So ein FKK-Urlaub hatte reisen EXCLUSIV-Autor Harald Braun gerade noch gefehlt. Unser Klemmi reiste samt Gattin für zehn Tage ins größte Naturalistencamp Europas Euronat nach Frankreich. Hier lässt er die Buxen runter. Sein Fazit: Kein Körper ist besser als der andere.
Tom Waits hat einmal gesagt, wir seien alle nur Affen mit Geld und Pistolen. Lassen wir die Pistolen weg, kommt das, was ich gleich zu Beginn unseres Aufenthalts im Feriendorf Euronat zu sehen bekomme, dem schon ziemlich nahe. Das ist jedenfalls mein erster Eindruck. Wir fahren vom Eingangstor der weiträumigen Anlage in »unser« gemietetes Haus und passieren dabei einen Bouleplatz. Auf dem werfen Menschen zwischen 20 und 80 Jahren weithin leuchtende Silberkugeln auf einen goldgelben Sandplatz. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie sich alle in unterschiedlichen Formen der Nacktheit präsentieren.
Ein Hauch von nichts ist nichts
Einige tragen buchstäblich gar nichts am Leib, andere Flip-Flops oder Sandalen mit Strümpfen. Viele Hüte, Kappen und Mützen sowie Sonnenbrillen in allen Farben sind wohl eher praktisch als modische Accessoires, in einigen Fällen gilt das auch für T-Shirts oder Hemden. Nur Hosen, die trägt niemand. Ich kann nicht anders: Ich starre die Boulespieler mit offenem Mund an. Vor allem jene, die ihren unbekleideten Mittelteil mit T-Shirt, Hut und Sandalen einrahmen. Was zum Teufel?
Das Boulebühnenbild wirkt, als würde Loriot einen Sketch inszenieren. Diese beiläufige Selbstverständlichkeit, die unfreiwillige Komik und die fast anrührende Ernsthaftigkeit dieser Szenerie irritieren mich in gleichem Maße, wie sie mich amüsieren. Ich grinse albern vor mich hin und versuche, meiner Frau nicht in die Augen zu schauen. Sie hat es schließlich vorher gewusst. Hier sollen wir jetzt fast zwei Wochen verbringen, in einem Naturalistencamp mit Menschen, deren höchstes Glück es zu sein scheint, sich 24 Stunden am Tag zu entblößen. Das verlangt nach Erklärungen.
Das erste Mal Ganzkörperfreiheit!
Wir sind aus freien Stücken hier, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb: Mein Bruder und seine Frau besitzen im Feriendorf Euronat ein kleines, charmantes Häuschen. Schon die Eltern meiner Schwägerin haben hier im französischen Medoc, rund 100 Kilometer von Bordeaux entfernt, seit den 1970er-Jahren ihren Sommerurlaub verbracht. Damals hatte das noch etwas hippiesk Verwegenes, im gutbürgerlich linken Akademikermilieu jener Zeit ließ man zu jener Zeit einfach gerne die Hosen runter.
Euronat liegt in einem rund 350 Hektar großen Pinienwald an einem anderthalb Kilometer langen, elegant geschwungenen Sandstrand. Die Kulisse am Atlantischen Ozean ist schön, unbestritten, und wenn man wie meine Schwägerin hier schon seit dem Vorschulalter seine Sommerfrische verbrachte, nimmt man die ungewöhnlichen Begleitumstände der Ferienanlage vermutlich gar nicht mehr wahr. Jedenfalls sind wir Jahr für Jahr aufs Neue eingeladen worden, gemeinsam mit ihnen ein paar Tage am Atlantik zu verbringen. Jahr für Jahr haben wir dankend abgewunken. »Im Leben nicht kriegst du mich in so einen FKK-Klub«, hatte meine Frau entschieden, »ich mache mich doch nicht vor allen Leuten nackig!« Ich selbst bin in Fußballvereinen sozialisiert worden, da gehören Sprücheklopfer-Opern unter der gemeinsamen Dusche zum Ritual. Ich war der Ansicht, abgehärtet zu sein und mit Nacktheit in der Öffentlichkeit eher kein Problem zu haben. Nun.
Ein paar Worte zu Euronat
Das größte FKK-Gelände Europas wurde schon 1975 eröffnet, es ist eingeteilt wie eine kleine Welt für sich. Die unterschiedlichen Abschnitte sind nach Kontinenten benannt, die jeweiligen Straßen nach Ländern auf den entsprechenden Kontinenten. Das klingt simpel, aber da in Euronat so ziemlich alle Sträßchen und Gassen ähnlich aussehen, gehört orientierungsloses Umherschweifen auf dem Weg vom Strand zum eigenen Häuschen zum eingepreisten Konzept. Aber das ist okay, hier hat es niemand eilig.
