In der Königsstadt Fès kann man islamische Hochkultur, traditionelles Handwerk und marokkanisches Alltagsleben hautnah miterleben. Die Medina ist heute nicht viel anders als vor 600 Jahren. Text: Markus Grenz
Wie eine zu groß geratene Spielzeugstadt breiten sich zu unseren Füßen die zahllosen beige-braunen Häuser aus. Bewacht von den noch gedrungenen Hügeln des Mittleren Atlas-Gebirges, wirkt die Medina – die alte Stadt – wie das Mosaik eines detailverliebten Bildhauers. Wie ineinander verschachtelt, steht hier, dicht an dicht, Gebäude an Gebäude, als hingen sie alle miteinander zusammen und als hätte es nur einen einzigen Baumeister gegeben. Von oben fällt die Orientierung auch nicht viel leichter als von unten.
Doch der Fachmann, der verliert nicht so schnell den Überblick, und unser Führer Salaheddine Lazrak ist ein Kind der Stadt Fès. Nacheinander deutet der 58-Jährige auf einige Stationen, die wir auf unserem kilometerlangen Marsch heute passiert haben. Die Minarette sind dabei seine Landmarken: das der prächtigen Medrese (religiöse Universität) Bou Inania; das strahlend weiße der 1.000 Jahre alten Kairaouine, der berühmtesten Moschee Marokkos mit einer der ältesten Universitäten der Welt; und nicht zuletzt der deutlich höhere Turm mit benachbartem grünen Pyramidendach des wichtigsten Heiligtums Marokkos, des Mausoleums von Stadterbauer Idris II.
Es ist kurz nach 18 Uhr, die Sonne verschwindet gerade langsam, und der Olivenhain nahe der südlichen Zitadelle Borj ist definitiv der beste Platz um diese Zeit: Denn dann rufen die mehr als 300 Muezzine unter uns zum Abendgebet. Salaheddine muss grinsen: »Das ist doch wohl kein schlechter Abschluss des Tages?«, fragt er.
Das ist es definitiv nicht. Doch der Anfang, der war auch nicht gerade übel. Rund neun Stunden zuvor steht Salaheddine im frisch gewaschenen Djellaba, der traditionellen Robe mit Kapuze, vor unserem Hotel. Auf dem Kopf trägt er den roten Fes, den randlosen Filzzylinder mit schwarzem Quast, der bis ins 19. Jahrhundert exklusiv in dieser Stadt gefertigt wurde. »Dieser Fremdenführer legt Wert auf die Details«, freue ich mich. Doch im Moment sind es mir derer zu viele, der aufgeschlossene Fassi, so nennen sich die Einwohner, hat augenscheinlich schon einige Kaffee über den Durst getrunken und ist ziemlich mitteilsam. Der marokkanische Kaffee mit seinen mindestens zehn Gewürzen ist so stark wie ein Espresso hierzulande. »Drittgrößte Stadt Marokkos«, höre ich bruchstückweise, und »älteste der vier Königsstädte«.
Die Medina – die größte Fußgängerpassage der Welt
Erst als wir die mittelalterliche Neustadt »El Jedid« mit dem, leider für die Öffentlichkeit verschlossenen, Königspalast und dem jüdischen Viertel hinter uns gelassen haben und auf das »Bab Boujeloud«, das schönste der neun Tore zur wirklichen Altstadt »El Bali«, zumarschieren, traue ich mich wieder ein bisschen näher an ihn heran. »Willkommen in der Medina, der größten Fußgängerpassage der Welt«, gibt der Lokalpatriot ein kleines bisschen an. Als Farbe der Stadt und des Willkommens haben die Fassi die drei Bögen mit kunstvollen blauen Kacheln gestaltet. Es geht los.
Doch vorher muss ich meine Füße vor dem Melonenkarren in Sicherheit bringen, den ein Händler in irrwitziger Geschwindigkeit mitten durch die Menge zieht. In der Altstadt sind motorisierte Fahrzeuge verboten, hier müssen Mensch und Muli noch die Muskeln strapazieren. Um uns herum kreisen die Fassi und bieten uns ihre Dienste als Führer an.
Doch damit ist es so eine Sache. Eigentlich kann man sie ganz gut gebrauchen. Schließlich soll die mittelalterliche Medina, die Ende des 9. Jahrhunderts gebaut, nach einem Erdbeben im Jahr 1522 in großen Teilen neu hochgezogen und 1981 unter den Schutz der Unesco gestellt wurde, mit ihrer Größe von rund 400 Fußballfeldern tatsächlich die weltweit größte mittelalterliche Altstadt sein. Und da kann man schon einmal in den geschätzten 9.000 Gassen verloren gehen. Zumal 80 Prozent noch privat bewohnt sind und man von außen oftmals nur Steinwände sieht. Doch man will sich auch nicht während eines Tagesausflugs in 20 Souvenirshops wiederfinden, von denen der Begleiter Provision kassiert. »Dass dies nicht passiert, dafür hat der Staat die professionellen Führer mit Extra-Ausweisen versehen«, erklärt mir Salaheddine und deutet auf den seinen.
