Wer hätte das gedacht? In unmittelbarer Nähe zu den Niagarafällen befindet sich ein kulinarisches Eldorado. Feinschmecker und Weinkenner werden sich im beschaulichen Niagara-on-the-Lake pudelwohl fühlen. 

»Good things grow in Ontario«. Dieser Slogan klingt wie ein Countrysong. Eine blonde Frau im karierten Blüschen steht mit frisch geernteten Maiskolben im Arm auf einem Feld und besingt das knackige Obst aus der zweitgrößten kanadischen Provinz mit angedeuteter Zweideutigkeit auf die dort lebenden Cowboys. Pure Fantasie. Denn in der Realität ist dies ein Claim für eine Werbekampagne, die nicht die Männer in Boots anpreist, sondern eher die saftigen Pfirsiche. Und tatsächlich, Ontario ist reich an Früchten, Fischen und Fleischtomaten. Hier wächst und gedeiht alles, was die gute Küche braucht. Bis hin zu den edlen Tropfen.

Jennifer Latuperisa-Andresen

Kulinarisch wie im Schwarzwald

Kulinarischer Vorreiter dabei ist die Niagararegion, die sich unmittelbar am Lake Ontario bis zu den berühmten Wasserfällen erstreckt. Dort macht der Herd die Musik. Denn kulinarisch ist diese Region mit dem deutschen Schwarzwald zu vergleichen, wo sich die Starköche Wohlfahrt und Winkler die Hand reichen. Einer der Topgastro­nomen in Ontario ist Tony de Luca. Mehr Casanova als Cowboy, aber dennoch mit einer großen Portion Bodenständigkeit. Alle hier kennen ihn. Alle lieben ihn. Wenn man einen Nachwuchskoch nach seinem Idol fragt, sind es nicht die großen weltbekannten Namen, die fallen. Nein, es ist Tony de Luca. Er steht für seine Region wie Ex-Präsident Obama für die USA.

Touristen, die den Weg nach Niagara-on-the-Lake finden, kommen meist aus drei Gründen. Entweder um die Theaterstücke des Bernhard Shaw bei dem gleichnamigen, jährlich stattfindenden Theaterfestival zu erleben, sich durch die Weingüter zu probieren oder eben ein de-Luca-Menü zu genießen. Aber Ruhm steht dem Kanadier mit den italienischen Wurzeln nicht. Er findet sich eher »alt«. »Lass es mich so ausdrücken: Ich bin der Pionier. Derjenige, der begonnen hat, die Küche hier zu etablieren und an die lokalen Produkte zu glauben.« Ein wichtiger Bestandteil seines Erfolges ist seine enge Bindung zu der Region. Tony kauft vor Ort und bei den Menschen, die er kennt. »Da weiß ich, was ich anbiete. Zu 90 Prozent kommt meine Ware aus Niagara.« Woher genau, werde ich noch erfahren, denn Tony nimmt mich mit auf einen Einkaufsbummel.


Erster Halt: Käse kaufen. Zu der Upper Canada

Cheese Company hat Tony eine besonders enge Beziehung. Sein ehemaliger Lehrling hat den Kochlöffel an den Nagel gehängt, um nun Käse für Vivian Szebeny zu produzieren. Handgemacht, versteht sich. Wir kosten vom Camembert »comfort cream«, der sehr buttrig schmeckt. »Mein Favorit ist der Ricotta. Aber eigentlich sind alle drei Sorten über die Grenzen Ontarios hinaus bekannt«, fügt Tony hinzu. »Weil unsere Milch von den Guernsey-Kühen kommt«, ergänzt Vivian, und davon gibt es in ganz Kanada nur drei Herden.

Jennifer Latuperisa-Andresen

Aha. Man möchte ja kaum meinen, dass die Art der Kuh den Käse macht, aber mir wurde erklärt, dass Guernsey-Milch einen höheren Gehalt an Butterfetten hat. Und somit einen geschmacklichen Unterschied zu anderer Milch aufweist. Seit vier Jahren gibt es jetzt schon die Cheese Company und der »Niagara Gold« ist der Verkaufsschlager. Es ist ein fester Käse aus pasteurisierter Milch. »Rohmilchkäse können wir hier nicht herstellen, dafür haben wir keine Lizenzen.« Vivian hat nun dem Käse ihr Leben gewidmet. Jeden Tag steht sie in der Cheese Company und berät, verkauft und verkostet. »Tradition fängt manchmal klein an«, sagt sie und verkauft Tony de Luca gleich einen Korb voll Käse für die Abendkarte.

