Auf den Flüssen, Seen und Kanälen von Kaschmirs Hauptstadt Srinagar steht die Zeit still. Nach den Wirren der Vergangenheit erobern erst langsam die Touristen diesen Garten Eden zurück. Wir haben uns auf dem Wasser und in den schwimmenden Hotels umgesehen. Text: Markus Grenz

Wenn man auf dem Wasser das Gefühl bekommt, die Zeit vergehe langsamer, dann steht sie manchmal so gut wie still. So vorsichtig, als wolle er diese heilige halbe Stunde zwischen Nacht und Tag nicht stören, taucht unser Bootsmann sein Paddel in den Kanal. Ganz sanft sickert das leise Plätschern in die fast vollkommene, frühmorgendliche Stille.

Dal See im Sonnenuntergang

Markus Grenz

Unser Shikara, diese indische Antwort auf eine venezianische Gondel, bewegt sich nur zentimeterweise voran. Aus dem fahlen und unwirklichen Licht tauchen kleine Holzhäuschen auf, die direkt aus dem Wasser zu wachsen scheinen. Mannshohes Schilf beschirmt unsere Fahrt, bewacht werden wir von Baumkronen, die uns die langen Finger ihrer Zweige träge entgegenstrecken. Nur schemenhaft sieht man die gewaltigen Schatten der Berge im Morgennebel, die wie die Hüter eines Schatzes diese Welt vor der Wirklichkeit beschützen. Manchmal liegt der Zauber eines Ortes in einer Sekunde, und dann steht die Zeit still.

Erster Stopp: Markt

Früh mussten wir aufstehen, um uns auf den Weg durch das Labyrinth von Wassersträßchen und Kanälen zu Srinagars »Floa­ting Vegetable Market« zu machen. Selbst meine sonst so redselige Reisegruppe hat angesichts der Mischung aus Müdigkeit und Märchenwelt um uns herum eine Small-Talk-Pause eingelegt. Nur wenige verschlafene Inderaugen verfolgen unsere drei Bötchen, die sich fast geräuschlos durch den Dunst bewegen. Als sich unsere Wasserstraße in eine große Fläche aufweitet, sind wir am Ziel. Dann heißt es warten.

Lange dauert es nicht, bis die Welt um uns herum zum Leben erwacht. Erst eins, dann noch eins, immer mehr schlanke Boote tröpfeln von allen Seiten und aus unsichtbaren Nebenkanälen auf die Wasserfläche. Und schlagartig, so plötzlich wie die aufgehende Sonne die Welt von einem dämmrigen Blau in ein sanftes Rot färbt, hat sich die Szene verwandelt in ein Gewusel aus Kähnen und Kapitänen. Voll gepackt mit Kartoffeln, Kohl, Kohlrabi oder Kresse, mit Spinat und Salat, balancieren die Steuermänner ihre schwimmenden Stände über die spiegelglatte Fläche.

Markus Grenz

Gestenreich prüfen sie die Ware, legen Qualität auf die Gold- und das Grün auf die Gemüsewaage. Rupien-Scheine werden von Boot zu Boot gereicht, theatralisch wird um den Preis gefeilscht, ständig entstehen neue Verbindungen, um Minuten später wieder gelöst zu werden. Alles ist in Bewegung – ein Markt auf dem Wasser, bei dem die Boote nicht vor Anker liegen, steht niemals still. Er taucht auf, dreht sich nach geheimnisvollem Gesetz viele Male um sich selbst, und ist plötzlich wieder verschwunden. Nach einer guten Stunde ist der Zirkus vorüber. Und die Restaurants und Hausboote in Srinagar sind für einen weiteren Tag mit Gemüse versorgt, wie es frischer nicht sein kann.

Jimmy erklärt sein Heimatland

Das ist auch nötig, schließlich erwacht die Hauptstadt des Bundesstaates Jammu und Kaschmir, diese Perle des indischen Subkontinents, langsam aus ihrem Dornröschenschlaf.

»In den 1990er-Jahren war es schlimm hier«, erzählt unser Fremdenführer Abdul-Rahim Tuman, den wir kurz »Jimmy« nennen sollen. Schießereien, Ausgangssperren – die Himalaya-Region in dieser Zeit einen Zankapfel von Indien und Pakistan zu nennen, wäre weit untertrieben. Und auch in den frühen 2000er-Jahren hat man an der nahen Grenzlinie zum großen islamischen Nachbarstaat alles andere als paradiesische Zustände vorgefunden.

