Vieles hinterließ Spuren auf der größten Insel der Karibik: Kolonialisierung, Gangsterbesuche während der US-Prohibition, große Revolutionen. Das Land bewahrt all diese Spuren tief in sich drin – und zeigt sie nur manchmal. Vorausgesetzt, man schaut genau hin … Text: Inna Hemme

Eine Feder streift meinen Rücken, dann ertönt ein lauter Knall. Hunderte von Lichtern gehen an, aus dem rot angestrahlten Kunstnebel zeichnen sich noch mehr Federn, Obstkörbe, funkelnde Kristalle ab. Sie kommen von überall, kriechen aus dem Boden, schweben vom Himmel herunter, und mit jedem Schlag ihrer Rüschenflügel verschwindet der Nebel. Und legt die Sicht auf das frei, was eigentlich gar nicht mehr hier sein dürfte: die Cabaret-Show Tropicana und ihre freizügigen Tänzer – eines der wenigen Kapitalismus-Überbleibsel auf Kuba.

Der Massentourismus existierte hier nämlich schon lange vor der Bebauung des Badeortes Varadero. Er wurde in den Goldenen Zwanzigern durch die Prohibition in den USA ausgelöst. In Kuba gab es weder eine Beschränkung für Alkohol noch für Glücksspiel. Und: es liegt nahe an Florida. Und während die New Yorker in einer ihrer 30 000 »Flüsterkneipen« für die flüssige Sünde ihr letztes Geld auf den Tresen hauten, hatte man in den Südstaaten nur einen kurzen Schiffsweg – genannt Schnapsstraße – in das karibische Paradies, wo alles erlaubt war. Mit der Revolution wurden die Mafia-Bosse verhaftet, Destillerien verstaatlicht, Casinos geschlossen und die Protzvillen konfisziert. Nur das Tropicana durfte bleiben.

Polierte Oldtimer prassen über die Schlaglöcher

Bang! Schon wieder ein lauter Knall. Dieses Mal fließt ein Wasserfall über die Schultern von nur mit ein paar Palmenblättern bedeckten Tänzerinnen. »Die Königspalme ist der kubanische Nationalbaum«, erklärt mir ein Kellner die tiefsinnige Symbolik dieser Showeinlage und schenkt zum fünften Mal innerhalb von 20 Minuten Rum nach. Mischgetränke gibt es schon seit einer Weile nicht mehr. Ob ich anstatt von Coke lieber eine Zigarre möchte, fragt er … Genau so muss es auch damals ausgesehen haben, als man nicht wusste, ob der Rum und die Knalleffekte noch bis morgen reichen werden. Bang! Zu Ende.

Nach dieser Freiluftshow, bei der selbst die Sterne inszeniert scheinen, brauche ich erst einmal einen Spaziergang. Ich laufe die Uferpromenade Malecón zu meinem Hotel hinunter, während die meterhohen Wellen über die Stadtmauer schwappen. Hier spürt man sie, die salzige Meeresluft, die Jahr für Jahr immer mehr von den Fassaden dieser eigentlich so bunten Stadt wegfrisst. Die polierten Oldtimer prassen über die Schlaglöcher, irgendwo in der Ferne wacht eine Fledermaus über die Stadt, mit ausgestreckten Flügeln auf dem Dach des Edificio Bacardí. Aus den Bars dröhnt «Chan Chan«. Es ist so kitschig. Es ist genau so, wie man es haben will. »Es ist nämlich so«, erklärte mir mal ein Freund, der öfter auf Kuba ist. »Je nachdem, wann und wo du ankommst, zeigt dir diese Insel ein völlig anderes Gesicht. Und so wirst du sie für immer in Erinnerung behalten.« Für mich ist es Havanna bei Nacht. Havanna der Goldenen Zwanziger.