Das Haus meiner Familie liegt in »Frankreich«, im europäischen Teil des Geländes. Am ersten Abend wagen wir uns noch nicht aus der Hütte. Während Bruder und Schwägerin wie selbstverständlich schon textilfrei vor dem Grill hantieren, drücken wir uns noch beklommen in Shorts (ich) und einer Art flattrigem Überwurf (meine Gattin) auf der Terrasse herum. Immer wieder spazieren Besucher auf dem Weg vor dem Haus vorbei. Wir registrieren erleichtert, dass nicht alle vollkommen nackt sind. Viele schon, aber einige der – meist jüngeren – Gäste tragen wenigstens Andeutungen von Textil. Gerade ausreichend, um die »Private Parts« zu verhüllen, aber auch wenig genug, um zum Beispiel im Berliner KitKatClub nicht von der Gästeliste gestrichen zu werden.
Es stimmt also, was uns vorher versichert wurde: Totaler Zwang zur plünnenlosen Existenz besteht auch in Euronat nicht. Auch wenn der Betreiber des Camps auf großen Schildern auf dem Gelände um Solidarität bittet:
»Sie sind auf einem Naturistengelände. Leben Sie nackt.«
Mach dich nackig!
Am nächsten Morgen wird es dann ernst. Es nützt ja nichts, den Moment noch weiter hinauszuzögern. Meine Frau und ich steigen aufs Fahrrad, der Hund läuft fröhlich nebenher. Einen Moment beneide ich ihn um seinen Status als schamfrei unbekleidetes Lebewesen. Auf dem Fahrrad behalte ich die Buxe noch an, doch am Strand angekommen fällt auch die letzte Bastion.
Meine Gattin hat ihren Flatterüberwurf schon um die Hüfte geschwungen und marschiert am Saum des Atlantiks neuen Horizonten entgegnen, topless und tapfer. Es braucht einige Minuten, dann segeln auch meine Shorts zu Boden. Und es passiert: nichts. Ich grinse in mich hinein. Was habe ich denn erwartet? Dass die anderen Strandbesucher spöttisch lachend auf meinen mittelalt-unspektakulären Leib weisen oder Täfelchen mit Noten hochhalten wie beim Eiskunstlaufen? Dass sich zwischen meinen Beinen ein Penis befindet, der in Form und Ausgestaltung nicht für ein Kuriositätenkabinett infrage kommt, scheint hier auch niemanden sonderlich zu überraschen. Er wird einfach nicht beachtet. Ein Berliner FKK-Pionier beschrieb in den 1920er-Jahren die Lage lakonisch:
»Es stehen nackte Menschen einander gegenüber, oder sitzen und ruhen im Grase (beziehungsweise im Liegestuhl am Pool oder am Meer). Es geschieht gar nichts.«
So ist es.
Selbstreflexion muss auch manchmal sein
Der einzige Mensch, der sich hier merkwürdig vorkommt, bin ich selbst (und vielleicht auch meine Frau, aber die lässt sich nichts anmerken). Ich mustere die entgegenkommenden Nackten eine Spur zu aufdringlich. Ich sehe Männer mit Krähenfüßen, lappigen Hintern und Hühnerbrüsten an mir vorbeidefilieren. Ältere Herren lassen rhythmisch ihre Kronjuwelen auf Kniehöhe baumeln, Spitz- und Schmerbäuche zeugen von der Freude an gutem Essen und Trinken. Ich sehe Frauen mit massigen Brüsten im Kampf mit der Schwerkraft und welche mit kaum erkennbaren Mäusefäustchen.
Und ich bin erstaunt über kuriose Körpertapeten von Ausmaßen, die weit über das ehemals angesagte Arschgeweih hinausgehen. Ich sehe perfekt austrainierte Leiber, denen man viele Stunden im Gym ansieht, und ausgeleierte Gewebewüsten, denen schon der kurze Gang ans Meer sichtbar Probleme bereitet. Nachdem ich auf diese Weise meinen ersten Vormittag am Atlantik verbringe, fällt mir auf, was mich von den anderen FKK-Freunden am Strand unterscheidet.
