Sankt Petersburg lohnt sich zu jeder Jahreszeit. In den Weißen Nächten Anfang Juni, wenn es wie überall im Norden nicht wirklich dunkel wird, ist es am schönsten, aber auch am vollsten. Die strahlendsten Farben hat die Stadt im Herbst. Im Winter inspirieren ihre schneebedeckten Kirchen und Paläste dazu, in russischen Märchenträumen zu schwelgen. Selbst die graue Matschzeit nach dem Frost hat ihre Poesie und bietet Gelegenheit, wenigstens einige der unzähligen Museen zu erkunden, bevor der Frühling in die Alleen, Parks und Gärten lockt. Text: Carsten Heinke

 

Die blitzeblank geputzte Wohnung in der Tschaikowski-Straße riecht nach Korianderbrot. »Frisch aus dem Ofen«, sagt Walerija Popowa, meine Gastgeberin. Seit es die Bäckerei am Litejnij-Prospekt nicht mehr gibt, weil die Drogeriemarktkette »Das Lächeln des Regenbogens« den Laden übernahm, kauft sie ihre Backwaren direkt in der Brotfabrik neben der Metrostation Tschernischewskaja. Obwohl sie bis dorthin mehr als eine halbe Stunde läuft, ist es für die kleine weißhaarige Frau »gleich um die Ecke«.

Unterwegs mit Einheimischen in St. Petersburg

Carsten Heinke

In einem Riesenland wie dem der Russen werden Dimensionen anders wahrgenommen. Das scheint nicht zuletzt der Grund dafür zu sein, dass Kleinlichkeit für die meisten hier ein Fremdwort ist. 

 

Den Duft des Brotes genieße ich genauso wie die Aussicht. »Stünden dort die Häuser nicht, könntest du die Newa sehen«, sagt Walerija mit Blick durchs Küchenfenster auf die blechgedeckten Sankt Petersburger Dächer, die im klaren Licht der Morgensonne schimmern – rostrot die alten, die sanierten: himmelblau bis silbermatt. Dass immer mehr zum Spaß darüberlaufen, ärgert sie:

»Es ist gefährlich, illegal und die kaputten Dächer werden davon auch nicht besser.«

 

Ich teile diese Meinung, doch erzähle lieber nicht, dass ich so eine Gruppe selber schon bis auf ein Dach begleitet habe – allerdings ohne an dem halsbrecherischen Spaziergang teilzunehmen. Meistens sind es Jugendliche, die solche Touren organisieren und damit nicht schlecht verdienen. 

Flussufer von Sankt Petersburg, Russland

Stanislav Kondratiev

Frühstück bei Walerija

Walerija brüht Kaffee – wie die meisten Russen ganz orientalisch über offenem Feuer in einem Kännchen. Im Flachbildfernseher überm Kühlschrank beginnt gerade eine Sendung über Jazz, den sie so liebt. Sofort greift sie zur Fernbedienung und drückt lauter. In ihrer Jugend war »westliche Musik« verboten.

 

»Es hat sich viel geändert – zum Glück«,

meint die 85-Jährige, die in Leningrad geboren wurde, darauf stolz ist, dass es wieder Sankt Petersburg heißt und dass es immer schöner und moderner wird.

 

modernes St. Petersburg

Carsten Heinke

Ich will beim Frühstückmachen helfen und stell zwei Henkelpötte auf den Tisch. Diskret tauscht sie die alte Dame gegen das »gute Geschirr« aus. »Wir sind doch kultivierte Leute«, sagt sie und setzt zwei goldverzierte Tässchen auf die Untertassen, füllt sie feierlich mit Kaffee und bietet mir zum Süßen Waldhonig und selbstgemachte Beerenmarmelade an. 

 

Zu essen gibt es belegte Schnittchen, die auf russisch »Buterbrody« heißen. Von der ursprünglichen deutschen Bedeutung ist nur der ähnlich klingende Name geblieben. Denn die seit langem überall in Russland beliebteste Vorspeise kann neben Brötchen oder Brot aus allem Möglichen von Kaviar bis Käse bestehen – nur ausgerechnet »Buter« muss nicht unbedingt dazu gehören. 

Wo Kotlety dran steht, ist nur Hackfleisch drin

Der Fundus deutscher Wörter ist enorm im Russischen. Zu meinen Lieblingen darunter gehören »Schlagbaum« für Schranke, »Parikmacher« (von Perückenmacher) für Friseur oder »Galstuk« (von Halstuch) für Schal. Aber auch Aintopf, Akselbant, Chinterland, Knorpelwerk, Mittelschpiel, Rjuksak, Fejerwerk, Zaitgaist oder Ziferblat finde ich recht witzig. Mit besonderer Vorsicht sind dabei jene Wörter zu behandeln, die zwar gleich oder ähnlich klingen, jedoch etwas ganz anderes meinen. Wer im Restaurant etwa »Kotlety« bestellt, bekommt Klopse.

