Südkorea ist Inbegriff für technischen Fortschritt. Doch blickt man hinter die Kulissen aus Displays und verspiegelten Fenstern der Megacitys, so finden sich Orte der Ruhe und Besinnung auf die eigene Vergangenheit. Bei Reisen quer durchs Land ist es vor allem die Offenheit der Menschen, die einen tieferen Einblick in ihre Traditionen und Bedürfnisse erlaubt. Text: Patrick Lettmann

Zum Abschied meiner Südkorea-Reise sagt mir Jaehwan, ich solle die Augen schließen. Daraufhin spüre ich, wie er fast zärtlich meine Hand nimmt, die Innenfläche nach oben richtet und mir einen Gegenstand hineinlegt. Noch mit geschlossenen Augen ertaste ich das ovale Etwas, das in meiner Hand liegt, als sei es schwerelos. Die Oberfläche ist hier rau, wie ungebeiztes Holz, hier zum Darüberhinwegrutschen glatt. Die Ränder sind von unterschiedlicher Dicke und mit ebenso ungleichmäßigen Rundungen – es lässt sich keinerlei Symmetrie darin erfühlen. Auch als ich die Augen öffne und ein filigran gemeistertes Stück Holz in meiner Hand wiederfinde, erschließt sich mir der Nutzen nicht.

Jaehwan schenkt unserem Autor zum Abschied etwas, dass Erklärung benötigt.

Jaehwan

Jaehwan erkennt meine Verwunderung und setzt mit einem nachsichtigen Lächeln in seiner Erklärung dort an, wo ich nach knapp einem Monat auf Reise durch dieses Land selbst schon sein sollte.

Ich weiß das, und er weiß das. Doch für mich lässt sich Korea auch jetzt noch nicht entschlüsseln. Dieses Land voller Widersprüche, dieser wunderlichen Kultur und Millionen Menschen, die in Labyrinthen aus Häusern und Neonreklamen selbst noch auf der Suche nach sich selbst sind.

Soeuls Straßen laden zu einem Streifzug ins Unbekannte ein.

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Auferstanden aus Ruinen

Noch in den 1960er-Jahren war Korea Entwicklungsland. Gebeutelt von Jahrzehnten der kolonialen Besetzung durch die Japaner, Austragungsort des Urkonflikts zwischen Kapitalismus und Kommunismus, Demokratie und Diktatur, noch heute gespalten in zwei Hälften – nicht ungleich unserer eigenen deutschen Geschichte, doch mit bekanntlich anderem Ausgang.

Tempel und reine reiche Kultur sind trifftige Gründe für eine Reise nach Südkorea.

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Ein Land, das viel ertragen musste und sich dann so unbemerkt, als hätte die Welt hier einen Moment weggeschaut, aus dem Schutt der Vergangenheit erhob und es innerhalb kürzester Zeit zu einem der bedeutendsten Technologiestandorte der Welt gebracht hat. Wohlgemerkt gilt dies nur für den südlichen Teil des Landes, und reist man dort umher, so offenbaren sich hinter all dem technologischen Fortschritt, der einen nicht selten staunen und die deutsche Behäbigkeit verfluchen lässt, die Spuren der nicht allzu fernen Vergangenheit.

Soeuls Straßen gleichen einem Labyrinth.

Myae Dong

Stopp auf der Südkorea-Reise: Daegu

Abseits der leuchtenden Hauptstadt, in immerhin der viertgrößten Stadt Südkoreas, säumen in staubiger Hitze Werkzeugläden ganze Straßenzüge, Sanitärgeschäfte und Autoteile die nächsten und übernächsten.

Straßenläden in Daegu, Stopp auf unserer Südkorea-Reise.

Patrick Lettmann

Zwar gilt Daegu, Zentrum der lokalen Modeindustrie, hierzulande als das Paris oder Mailand Südkoreas, doch lässt sich der Ursprung als einstige Arbeiterstadt nicht leugnen.