Havannas Alstadt erinnert an eine weise alte Dame mit Schmerz

Schon am nächsten Morgen werde ich eine völlig andere Stadt und in den nächsten Tagen ein völlig anderes Kuba zu Gesicht bekommen. Aber die Flügel bleiben. Am nächsten Morgen strahlt die Sonne, aber der Glanz ist verschwunden. Havanna hat bei Tageslicht ganz andere Helden. Die Stadtführung beginnt an der Plaza de la Revolución, wo Fidel Castro am 1. Mai 1959 seine berühmte Revolutionsrede an die Kubaner hielt. Rund 1,5 Millionen Menschen passen zwischen die umliegenden Regierungsgebäude im Plattenbaustil, darunter das Innenministerium mit Che-Guevara-Bildnis und seinem Revolutionsmotto »Hasta la Victoria Siempre«. Ebenfalls ein Touristenmagnet der Neustadt ist der an ein Ufo erinnernde Kult-Eisladen Coppelia, wo Einheimische manchmal stundenlang Schlange stehen. Vom Protz und Überfluss der letzten Nacht keine Spur …

Auch die Altstadt La Habana Vieja zeigt sich herzlich, aber bescheiden. Sie erinnert an eine weise alte Dame, mit viel Schmerz, Schnörkel und eingerostetem Make-up. An der Plaza de la Catedral versammeln sich jeden Tag dieselben. Mit einer Zigarre im Mundwinkel und bunten Kleidern legen sie Karten für Touristen und sagen, was die Zukunft bringt. Gleich um die Ecke bekommt man in der Kneipe »Bodeguita del Medio« einen guten Eindruck von Hemingways Standhaftigkeit. Schon vormittags. In das wohl berühmteste Lokal Havannas und die ehemalige Lieblingskneipe des Schriftstellers drängen sich heute überwiegend Touristen, um für 3 CUC einen Mojito zu ergattern. Den hier auch schon Gabriel García Márquez, Brigitte Bardot und Harry Belafonte tranken.

Errol Flynn brachte es schließlich auf den Punkt: »A great place to get drunk.«

Ich muss aber weiter, es gibt noch viel zu sehen in Kubas Hauptstadt, für die ein einziger Tag eigentlich gar nicht ausreicht. Ich habe aber eine Kuba-Rundreise gebucht und muss am Abend schon den Flug nach Santiago de Cuba nehmen. Von dem ältesten Platz Plaza de Armas mit seinen Königspalmen, Museen und Buchverkäufern folge ich dem Reiseleiter auf die lebhafteste Straße Havannas: Calle Obispo. Irgendwann mündet sie in den Prachtboulevard Paseo del Prado, und hier zeigt sich plötzlich das, was tagsüber die kapitalistische Fledermaus des Bacardí-Imperiums ersetzt. Erhaben wacht das weiße Capitol über die Stadt, einen ganzen Meter höher als das Original in Washington. Es soll zeigen, dass man es besser gemacht hat als die US-Amerikaner. Dafür hat man extra einen Dorn aufs Dach montieren lassen.

In Santiago de Cuba ist Kuba viel karibischer

In der nächsten Stadt Santiago de Cuba sieht man das alles dagegen viel entspannter. Hier angekommen, glaube ich kaum, dass ich mich im selben Land befinde – so anders wirkt sie. Die zweitgrößte Stadt Kubas musste nie so viel mit den USA konkurrieren wie mit Havanna selbst. Santiago de Cuba hält sich nämlich schon seit Jahrzehnten für die wahre Hauptstadt des Landes: karibisch, schwarz, Brutstätte der Revolution. Auf ihrem berühmten Stadtfriedhof Cementerio Santa Ifigenia liegen viele bekannte Kubaner begraben, wie der Poet José Martí (»Guantana­mera«) oder der »Buena Vista Social Club«-Sänger Compay Segundo. Als er starb, war er 95, sein jüngstes Kind zwei.

»Im Durchschnitt haben die Kubaner 2,5 Kinder. Die Frauen zwei, die Männer drei«, scherzt unser Reiseleiter.

Ach ja, und angeblich hat man hier im Süden auch noch viel mehr Humor als im windigen, verrosteten Havanna. Die dritte Station, Camagüey, wirkt ebenfalls sehr überraschend – überraschend europäisch. Die Kubaner sind hier größer und blonder. Die Frauen gelten als die schönsten des Landes.