 

»Die Deutschen wie auch Niederländer, Schweizer, Briten, Italiener und Franzosen haben viel in unsere Stadt gebracht, haben mit an ihr gebaut«,

resümiert Walerija, als wir über die Geschichte reden. »Der Zar hat sie geholt – mit ihren Sprachen, ihrem Handwerk, ihrer Kunst«, sagt die studierte Architektin über Peter I., genannt der Große, der Russlands neue Hauptstadt im frühen 18. Jahrhundert mit vielen ausländischen Akteuren aus dem sumpfigen Boden an der Newamündung stampfte. »Darum ist es von Beginn an europäisch«, erklärt Walerija weiter, die persönlich wie durch ihre Familiengeschichte eng mit den Deutschen verbunden ist. 

Carsten Heinke

 

Einer ihrer Vorfahren war der Deutsch-Balte Adam Johann von Krusenstern (1770 –1846), der als Admiral der russischen Flotte für das Zarenreich die Welt umsegelte. Nicht weniger stolz ist Walerija Popowa auf Tochter Olga und deren deutschen Mann, die sich 1980 beim Studium an der Leningrader Uni kennenlernten, heirateten und mit ihrem Töchterchen in seine Heimat Leipzig zogen, wo das Ehepaar bis heute lebt. Die Enkelin wohnt in Berlin.

Täglich um zwölf grüßt ein Donnerwetter

 

Durch das Fenster dringt Kanonendonner. Wie jeden Tag um zwölf Uhr mittags wird von der nahe gelegenen Peter-und-Paul-Festung ein Schuss abgefeuert – »nur so, damit die Leute wissen, wie spät es ist«, sagt Walerija. Schon seit mehr als 200 Jahren sei das üblich.

 

Die frühbarocke Flussburg auf der Haseninsel ist ein Wahrzeichen und Teil der Silhouette von Sankt Petersburg. Weithin sichtbar ist die über 120 Meter hohe vergoldete Turmspitze der Peter-Paul-Kathedrale. Seit deren Bestehen wurden dort fast alle russischen Zaren bestattet.

Die Peter-Paul-Kathedrale in Sankt Petersburg bei Dämmerung

Kimir/ Shutterstock.com

 

Die längste Zeit der Stadtgeschichte durfte kein Gebäude höher als die Kathedrale sein. Das ist Vergangenheit. Heute mischt die Fünfmillionenmetropole in der Wolkenkratzerliga mit. Nach dem Fernsehturm (326 Meter) ragen seit 2013 das Bürohochhaus Baschnja Lider (140 Meter) und das Luxuswohnhaus »Fürst Alexander Newski« (125 Meter) in den Petersburger Himmel. Seit Anfang dieses Jahres gehört zu dieser Liste auch das nach dem Fernsehturm Ostankino in Moskau (540 Meter) höchste Gebäude ganz Europas, das im Herbst 2018 eröffnet werden soll: das 462 Meter hohe Lachta-Zentrum


Bauboom dank Superturm


Neben der Zentrale von Gasprom und weiteren Geschäfts- und Konferenzräumen soll der multifunktionale Riese am Rand der Stadt vielen öffentlichen Einrichtungen für Sport, Gesundheit, Bildung und Entertainment Platz bieten, darunter ein Planetarium, eine »Welt der Wissenschaft« für Kinder sowie ein Amphitheater für Wasser-Shows. Ein Panaromarestaurant befindet sich in 315 Meter Höhe, weitere 55 Meter darüber eine Rundum-Aussichtsplattform.

 

Doch nicht allein die Skyline von Sankt Petersburg wird durch den Superturm verändert. Die vielen tausend Menschen, die dort arbeiten und gutes Geld verdienen werden, brauchen Platz zum Wohnen und für ihre Freizeit. Am nördlichen Stadtrand und weit darüber hinaus – in den kleinen Küstenorten zwischen Finnischem Meerbusen und ausgedehnten Nadelwädern – hat der Bau des Lachta-Zentrums einen weiteren Bauboom ausgelöst. 

Ausflug ans Meer

Als ich mit Walerija Popowa auf der Meeres-Chaussee an der Baustelle vorbeifahre, sehen wir jede Menge neuer, eleganter Häuser. Zu einem Hotspot der Sankt Petersburger Schickeria scheint sich Sestroretsk zu mausern. Der kleine Kur- und Datschenort, den man auch per Bus und S-Bahn gut erreicht, ist wegen seiner windgünstigen Lage neuerdings vor allem bei Kitesurfern sehr beliebt. Zu hunderten auf einmal tummeln sie sich hier auf engstem Raum. Gute Neoprenanzüge machen sich dabei bezahlt, denn leider ist die Wasserqualität in diesem Teil der Ostsee schlecht.