Panoramablick auf Daegu, Stopp auf unserer Südkorea-Reise.

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Als ich durch die verwinkelten Gässchen von Jung-Gu schlendere, umgeben von kaum zweistöckigen, absurd verschachtelten Häuschen, entdecke ich erst auf den zweiten Blick kleine Oasen an Cafés und Galerien. Die Kitchen1916 ist weder das eine noch das andere, weder Café noch Galerie, weder Yogastudio noch Klamottenladen – und doch findet man all das dort. Jegal, die Besitzerin dieses eigentümlichen Geschäfts, erklärt mit verlegen zarter Stimme, sie wolle den Menschen etwas Gutes tun.

Daegu in Südkorea ist als Mode-Mekka bekannt.

Bundo Kim

Kitchen1916: Oase der Ruhe

Was das genau bedeutet? Liebe zu Ruhe und Detail! Die wenigen Kleider und Blusen, die zwischen antiken Möbelstücken und traditionell bemalten Vasen hängen, sind selbst entworfen und genäht, die Zutaten für Frühstück und Mittagessen handverlesen, und Kaffee und Tee werden mit einer solchen Ruhe zubereitet, dass einem gar keine andere Wahl bleibt, als zu entspannen.

Die Kitchen1916 in Daegu ist ein Ort der Ruhe und Stopp auf unserer Südkorea-Reise.

Patrick Lettmann

Und genauso beabsichtigt es Jegal. Ihre Oase soll Zufluchtsort sein für all diejenigen, die eine Pause brauchen. Eine Pause vom Alltag, von der immer schneller werdenden Gegenwart, angetrieben von Fortschritt und Technologie, eine Rückbesinnung auf vergangene Jahre, bevor die eigenen Traditionen dem rapiden Wirtschaftswachstum weichen mussten.

Daegu ist eine von Südkoreas größten Städten, und Stopp unseres Autors auf seiner Südkorea-Reise.

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Die alte Magie der Heilkräuter

Verschlungen von dem Auswuchs aus Straßen und Hochhäusern finden sich dann auch jene Stätten, die den Koreanern als Erinnerung an die eigene Herkunft dienen. Auf dem ältesten Heilkräutermarkt Südkoreas, Daegu Yangnyeongsi, werden noch heute traditionelle Heilmittel angeboten: Jutesäcke voller Kräuter, Kisten voller Pilze, Ginseng und andere Wurzeln getränkt in leuchtend goldenen Einmachgläsern.

Der alte Kräutermarkt in Daegu verkauft so manche Kuriositäten.

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In Zeiten von global agierenden Pharmaunternehmen, die durch Profitgier und Mangel an gesellschaftlichem Pflichtbewusstsein in anderen Teilen der Welt ganze Epidemien auslösen, scheinen sich hierzulande die Menschen noch auf die heilende Kraft der Natur zu verlassen. Welche Bedeutung dies hat, zeigt das Herbal Medicine Festival, das die traditionelle Heilkunde Jahr für Jahr zelebriert. Eigens hierzu wurden an den Eingängen des Marktes Tore erbaut, die mit ihren traditionellen Dächern aus Schieferziegeln und geschwungenen Dachsparren mehr den Eindruck erwecken, man betrete einen Tempel statt eines Marktes.

Daegus Kräutermarkt hat lange Tradition.

Patrick Lettmann

Unterwegs am Rande des Sobaek-Gebirges

Und tatsächlich spielt Religion bei einem großen Teil der Bevölkerung auch heute noch eine bedeutende Rolle. Beobachtet man die Koreaner in ihrer Lebensweise, so finden sich in jedem Detail die fünf Konstanten des Konfuzianismus, dessen Philosophie sich bereits seit dem 1. Jahrtausend n. Chr. in der Gesellschaft etablierte. Menschlichkeit und Aufrichtigkeit, zwei dieser fünf Tugenden, sollten mir ein paar Tage später in einem kleinen Dorf, weit entfernt von einer größeren Stadt, dann auch persönlich entgegengebracht werden.