Cienfuegos ist très chic

»Es gab im Inland kein Zuckerrohr, sondern lediglich Viehzucht. Man brauchte also keine Sklaven. Ganz im Gegenteil: Man lud viele Europäer ein, die die Stadt mit ihrer Kultur bereichern sollten«, erzählt mir der Reiseleiter. Auch Deutsche mit komplizierten Nachnamen, die sich kein Kubaner merken konnte und die alle später einheitlich umbenannt wurden. Als Folge ist Kuba das einzige Land der Welt, wo »Alemán« als Nachname gilt. Camagüey hat heute eine Universität mit mehreren Fakultäten, ein Balletthaus und platzt vor Kunstgalerien.

Noch schicker wird es nur noch im neoklassizistischen Cienfuegos mit seinem Triumphbogen, Tennisclub und Yachthafen. Hier ließen sich im 19. Jahrhundert französische Familien nieder. Und prägten zumindest architektonisch die Entwicklung der Stadt. Die Städte ziehen an mir vorbei, jeden Tag ist eine andere dran. Sie alle sind so unterschiedlich, ausgerechnet auf dieser Insel, die überall im Ausland eher das Einheitsbild von Rum, Salsa und Zigarren vermittelt. Aber sie alle haben einen großen Unterschied zu Havanna: Nie gibt es eine Fledermaus in der Nacht und eine Capitolspitze am Tag. Ob karibisch, europäisch oder französisch – sie zeigen alle um jede Tageszeit das gleiche Gesicht.

Mit dem Zettel marschiere ich ins Nachtleben Trinidads

Auf das koloniale Trinidad am vorletzten Abend freue ich mich ganz besonders. Ich habe nämlich schon die ganze Zeit einen Zettel bei mir in der Tasche mit drei Namen. Von dem besagten Freund aufgeschrieben, der oft nach Kuba fährt. Darauf steht: »Casa de la Trova«, »Casa de la Música« und »noch ein Musikclub in einer Tropfsteinhöhle, habe den Namen vergessen«.

Um 21 Uhr fange ich mit Casa de la Trova an. Um halb zehn gibt es schon keine Tische mehr: Jung und Alt, überwiegend Einheimische, trinken Seite an Seite, tanzen zu denselben Songs. Eine Art provenzielle Open-Air-Disco. Plötzlich habe ich ein Déjà-vu. Eine ältere Dame, bestimmt über 80, stolziert in ihren Pumps und einer Federkette zum Ausgang. Ein älterer Herr, bestimmt bald 90, pfeift sie mit zwei Fingern im Mund zurück. Alles wird still, die Menschen an den Tischen gucken ungläubig.

Er nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarre, dann flüstert er etwas der Band zu. Und Bang! Sie tanzen so, als ob sie nicht wüss­ten, wie alt sie sind. Und ob der Rum und die Knalleffekte bis morgen reichen würden. Alle lachen, applaudieren, die Dame schenkt den Leuten aber keine Beachtung. Ihre Show ist noch nicht zu Ende. Irgendwie lässt mich an dieser Stelle das Gefühl nicht los, dass es gar nicht die Prohibitionstouristen und die großen Mafia-Bosse waren, die Kuba beigebracht haben, wie man es anständig krachen lässt, sondern genau umgekehrt.

Flug. Direktflug von Tegel nach Varadero mit Air Berlin. Flüge nach Havanna gibt es mit Condor. www.airberlin.com, www.condor.com.

Veranstalter. Der beschriebene Trip »Große Kuba-Rundreise ab Varadero« mit Flug und einer Woche Badeaufenthalt im Vier-Sterne-Hotel (all-inclusive) ab € 1819 p. P. bei Neckermann Reisen. www.neckermann-reisen.de

Währung. 1 CUC (Peso Convertible) entspricht genau einem US-Dollar und ist umgerechnet ca. € 0,75 wert.

Show Tropicana. Die guten Plätze ca. € 80 p. P. inklusive einer halben Flasche Rum. Bei Regen wird die Show abgesagt.

Reisezeit. Der Winter (November bis April) ist die angenehmere Reisezeit. Dann ist es trocken und nicht zu schwül.