Sie liegt am Ende Europas, dabei fühlt es sich auf ihrem immergrünen subtropischen Dach an, als stünde man mitten in Asien. Ihre Einwohner sprechen spanisch, dabei ist die afrikanische Küste vier Mal näher. La Gomera ist in vieler Hinsicht etwas ganz Besonderes. Text: Markus Grenz

Manche Momente möchte man am liebsten in einem Rahmen unter Glas verschließen und ihnen einen Ehrenplatz zu Hause einräumen: Wie ein gigantischer Teppich aus Zuckerwatte kriecht eine Hunderte von Metern lange Nebelwand aus Wolken über das schroffe Durcheinander aus Felsen, steilen Schluchten und sanften Hängen, leuchtet fast schon, so weiß sticht sie ab vom Untergrund aus Braun und Grün. Hinter den Kuppen und Hängen schimmert der Atlantik, für ein paar Augenblicke sieht man ein winziges weißes Schiff auf seinem Weg durch die stahlblauen Fluten. Hier, auf der zweitkleinsten der sieben Inseln des Kanarischen Archipels, sind solche Momente nicht selten. Kein Wunder, dass es so viele Wanderer und Naturliebhaber nach La Gomera zieht.

Gut zu Fuß? Ein Muss auf dieser Insel

350 Kilometer ausgeschriebene Wanderwege überziehen La Gomera, weitere unzählige findet man in keinem offiziellen Führer.

»Man kann an einem Tag vier bis fünf verschiedene Landschaften erwandern«, schildert Marina.

Seit 1998 lebt die Frau aus dem Hunsrück auf La Gomera und führt Touristen über die gewundenen Pfade »ihres« Schmuckstücks. »Man muss sich Gomera vorstellen wie ein gewaltiges Tischtuch, das man von den Rändern her auf die Größe einer Serviette zusammengeschoben hat«, beschreibt sie auf ihre unnachahmliche Art die Faszination, die das ewige Auf und Ab des Vulkangesteins auf dieser Insel, auf der nichts geometrisch gerade ist, ausübt.

Knapp 30 Minuten haben wir uns auf der Berg- und Talbahn hoch und wieder hinunter gequält. Dabei die Erfahrung gemacht, dass auf der kreisrunden Insel die Zeit ein wenig langsamer läuft als gewohnt. Gestartet vom verschlafenen Playa de Santiago im Süden, sind wir gefühlte 50 Kilometer bis zum Stopp unterwegs gewesen, in Wahrheit waren es keine 15. Diese Insel hat einen ganz eigenen gemächlichen Rhythmus, alles dauert ein bisschen länger.

Felskegel auf La Gomera

Immants O./Shutterstock.com

Weitverbreitet auf La Gomera: der Felskegel

Marina nimmt einen schmalen Weg. Im Hintergrund taucht einer der Roques auf, der Felskegel, von denen es auf La Gomera so viele gibt. Ein dicker grüner Zuckerhut im Dunst. Die gelegentlichen Farbtupfer können aber nicht über das dominante Braun und darüber hinwegtäuschen, dass wir uns im trockeneren Süden befinden – wie eine Klimascheide trennt das Bergmassiv in der Mitte der »Serviette« diesen Teil vom feuchten und häufig immergrünen Norden.

Ich werde daran erinnert, dass wir uns nur rund 300 Kilometer entfernt von der afrikanischen Küste befinden und La Gomera in etwa auf der Höhe der Sahara liegt. »Wir hatten fast eineinhalb Jahre keinen richtigen Regen mehr, und deshalb sieht es nun im Frühling so aus wie sonst im Spätsommer«, erklärt mir Marina.

Einst Hippie-Anlaufpunkt, heute Touristenzentrum: Valle Gran Rey

Leider ist die Wanderung nur ein Appetithäppchen. Auf dem Speiseplan stehen jetzt die örtlichen Spezialitäten, und wir fahren weiter in Richtung Valle Gran Rey, vor Jahrzehnten Anlaufpunkt der Aussteiger und Hippies, heute das touristische Hauptziel auf La Gomera. Hier kann man in einem restaurierten Kanarenhaus wohnen, sich, wenn man sich an den feinen anthrazit-schwarzen Sand gewöhnen kann, an einigen der wenigen Inselstrände sonnen oder einen Hauch von Nightlife erleben.

Esel auf La Gomera

L. Burka Studio/Shutterstock

Efigenia Borges hat die Entwicklung von der Aussteigeroase La Gomera hin zum ökologisch orientierten Tipp für Individualtouristen hautnah miterlebt. Seit vielen Jahrzehnten führt sie ihr »Bar Restaurante La Montana«, für Einheimische und Besucher nur die »Casa Efigenia«, am Rande des Valle. Sie ist eine Institution. Das verwinkelte Innenleben des Hauses ist tapeziert mit Artikeln über ihr Tun, Bildern mit Prominenz und Auszeichnungen. Gekocht wird nur, was auf den Terrassenfeldern der Region wächst.

Und gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Speisekarten? Fehlanzeige. Schier endloses Warten – das Zeitgefühl der Gomeros ist gewöhnungsbedürftig, wird belohnt mit der Inselspezialität »Almogrote«, einer hellroten Paste aus geriebenem Ziegenkäse, scharfem Paprika, Knoblauch, Tomaten und Öl. Köstlich geht’s weiter: »Papas Arrugadas», Runzelkartoffeln, serviert und gegessen mit Schale, »Gofio«, ein Brei aus geröstetem Mais, Bohnen und Kichererbsen, oder »Puchero«, ein deftiger Eintopf, hier nach Philosophie des Hauses rein vegetarisch.

