte hier der indische Mönch Bodhidharma in einer Höhle gehaust und mit ihm den Zen Buddhismus nach China gebracht. Heute fährt man mit dem Golfcaddy auf asphaltiertem Wege direkt am riesigen Exerzierplatz vorbei, auf dem Tausende Schüler in Formation ihre Fäuste und Beine gen Himmel tanzen lassen.

Tägliches Training, fünf Stunden über den Tag verteilt. Das macht schon ein wenig stolz, wenn man das dann in einer eigenen Show den Besuchern auf der Bühne vorführen darf. Kung-Fu-Schüler verschiedenen Alters fliegen durch die Luft, zeigen viel Artistisches, ein paar Taschenspielertricks, aber leider eine kleine Spur zu wenig Spirituelles. Nach 20 Minuten verabschieden sich die meisten wieder, wohl um ihre Hausaufgaben zu machen. Ein paar der wirbelnden Protagonisten stehen jedoch den Besuchern für kleines Geld zum Erinnerungsfoto zur Verfügung. Kapitalismus ist also auch hier kein Fremdwort. Auf dem Weg zum Hotel begleiten uns dann einige rennende Kung-Fu-Schülergruppen in roten und blauen Trainingsanzügen. Im Hintergrund lächeln unzählige Meister mit langen grauen Haaren und noch längeren grauen Bärten in Kampfhaltung von Plakaten herab. Einige schweben über Wasser, andere stehen auf immergrünen Wiesen vor einem imaginären Landschaftsidyll, das zuweilen an den heimischen Wald erinnert.

Andreas Dauerer

Ab ins Grüne

Wer sich nach den wuseligen Städten, aufregenden Tempeln und Grotten der Ruhe wegen eines kleinen Abstechers in genau so einen Wald begeben möchte, der könnte auf der Karte beim Nationalpark Yuntaishan hängen bleiben. Schließlich wusste schon Laotse, dass der Körper Ruhe und Bewegung braucht, und am Yuntai-Berg findet man neben Tempelanlagen und wunderschönen Schluchten auch den Yuntai-Wasserfall mit einer Höhe von exakt 314 Metern und somit den höchsten seiner Art in ganz China.

Doch gerade dieser Superlativ lässt auch andere einheimische, ruhe- und bewegungswillige Touristenherzen höher schlagen. Ist man im Bayerischen Wald vielleicht noch manchmal alleine, so ist das hier nur möglich, wenn der Park tatsächlich seine Pforten geschlossen hat. Man ist auf große Besuchergruppen eingestellt, die Empfangshalle hat einen Hauch von sozialistischer Architektur im XXL-Format, und dann geht es auch schon mit Kleinbussen zu den einzelnen Sehenswürdigkeiten des Parkes.

Schlucht in Henan

Andreas Dauerer

Schluchtig leicht

Selbstverständlich darf man später auch durch die Schlucht wandern – und das lohnt sich. Die Wege sind bestens präpariert, man braucht sich vor vielen Treppenstufen nicht scheuen.

Belohnt wird man dann nicht nur mit frischer Luft, sondern mit unzähligen Perspektiven auf abbrechende Schluchten, das herunterprasselnde Wasser und die smaragdgrünen Becken, die sich über die Jahrhunderte in den Fels gefressen haben.

Idyllisch ist es allemal, wenn man sich die Hälfte der Menschentrauben wegdenkt. Der Rest verläuft sich. Aber es ist auch lustig. Denn plötzlich ist es nicht mehr die Natur, sondern ich selbst werde zu einem beliebten Fotomotiv. Offenbar kommen nicht allzu viele westliche Touristen hierher, und ehe ich überhaupt etwas erwidern kann, habe ich auch schon das erste Kind auf dem Arm, um etwas von meiner Aura abzugeben. Ob es an der Teezeremonie mit Meister Chen Gong in Chenjiagou liegt, der mir im Zentrum des Tai-Chi tags zuvor ganze zwei dieser Übungen beibrachte, die bekanntermaßen Geist und Körper so wunderbar vereinen, dass ich gar so in mir ruhe? Vielleicht. Woran ich aber in jedem Fall arbeiten sollte, ist meine Fitness. Denn während Tai-Chi ganz ohne Gewichte auskommt, hatte ich sechs Kinder auf dem Arm. Klein ja, aber nach dem dritten auch irgendwie schwer. Aber höflich sind eben nicht nur die Chinesen.

Viele Informationen zu der Region finden Sie im passenden Reise-Guide.