Blick auf Sestroretsk bei St. Petersburg

Aleksei Kazachok/ Shutterstock.com

Die vielen Einheimischen, die trotzdem baden, sollte man sich lieber nicht als Vorbild nehmen. Walerija und ich genießen Meer und Strand beim Surfer-Gucken, Beachbar-Hopping und Spazierengehen. Den Sonnenuntergang mit Kitern nehmen wir noch mit. Danach geht es in die Stadt zurück, denn heute Nacht steht ein besonderes Konzert auf dem Programm.

Gruppe junger Musizierender

Mark Pan4Ratte

Vor den beleuchteten Palästen und hochgezogenen Brücken der Newa spielen die Sankt Petersburger Philharmoniker die Leningrader Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch

 

Auf den Uferpromenaden drängt sich das Publikum. Walerija geht die Musik sehr nahe. Sie war ein kleines Mädchen, als das Werk 1942 während der Leningrader Blockade uraufgeführt wurde. Nun freut sie sich, dass ihm Russen, Deutsche und viele andere gemeinsam lauschen.

Wer, wie, was, wo in Sankt Petersburg

Anreise. Flüge nach Sankt Petersburg Pulkowo zum Beispiel mit Lufthansa von Düsseldorf, Frankfurt und München oder mit Air Baltic (über Riga) von Berlin-Tegel, Düsseldorf, Frankfurt a. M. , Hamburg, München oder Wien. Ebenfalls ab Wien fliegt Austrian Airlines, ab Zürich Swiss. Rossija, die zweitgrößte Airline Russlands, fliegt von Berlin-Schönefeld, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Hamburg, München, Salzburg und Wien.

Einreise nach Russland. mit Reisepass, Krankenversicherungsnachweis und  Visum, das am besten spätestens vier Wochen vor der Reise zu beantragen ist (je kurzfristiger, desto teurer), Infos sowie Visaantrag finden Sie hier.

Hotels. Author Boutique Hotel (4,5 Sterne) – schönes Haus mit klassisch-eleganten Zimmern in sehr guter Lage, Wladimirski Prospekt 9 (Metro: Dostojewskaja) , DZ inkl. Frühstück mit Kaviar und Sekt ab 240 Euro.

Pjaty Ugol/Fifth Corner (3 Sterne) – kleines  modernes Haus mit 30 Zimmern, südlich des historischen Stadtkerns, DZ ab 61 Euro, Sagorodni Prospekt 13 (Metro 4: Dostojewskaja, Metro 1: Wladimirskaja)

Hotel Matisow Domik (3 Sterne) – kleines modernes Familienunternehmen mit freundlichem Service, DZ ab 48 Euro mit großem Frühstücksbuffet, Nabereschnaja Reki Prjaschki 3/1 (Metro 2: Sennaja Ploschtschad, dann Sammeltaxi K1)

Mann und Frau unterhalten sich in kleinem Café in Sankt Petersburg

Yulia Grigoryeva/ Shutterstock.com

Köstliche russische Küche

Restaurants. Zu den besten Adressen der Stadt zählt das Restaurant des Luxushotels Astoria. Sehr beliebt sind die Buffetabende »Russischer Tisch« (freitags 18–23, samstags und sonntags 12–23 Uhr) mit russischen Spezialitäten von Bliny über Borschtsch bis Kaviar inklusive Champagner, Bier und Wodka sowie nichtalkoholischer Getränke, Tee und Kaffee für 65 Euro pro Person.

Tschaika (auf dem Wasser) – Restaurant auf einem Bootssteg direkt vor der Jelagin-Insel mit Freiluftterrasse und -grill. Hervorragende russische, italienische, japanische sowie Autorenküche. Erlesene Weine empfiehlt Jegor Aleschkow, Russlands bester Sommelier 2009. Nabereschnaja Martynowa, ggü. Nr. 40 (Metro 5: Krestowski Ostrow)

Literaturnoje Café – Die ehemalige Konditorei »Wolf & Béranger« an der Ecke Newski/Moika ist ein literarisch-lukullischer Kultplatz, perfekt für eine Sahnetortenorgie in plüschiger Atmosphäre. Hier verkehrten im 19. Jahrhundert Dichter wie Puschkin und Dostojewski, traf sich zu Sowjetzeiten die Leningrader Bohème. Abends gibt es Livemusik. Newski -Prospekt 18 (Metro 5: Admiraltejskaja)

Fahrt ans Meer. Zwischen dem Finnischen Bahnhof in Sankt Petersburg und den Küstenorten am Finnischen Meerbusen wie Sestroretzk, Kurort und Repino verkehren sowohl Züge der „Elektritschka“ (S-Bahn) als auch Busse.

Reiseliteratur.  Von Autor Carsten Heinke komplett überarbeitet und aktualisiert wurde der Go Vista City Guide »Sankt Petersburg« von Pia Thauwald, erschienen bei Vista Point, 6. Auflage 2017