»Jimmy« hat in den schwierigen Zeiten den Weg gewählt, den so viele Kaschmiris gegangen sind, und hat das Tal verlassen, lebte in Deutschland und verdiente sein Geld als Fremdenführer in der Schweiz – an eine neue Landschaft gewöhnen musste er sich bei den Eidgenossen nicht. Erst in den vergangenen Jahren hat er in seiner Geburtsstadt wieder etwas zu tun bekommen. Da entspannte sich die Situation so weit, dass die indischen Touristen ihren Garten Eden auf knapp 1800 Metern Höhe als Zuflucht vor der tropischen Hitze ihres Heimatlandes wiederentdeckten. Lange hatten sie darauf gewartet. Warum, das erschließt sich am besten durch einen Blick von oben.

Gigantische Triangel: Dal-See

Nach einem fast entspannten Aufstieg sind wir am Sri-Shankaracharya-Tempel, einem der ganz wenigen hinduistischen Bauwerke in dieser moslemischen Stadt, angekommen. Nur die letzten der 243 steinernen Stufen sind so steil, dass die gebrechlichen Pilgerinnen auf allen vieren zu Gott Shiva hinaufkraxeln. Mit drei Streifen aus einer Sandelholzpaste werden sie vom wartenden Brahmanen mit dem »Tika« auf der Stirn belohnt. Soll sich bei ihnen nach dem meditativen Rundlauf um das Tempelchen, immer gegen den Uhrzeigersinn, das dritte Auge öffnen, so gehen mir beim Anblick der Stadt fast die Augen über.

Dal See

Markus Grenz

Wie eine gigantische Triangel läuft unter mir der weite Dal-See in einer Bucht aus, die in der Mitte noch von einer dreieckigen, pittoresken Insel geziert wird. An den Ufern des Festlandes breiten sich Alt- und Neustadt wie in einem wild durcheinandergewürfelten Monopoly-Spiel aus. Durchschnitten wird das Spielbrett vom Fluss Jhelam mit seinen sieben Brücken. Wie holländische Grachten zweigen die vielen Wassersträßchen von ihm ab und schlängeln sich durch die 1-Million-Menschen-Metropole, schlagen einen Bogen, fließen vorbei an gewässerten Gemüsegärten und münden wieder in den riesenhaften Dal-See, der so groß ist wie die Stadt selbst. Ein kleiner blauer Tupfen markiert am Rand den zweiten See Srinagars, den Nagin-Lake.

Schiff ahoi

Wasser, immer wieder Wasser: Aus einem riesenhaften See erwuchs erst in prähistorischen Zeiten das Kaschmir-Tal, die Reste davon spenden seit Jahrhunderten Leben, sorgen für reiche Gemüseernten und stets gedeckte Tische. Was den Lebensraum selbst anbetrifft, so spielt das kühle Nass in Srinagar eine ganz besondere Rolle. Klein wie eine Badewannenflotte, »parken« die Hausboote an den Rändern des Sees. Hunderte, wenn nicht tausend oder mehr, der Holzschiffe liegen fest vertäut unter meinen Füßen. »Die schauen wir uns jetzt mal aus der Nähe an«, gibt »Jimmy« das Zeichen für den Aufbruch.

Hausboot in Kaschmir, Indien

Markus Grenz

Schon wieder sitzen wir in unserer kleinen Kaschmiri-Gondel und gleiten den »Hausboot-Boulevard« auf dem Dal-See entlang der Uferstraße. In Reih und Glied warten hier die schwimmenden Hotels auf ihre Gäste, holen die weite Welt ins kleine Tal, zumindest was die fantasiereichen Namen anbetrifft. Hier drängelt sich Melbourne neben Manila, Neu-Kolombo neben Neu-Manhattan. Ruhiger lässt es sich auf dem kleinen Nagin-See wohnen, und genau der ist unser Ziel. »Die Hausboote haben in Kaschmir eine besondere Tradition«, setzt »Jimmy« an, der es wissen muss. Seine Familie Tuman ist seit den Urzeiten, genauer gesagt dem 19. Jahrhundert, in der Touristenbranche aktiv.