Ich starre die Menschen an. Und ich bewerte, was ich sehe, ich vergleiche und konkurriere ganz automatisch, weil dieser unbarmherzige Blick in einer Gesellschaft, die von gnadenloser Konkurrenz in allen Lebenslagen geprägt ist, offenbar zu meiner intuitiven Grundausstattung gehört. Und ich vergleiche mich noch zwanghaft mit all den Menschen, die mir in unverhüllter Pracht entgegenkommen. Das Erstaunliche an unserem Urlaub in Euronat war dann, wie schnell dieser unsichere und unbarmherzige Checker-Blick der ersten Stunden einer heiteren Gelassenheit wich. Meine Frau spazierte schon am zweiten Tag in aller Herrgottsfrühe mit dem Hund an den Strand, sprang ins kalte Meer und schüttelte all ihre Ängste und Vorurteile auf einmal ab: »Es interessiert hier niemanden, wie du aussiehst. Es ist allen scheißegal! Herrlich.«
Glück kann so einfach sein
Fortan sah ich mein gut gelauntes Weib in Euronat überwiegend ohne textile Ummantelung. Der unbeachtete Koffer mit ihrer Urlaubsgarderobe entwickelte sich zu einem spöttisch kommentierten Mahnmal der Sinnlosigkeit. Mir kam eine Kollegin in den Sinn, die einmal über ein Jahr hinweg immer nur ein einziges Kleid (aus hygienischen Gründen in dreifacher Ausfertigung) getragen hatte, um nicht jeden Tag Zeit darauf zu verwenden, sich ein neues Outfit überlegen zu müssen. Das ist natürlich in erster Linie ein Mix aus einem modischen und einem praktischen Problem, aber weit entfernt von der Wirkung des natürlichen Einheits-Looks in unserem Camp ist dieses Prinzip dann auch wieder nicht, wenn man einmal darüber nachdenkt.
Nach Tag zwei in Euronat beteuerten wir uns gegenseitig noch alle paar Stunden erstaunt, wie angenehm das Leben im FKK-Camp sich anfühlt, ab Tag drei musste das gar nicht mehr explizit erwähnt werden. Unser Nacktsein wurde völlig selbstverständlich. Selbst im sozialen »Dorf« des FKK-Geländes, in dem hübsche kleine Shops, Marktstände und Restaurants darauf hinwiesen, dass man hier schließlich in Frankreich war und kulinarische Köstlichkeiten auch nackten Menschen nicht vorenthalten werden sollten. Mein Blick auf die anderen Gäste der Anlage verlor jeden Zynismus und jede boshafte Bewertungsabsicht. Ich erkannte: Kein Körper ist besser als der andere!
Wenn man das einmal verstanden hat, ändert das die gesamte Perspektive auf das Prinzip FKK. Die Definition der Internationalen Naturisten Föderation hat es schon 1974 wie folgt formuliert:
»FKK hat eine ausgleichende Wirkung auf Menschen, indem sie sie von Spannungen befreit, die durch Tabus und Provokationen der heutigen Gesellschaft verursacht worden sind, und den Weg zu einer einfacheren, gesünderen und menschlicheren Lebensweise zeigt.«
Man könnte das möglicherweise für eine überschwängliche Übertreibung einer schrägen Glaubensgemeinschaft halten, schließlich tun wir ja alle nicht viel mehr, als uns bloß die Klamotten vom Leib zu reißen. Doch so unrecht haben die Pioniere der Freikörperkultur nicht. Meine Frau jedenfalls beschrieb ihre emotionale Gemengelage so: »Ich fühle mich hier so sorglos wie früher nur in den großen Ferien als Kind. So eine Freiheit und Ungezwungenheit habe ich lange nicht mehr erlebt.«
Ist das jetzt sexy, oder was?
Natürlich müssen wir auch über den Elefanten im Camp sprechen. Ist so eine Anlage wie Euronat, in der täglich Hunderte von nackten Menschen aufeinandertreffen, nicht zwangsläufig sexuell aufgeladen? Die schlichte Antwort lautet: im Prinzip nicht, nein. Im Gegenteil: Voyeurismus ist verpönt, es wird streng darauf geachtet, dass es im Camp außerhalb des privaten Rückzugsbereichs nirgendwo zur Sache geht. Tatsächlich erscheint mir allein der Gedanke, dass es sich bei den anderen Gästen der Ferienanlage um potenzielle Geschlechtspartner handelt, völlig absurd.
Der erotische Kitzel, das lasziv Geheimnisvolle einer möglichen sexuellen Begegnung fehlen an einem Ort wie Euronat vollkommen.
Darum führte es auch zu großer Heiterkeit im Zentrum des Camps, als dort am Schwarzen Brett zu lesen war, dass Mr. V und Mrs. L am 19. August 2023 aus Euronat ausgewiesen worden waren. Der Grund, ich zitiere wörtlich: »Wegen Sittlichkeitsdelikt!« Die meisten Besucher des Camps stellten sich daraufhin vermutlich nur eine Frage: »Was zum Teufel könnte das gewesen sein?«