Zweiter Stopp: »Die besten Pfirsiche der Welt kommen aus Ontario.«

Tony de Luca hält mit seinem Auto an einem Verkaufsstand unmittelbar an der Lakeshore Road. Als er mir erzählt, dass hier sein Gemüse herkommt, kann ich es erst nicht glauben. Immerhin stehen wir vor einem Marktstand am Straßenrand. Doch als ich Maureen McSween treffe, die mit ihrem Mann Scott die Quiet Acres Farm führt, wird mir klar, warum Tony gerade hier Obst und Gemüse kauft. Beide haben die gleiche Leidenschaft und die gleiche Sorgfalt in Bezug auf die Produkte. Wenn Maureen über ihre Brombeeren redet, zeigt sie einen Stolz, den ich ansonsten nur von Müttern kenne, die ihr Kind zum ersten Mal schwimmen sehen. »Ich brauche ein paar Äpfel«, sagt Tony de Luca und kommt später mit zwei kleinen Säcken wieder zurück. »Ist das üblich, dass die Chefköche hier persönlich vorbeikommen?«, frage ich Maureen. »Bei jedem anderen nicht. Bei Tony schon.« Das wundert mich nicht.

Jennifer Latuperisa-Andresen

Tony hat gerne ein Auge auf die Dinge. Er will wissen, was er abends über den Pass schickt. »Das habe ich in  Deutschland gelernt!« Die Kochjahre, die ihn in seiner Lehrzeit am meisten geprägt haben, hat er in München verbracht, im Bayerischen Hof.

Urlaub? Fast ein Fremdwort für den Koch

Dort hat er auch gelernt, als  Küchenchef den Überblick zu behalten und zu wissen, was in jedem Topf kocht, um das Zepter nicht aus der Hand zu geben. Wahrscheinlich fällt es ihm deswegen auch so schwer, den Nachwuchs alleine kochen zu lassen, in seinem nagelneuen Restaurant. Urlaub? Nur selten. Das letzte Mal war er in New York, um mal bei den US-Starköchen über den Tellerrand zu gucken.

Jennifer Latuperisa-Andresen

Ansonsten steht Tony jeden Nachmittag in der Old Winery, einer italienischen Trattoria, und abends im Tony’s. Ein feines Restaurant für maximal 45 Gäste, wo exquisite Küche serviert wird und ein sehr angenehmes Ambiente herrscht. Mit viel Liebe zum Detail hat er sein Restaurant gestaltet. Man sieht es. Über 100 Jahre ist das Pinienpakett alt, und auf die zinkbeschichtete Bar ist er besonders stolz. Die stammt nämlich eigentlich aus Paris und ist ein antikes Stück aus der Zeit des Art déco.

»Wein hat in Niagara fast einen höheren Stellenwert als das Essen selbst«, meint Tony, als er mich am Inniskillin Weingut absetzt. Probier dich durch die verschiedenen Weine, und verrate mir nachher, welcher dir am besten geschmeckt hat.«

Ein schwieriges Unterfangen, wie sich nachher he­rausstellte.*

Dritter Stopp: Eiswein-Route

Wer in Niagara-on-the-Lake wohnt, der ist natürlich ein Eiswein-Experte. So auch Tony, der jahrelang Küchenchef im angesehenen Weingut Hillebrand war. Für mich war Eiswein jedoch ein Fremdwort. Bei Inniskillin, der Spitze des Weinberges auf der Niagara-Halbinsel, habe ich mein erstes Tasting. Das wiederum endet in einer Eiswein-Schulung, denn mein fehlendes Vorwissen kann ich nicht verbergen. Also werde ich durch die Weinberge geführt. Entlang der Reben lerne ich, dass die überreifen Trauben nachts und bei Minusgraden von Hand gepflückt werden müssen, um das beste Ergebnis zu erzielen.  Während ich eine Vidal-Blanc-Traube koste, eine der typischen drei Rebsorten für den kanadischen Eiswein (die anderen beiden sind: Riesling und Chenin blanc), erzählt mir Kellermeister Bruce Nicholson, dass Eiswein seine Wurzeln im deutschsprachigen Raum hat.

Jennifer Latuperisa-Andresen

Kanada aber mittlerweile größter Erzeuger dieser Weinart ist. Und wer hat diesen Trend begonnen? Ein Österreicher. Karl Kaiser, Mitbegründer von Inniskillin, der im Jahr 1984 seinen ersten Jahrgang Eiswein produzierte, nachdem ihm ein Jahr zuvor die Vögel die Ernte ruiniert hatten. Damit hat er einen wahren Trend ausgelöst.