Alles andere als Kasernenromantik

Alles begann mit den legendären 750 000 Pfund Sterling, mit denen der Maharaja Gulab Singh der Region eine gewisse Eigenständigkeit von den britischen Kolonialherren erkaufte. Natürlich gaben die Europäer das strategisch günstige Srinagar als Militärstützpunkt nicht auf.

»Nicht-Kaschmiris durften aber kein Land besitzen, das ist bis heute so«, erklärt »Jimmy«. Also: Wohin mit den vielen Soldaten und vor allem den ranghohen Offizieren? »Für die wurden die Hausboote gebaut«, erläutert unser Reiseführer.

Dass die heutzutage alles andere als Kasernenromantik versprühen, sehen wir, als wir eines dieser knapp 30 Meter langen Ungetüme in einer ruhigen Bucht entern. Wir betreten einen britischen Salon mit orientalischem Flair. Weich fühlen sich die Teppiche unter unseren Füßen an. Edle Leuchter spenden warmes Licht. Die Wände und Decken sind mit hellem Zedernholz verkleidet, auf denen kaschmirische Handwerksmeister ihre Unterschrift in Form traditioneller Verzierungen hinterlassen haben. Internet und Kabel-TV erinnern daran, dass man sich tatsächlich im 21. Jahrhundert befindet.

Acht bis zehn Personen haben allen Platz der Welt. Wir lümmeln uns auf plüschigen Sofas, während uns der »Hausherr« den Kaschmiri-Tee mit Zimt, Kardamom und Safran im Samowar zubereitet. »Die Touristen haben hier so gut wie immer auf Booten gewohnt«, schildert »Kapitän« Shafi Tuman, einer von zahllosen Cousins unseres Reiseführers, während er uns die dampfende Flüssigkeit ins feine Porzellan gießt. In der fünften Generation führt der 45-Jährige das Familienunternehmen, erzählt er uns, während wir die hellbraune Flüssigkeit schlürfen. Drei Hausboote betreiben die geschäftstüchtigen Tumans, allesamt in der gehobenen Kategorie. Full-Service ist natürlich inbegriffen. Wenn man will, kann man seine gesamte Zeit auf den Schiffen verträumen. Verzichten muss man auf nichts – die Tumans wären keine Kaschmiris, wenn sie nicht auch für das firmeneigene Shopping an Bord sorgen würden.

Markus Grenz

Im Schatten der Berge

Ich habe nicht so viel Geduld. Mich zieht es wieder auf den See, mein Gondoliere wird heute mit schweren Armen zu Bett gehen. Langsam durchschneiden wir die spiegelglatte Oberfläche und steuern ein kleines Inselchen an, das so zufällig aus dem Wasser wächst, als müss­te es gleich wieder verschwinden. Zahllose Filmszenen hat die Bollywood-Industrie hier im Schatten der mächtigen Berge gedreht, für indische Paare auf Hochzeitsreise ist das Eiland ein Muss. Behutsam gleitet das herzförmige Paddel ins Wasser. Über dem Tal liegt der sanfte rote Schein der untergehenden Sonne, während aus der nahem Stadt die Rufe der Muezzine zum Abendgebet herüberwehen. Manchmal liegt der Zauber eines Ortes tatsächlich in einer Sekunde. Und dann steht die Zeit still.

Anreise. Qatar Airways fliegt zwei Mal täglich ab Frankfurt a. M. nach Delhi. Von dort mit Jet Airways oder Air India.

Unterkunft. Einen wunderbaren Blick auf den Dal-See hat man vom Vivanta by Taj – Srinagar auf dem Kralsangri-Hill, Kralsangri, Brein Srinagar, Jammu & Kaschmir, India. Hier kostet ein DZ pro Nacht ab € 190 (€ 80 p.P). Buchung unter Tel.: +91 194 246 11 11 oder per E-Mail: vivanta.srinagar@tajhotels.com.

Bei der Wahl der Hausboote hat man in Srinagar zahllose Möglichkeiten. Die schwimmenden Unterkünfte der Familie Tuman sind die exklusive Variante und kosten in der Saison pro Person und Nacht rund € 100. Buchung unter Tel.: +91 194 242 55 10 oder per E-Mail an booking@mascothouseboats.com.

Organisiertes Reisen. Der Reiseveranstalter Windrose bietet Indien-Packages mit Kaschmir-Teil an. Infos bei Windrose Finest Travel, Fasanenstraße 33, 10719 Berlin, Tel.: 030 2017210.