Religion spielt auch heute noch für viele Koreaner eine große Rolle. Diesen Tempel besuchte unser Autor auf seiner Südkorea-Reise.

Patrick Lettmann

Ein Geflecht aus rostigen Drähten hält die wackeligen Holzpaneelen zusammen, die als Hängebrücke über einen kleinen Bach am Rande des Sobaek-Gebirges führen. Diesseits des Wasserlaufs säumen mehrere im traditionellen Hanok-Stil erbaute Häuschen das geröllige Ufer. Jenseits liegen platte Brachflächen, die sich an den Fuß der nahe gelegenen Hügel schmiegen. Ein paar hüfthohe Tontöpfe stehen kollektiv in der prallen Mittagshitze in aufgewühlter Erde herum. Sang Jae, ein Mann Mitte 40, doch schon mit von der Sonne gegerbtem Gesicht, betreibt hier eine Kombination aus Gasthaus und Bauernhof.

Die Berge Bukhansan locken für Wanderungen in die Natur.

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Doch man merkt, dass er in dieser Einöde abseits jeder Touristenattraktion nicht allzu oft Gäste begrüßen darf. Als ich am späten Abend im Dunkeln ankomme, suche ich vergebens nach einer Rezeption oder etwas, das dem nahekommt. Neben mir rauscht der Bach, sonst ist es so still, als sei ich der einzige Mensch auf dieser Welt. Dann höre ich ein langsam lauter werdendes Quietschen, das sich erst nach Minuten als Rollator einer alten Dame entpuppt, die sich mühsam die nahe gelegene Straße mir entgegen, unbeachtet an mir vorbei und weiter zurück in die Dunkelheit schiebt, von der ich anhand von Silhouetten nur vermuten kann, dass sich dort nichts als offenes Feld befindet.

Religion spielt auch heute noch für viele Koreaner eine große Rolle.

Patrick Lettmann

Kommunikation mit Händen und Füßen während unserer Südkorea-Reise

Bin ich hier überhaupt richtig? Weitere Minuten planlosen Wartens später höre ich das Rollatorquietschen erneut. Und diesmal spricht mich die alte Dame an. Auf Koreanisch, versteht sich, das ich nicht spreche – und spricht, spricht und fuchtelt mit der Hand, mit der sie sich nicht an ihrer Gehhilfe abstützt, um dann die Straße in die Richtung, aus der sie kam, zurückzuschleichen. Kaum aus dem Blick entschwunden, fährt Sang Jae in einem verbeulten Toyota Landcruiser vor. Er hält vor mir und dem, was sich als das Empfangsgebäude seines Gasthauses herausstellen soll.

Kimchi-Einmachgläser

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Wir kommunizieren erst auf Englisch, das er nicht spricht, dann mit Händen und Füßen. Als auch das an seine Grenzen stößt, greift Sang Jae endlich zum Google-Übersetzer. Und es beginnt ein Abend voller komplizierter, herzerweichender, interkultureller Verständigung. Womit genau Sang Jae Geld für sich und seine Familie, seine Mutter, die alte Dame, verdient, vermag ich auch nach diesem Abend nicht zu sagen. Doch scheint er mit seiner von der Moderne isolierten Existenz zufrieden zu sein.

Dieser Gensa Tempel ist in der Nähe des Sobaeksan Nationalparks zu finden.

Patrick Lettmann

Das berühmteste Gericht Koreas gärt in Tontöpfen

Die Tontöpfe, so lerne ich, sind Behälter für selbst gemachtes Kimchi; dieser köstliche Matsch aus vergorenem Chinakohl, der teils wochenlang ungekühlt umhersteht oder zur Aufbewahrung eingegraben wird. In einem der Häuschen am Ufer zeigt Sang Jae mir sein Lager. Es ist wahrlich ein Museum aus Hunderten von Einmachgläsern voller Wurzeln und Knollen auf Regalen an der einen Wand, gläserne Karaffen gefüllt mit Soju an zwei weiteren. Soju ist das mit Abstand populärste Getränk Südkoreas. Es wird aus Reis hergestellt. Das klare Destillat in kleinen grünen Fläschchen findet sich im ganzen Land. Fun Fact: Der metallene Schraubverschluss dient den jungen Koreanern für diverse Trinkspiele.