Denn heute gibt es in der Niagararegion über 70 Weingüter. Die Mehrheit von ihnen produziert Eiswein. Auch Bruce Nicholson ist eine Ikone der Region. Kein zweiter Kellermeister ist ähnlich erfolgreich wie er. Dabei ist Eiswein heute immer noch ein unsicheres Geschäft. »Wir sind so auf die Bedingungen angewiesen, die uns die Natur bereitet. Das ganze Jahr kann es wunderbar laufen, aber dann ist der Winter zu mild, oder der Frost kommt zu spät, und die ganze Ernte ist hin.« Ein Risiko, das in den Flaschenpreis miteinbezogen wird. Eiswein ist nämlich keineswegs günstig. Schließlich werden die Trauben unter härtesten Bedingungen von Hand geerntet. Ein aufwendiges Unterfangen, das einen Preis von 80 Euro für eine Flasche »Sparkling Icewine« rechtfertigt.

Auch anderenorts sind Leckereien im Angebot

Aber auch die anderen Kellermeister haben Köstliches produziert. Es sind zu viele, um sie allesamt zu nennen. Aber meine Favoriten neben Inniskillin waren Hillebrand, Reif und Stratus. Wobei Stratus ein wenig aus der Reihe tanzt. Schon rein optisch ist das Weingut herausragend. Während alle anderen eher einem Landsitz ähneln, ist Stratus ein architektonischer Kubus. Umweltfreundlichkeit lautet dort die Devise. Gebaut und produziert wird energiesparend und nachhaltig. Selbst beim Wein schmeckt man, dass Stratus moderne Wege geht.

Als ich am Abend in »de Luca’s« Restaurant sitze, wird mir vor Augen geführt, welche touristische Anziehungskraft Tony für diese Region hat. Paare, die sich in Schale geworfen haben, sitzen bei Kerzenschein an den Tischen und halten Händchen. Die Dame neben mir erzählte, dass sie aus Vancouver angereist sei, um einmal bei Tony de Luca zu dinieren. Und dass sie sicherlich nächstes Jahr wiederkommt. »Es gibt ja auch so viele andere erstklassige Restaurants.« Danach schweigen wir – und genießen das rosa gebratene Hirschfilet auf Ontario-Gemüsespiegel. Das Fleisch zergeht auf der Zunge. Ein Traum.

Jennifer Latuperisa-Andresen

Ein fulminanter Tag geht mit einem fuliminanten Essen zu Ende

Niagara-on-the-Lake ist tatsächlich ein Schlaraffenland für jeden Küchenchef und Gourmet. Es schmeckt einfach besser, wenn man weiß, woher die Produkte stammen. Und so freue ich mich, dass der Ricotta der Upper Canada Cheese Company in die hausgemachte Pasta gefüllt wurde. Und dass die Äpfel der Quiet Acres Farm karamellisiert beim Nachtisch erscheinen. Ein fulminanter Tag. Bei einem exzellenten Koch. Und ich dachte »Good things grow in Onatrio.« Nur Tony nicht, der wurde in Italien geboren.

Anreise. Air Canada fliegt ab Frankfurt a. M. zweimal täglich nonstop nach Toronto. Ab München gibt es fünf wöchentliche Flüge von Air Canada nach Toronto – ebenfalls nonstop. Ab 2012 fliegt auch Condor nach Toronto. Vom Toronto Airport weiter mit einem Mietwagen in das 124 Kilometer entfernte Niagara-on-the-Lake. Auch vor Ort empfiehlt es sich, ein Auto zu haben.

Schlafen. The Shaw Club Hotel. Wunderschönes Boutique-Hotel mit guter Gastronomie, gelegen zwischen Theaterbühne, Haupteinkaufsstraße und Weinroute. 92 Picton St, Niagara-on-the-Lake, Ontario, Kanada, +1 9054685711.

Die besten Weingüter: Inniskillin, Stratus, Reif

Weingüter. Iniskillin Niagara Winery. 1499 Line #3 at the Niagara Parkway, Niagara-on-the-Lake, Ontario, Kanada, Tel.:+ 1 905 468 2187.

Stratus Wines. 2059 Niagara Stone Road, Niagara-on-the-Lake, Ontario, Kanada, +1 905 468 1806.

Reif Estate Winery. 15608 Niagara Parkway, RR #1, Niagara-on-the-Lake, Ontario, Kanada, Tel.: +1 905 4687738.

Reisezeitraum. Der September und der Oktober sind perfekt für eine Reise auf die Niagara-Halbinsel

Niagarafälle. Nur  20 Kilometer von dem Städtchen entfernt liegen die wohl berühmtesten Wasserfälle der Welt. Ein Ausflug lohnt sich auf jeden Fall. Auch eine Fahrt mit der Maid of the Mist (Achtung, im Herbst legt das letzte Boot um 17.00 Uhr ab!). Aber planen Sie keine Verweilzeit in der Stadt ein, diese ist ein billiges und blinkendes Fiasko.

Upper Canada cheese Company. 4159 Jordon Road, Jordan Station, Ontario, Kanada, Tel.: +1 905 562 9730.