Der Nationalpark Garajonay wirkt wie ein verwunschener Wald

Frisch gestärkt nehmen wir Kurs auf das Heiligste, das es auf La Gomera zu bestaunen gibt. »Das ist die grüne Mütze, die Gomera trägt«, kommentiert Marina, wie gewohnt in ihrer unerschöpflichen Bildsprache. Nach erstaunlich kurzer Fahrt erlangen wir den Wanderpunkt im Nationalpark »Garajonay«. Angenehm kühl ist es hier, trotzdem fühlt es sich schwül an. Ein subtropisches Fleckchen Erde. Das üppige Grün umschließt uns, als wir eintreten, und es ist, als schließe sich ein Dach über uns.

Wir tauchen ein in eine andere Welt, einen Zauberwald. Neben dem Wanderweg wachsen die gewundenen dicken Stämme kreuz und quer. Sie sehen aus wie ein einziges, riesiges Geflecht, als gehörten sie alle irgendwie zusammen. Mannshohe Farne und Erikagewächse haben sich dazwischen ihr Plätzchen gesichert. Knochige Finger mit flauschigen Moosbärten, die wie Hexenhaare an ihnen herabhängen, zeigen auf uns. Kletterpflanzen winden sich um das Holz.

Dabei liegt auf allem, oder um alles herum, ein sanfter Schimmer. Feiner Nebel erfüllt die Luft, zieht um die riesenhaften Baumstämme und lässt sie fast silbern leuchten. Käme jetzt ein bärtiger alter Herr im bunten Überwurf, würde sich als Zauberer Merlin vorstellen – niemand wäre wirklich überrascht. Wir sind mitten in den Wolken.

Monteverde – der Berg, der immer grün ist

»Der Wald ist feucht, er melkt die Wolken«, erklärt uns unsere Führerin. Passatwinde aus Afrika bringen das Wasser mit, bleiben am bis zu 1500 Meter hohen Zentralmassiv hängen, kondensieren und spenden das Leben auf dem »Monteverde«, dem Berg, der immer grün ist. Jahresringe sucht man an den Stämmen vergeblich, das Wachstum wird kaum unterbrochen. Auf zehn Prozent La Gomeras und rund 4000 Hektar ist ein riesiges, lebendiges Freiluftmuseum und einer der besterhaltenen Urwälder Europas entstanden.

»Hier sieht es noch aus wie am Mittelmeer vor fünf Millionen Jahren«, sagt Marina.

Der »Garajonay Parque Nacional« ist der größte, noch zusammenhängende Lorbeerwald der Erde. 1981 stellte die Regierung die Fläche unter Schutz, 1986 erklärte sie die Unesco zum Weltnaturerbe.

Frau blickt auf ein Dort auf La Gomera

Markus Grenz

Grandioses Naturschauspiel: Gelbschnabel-Sturmtaucher und Rauhzahndelfine

Doch auf La Gomera gibt es noch mehr Naturschätze hautnah zu erleben. Und die finden wir am nächsten Tag nicht hoch in der Luft, sondern unter Wasser. Die Gewässer rund um die Insel gehören zu den besten der Welt, um Delfine und Wale zu beobachten. Ein Schwarm albatros-ähnlicher Gelbschnabel-Sturmtaucher auf der Jagd nach Sardinen und Makrelen ist das erste Anzeichen für unseren Skipper. Knapp 50 Vögel kreisen über dem Wasser, haben den gleichen Speiseplan wie die Delfine unter ihnen.

Noch bevor der Skipper den Motor abstellen kann, sehen wir den ersten grau glitzernden Begleiter. Zunächst surft der Rauhzahndelfin auf unserer Bugwelle, dann, als wollte er uns begrüßen, zieht er längsseits, wuchtet den zweieinhalb Meter langen Körper ein wenig aus dem Wasser und lässt sich mit einem lauten Platschen wieder fallen. Meine Mitreisenden sind nass und vor Vergnügen völlig außer sich. Ich gebe Acht auf die leuchtenden, wie phosphorezierenden Körper unter Wasser, die man sieht, wenn die helle Unterseite der Tiere die Sonne reflektiert.

Mit einem Schnaufen tauchen die Delfine Sekunden später zum Luftholen auf. Mittlerweile haben auch die Vögel ihren Aktionsradius in unsere Richtung verlegt und kabbeln sich mit den Delfinen um die Beute. Mit ihren langen Schnauzen stupsen die Fische die Vögel an, die knapp über der Wasseroberfläche segeln, zupfen wie spielerisch an den Flügeln. Ein grandioses Schauspiel, das sich uns als Abschied von der Insel darbietet, und wieder einer dieser Momente, die man am liebsten mit nach Hause nehmen möchte.

Anreise. Ab Teneriffa mit Binter Canarias nach La Gomera. Mehrfach täglich verkehrt eine Fähre ab Los Christianos (zwischen 40 und 70 Minuten). Fahrplan:

Unterkunft. Hotel Jardín Tecina, Lomada de Tecina, s/n, Playa de Santiago, 38811 Spanien. Sehr schönes Vier-Sterne-Hotel, das sich auch für Familien eignet. Ab 102 Euro pro Nacht im DZ.