Soju ist in Südkorea ein beliebtes alkoholisches Getränk.

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Selbst gebrannt und literweise abgefüllt, benötigt Sang Jae jedoch Hilfe, um einen seiner Bottiche aus dem Regal zu hieven. Spät in der Nacht, nach Schälchen voller Kimchi und zahllosen Gläsern dieses Elixiers, falle ich glückselig auf die Schlafmatte. Sang Jae hatte sie mir liebevoll auf dem Boden meines Hanoks drapiert.

Auf der Suche nach Tradition und Herkunft

Ist man auf der Suche nach Tradition und Herkunft der koreanischen Kultur, so scheint mir, führt kein Weg vorbei an Leuten wie Sang Jae und seinen kulinarischen Glücklichmachern.

Das Design Center von Soeul beeindruckt durch seine Architektur.

Patrick Lettmann

»Korea ist zu schnell gewachsen«, erklärt Jaehwan.

In dem Drang nach Fortschritt und Bedeutung in der Welt habe das Land seinen eigenen Ursprung aus den Augen verloren. Junge Koreaner heute seien überwältigt von der Geschwindigkeit der Moderne. Fänden keine Atempause zur Reflexion ihrer selbst in diesem Hamsterrad namens Wirtschaftswachstum. In einer Welt, die sich unaufhörlich selbst zu beschleunigen scheint, brauche es einen Ruhepol – und dies ist sein Geschenk an mich. Das ovale Stück Holz sei ein Talisman, der helfen soll, seine Konzentration im Trubel der Großstadt auf sich selbst zu lenken.

Jaehwan ist einer von vielen jungen Südkoreanern, die noch auf der Suche nach ihrer persönlichen Identität sind.

Jaehwan

Die unterschiedliche Haptik dieses Meisterstücks beruhige und schärfe die Sinne, wenn man in Momenten der Hektik nur damit spiele. Ein ganz persönlicher Ruhepol also. Hier kommen mir die liebevollen Leute in den Sinn, die ich während meiner Reise kennenlernen durfte. Jegal, die zierliche Koreanerin, die mit ihrer Kitchen1916 ebenso einen Ruhepol für die Bewohner ihrer Stadt geschaffen hat. Sang Jae, der in seinem kleinen Dörfchen im koreanischen Niemandsland ein Ruhepol in sich selbst ist. Und mir wird klar, was diese Gesellschaft mehr braucht als stetiges Wachstum: eine eigene Identität, entsprungen aus den eigenen Wurzeln, und Menschen, die dieses Ziel mit Leidenschaft verfolgen – Menschen, wie Jaehwan, Sang Jae und Jegal.

Die Sokcho Berge in Südkorea ragen in den heißen Sommerhimmel. Auch hier stoppte unser Autor auf seiner Südkorea-Reise.

Patrick Lettmann

Infos für eine Südkorea-Reise

Anreise. Korean Air fliegt täglich von Frankfurt via Seoul nach Daegu.

Mehr Infos über Südkorea gibt es beim Fremdenverkehrsamt und in unseren Südkorea-Reise-Tipps.

Ihr mögt noch mehr spannende Reportagen aus Südkorea lesen? Auch Autor Sebastian Münter war für uns in dem spannenden Land unterwegs. Seine Reportage lest ihr hier. Unsere Chefredakteurin war ebenfalls schwer beeindruckt von ihrer Südkorea-Reise. Ihre Geschichte könnt ihr hier nachlesen.

Unseren Guide für koreanisches Essen findet ihr hier.