Ich merke schnell, warum ich über seine Anwesenheit froh sein kann. Sobald wir die Medina betreten haben, umschließt uns die typische Basar-Atmosphäre, und es wird unübersichtlich. Schnell verengt sich der breite Eingangsbereich in eine schmale Gasse, und um uns herum wuseln die Passanten, Verkäufer, Zuträger mit schweren Lasten auf dem Rücken, Bollerwagen-Kapitäne, Geschäftsleute und herumspringende Kinder. Immer wieder höre ich »Barrack, Barrack« – »Vorsicht, Vorsicht«.
Am Wegesrand folgt Lebensmittelstand auf Lebensmittelstand, bunte Süßigkeiten wechseln sich ab mit knackigem Obst und noch frischeren, weil lebendigen Hühnern und Tauben. Sauber abgesägte Schweinebeine baumeln an Kordeln und warten genauso auf Käufer wie strahlend glasierte Feigenberge. Wie so oft in solchen Situationen weiß ich nicht, worauf ich den Blick zuerst richten soll, und marschiere fast am Ziel vorbei. »Stopp«, ruft mir unser zertifizierter Führer hinterher und deutet grinsend auf eine fein geschnitzte Tür in einer ansonsten unauffälligen Außenwand.
Keine Frage: Fès ist eine Kulturhochburg
Ich folge Salaheddine durch den Einlass, und schon liegt die geschäftige Welt hinter mir. Wie der Innenhof eines Palastes offenbart sich mir die Medrese Bou Inania, gebaut zwischen 1350 und 1355. Sie ist eine von neun Lehranstalten in der Stadt, nicht umsonst nennt man Fès das »Athen Marokkos«. »Fès ist definitiv die kulturelle Hauptstadt des Landes«, unterstreicht der Fremdenführer im Innenhof des einzigen sakralen Gebäudes der Stadt, das kein Andersgläubiger betreten darf. Mehr als 15 Meter hoch reichen die kunstvollen Verzierungen aus Keramik, Stuck und Holz der religiösen Universität, unterbrochen von bogenförmigen Einlässen. Inmitten des Hofes darf der Brunnen für die religiösen Waschungen nicht fehlen, umschlossen von weitläufigem Marmor. Die Lehranstalt ist ein Paradebeispiel des andalusischen Einflusses, der der Stadt seit dem späten Mittelalter zusätzlich den Stempel aufgedrückt hat.
Fès ist tatsächlich eine Kulturhochburg, denke ich mir und bekomme kurze Zeit später das nächste Highlight geliefert. Rund 15 Minuten marschieren wir durch die vollen Gassen und im Zickzack vorbei an Nippes-Ständen, den allseits präsenten und glänzend polierten silbernen Teekesseln, Händlern der traditionellen Babuschen, den vorne spitz zulaufenden Hausschuhen, und allerhand Bekleidungsshops. Plötzlich stehen wir vor der Muli-Grenze und dem religiösen Zentrum der Stadt.
Ein massiver Holzbalken versperrt den (unreinen) Tragetieren den Zutritt und lässt nur Platz für zweibeinige Besucher. Noch einmal hat der Betrieb auf dem Pflaster erheblich zugenommen, wir nähern uns dem Mausoleum von Herrscher Idris II., heiliger Mann des Islam und als Sohn des Stadtgründers maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung des alten Fès. Seit Jahrhunderten zieht dieses wichtigste Heiligtum Marokkos Pilger auf ihrer Suche nach Baraka (Segenskraft) an.
Andersgläubigen bleibt der Zutritt verwehrt. Hier geht es eng zu, Nougatverkäufer bieten süße Opfergaben an, in meine Nase strömt der Geruch von Weihrauch, mit dem die Grabmalbesucher ihre Gewänder »lüften«. Neben dem geschäftigen Ein- und Ausgang quetsche ich mich neben ein Mädchen, das hier auf einem kleinen Tischchen Wasser verkauft, und werfe einen Blick ins fast schon strahlend leuchtende Innenleben. Gekrönt von einem Holzbaldachin mit Kupfer und Gold, befindet sich das Grab in einer gewaltigen Kuppelhalle im rückwärtigen Teil des Komplexes.
Lange halte ich mich neben meiner jungen Wasserverkäuferin nicht. Das Plätzchen neben dem schmalen Eingang ist heiß begehrt, die Gasse ziemlich geschäftig. Salaheddine lässt sich von dem Durcheinander nicht beeindrucken und winkt mir zu. Es geht weiter, nur ein paar Meter, und schon steht wieder ein Superlativ an, um das sich die Altstadt herum entwickelt hat. Die Karaouine-Moschee, gegründet 857 von einer frommen Dame, die nach langen Irrwegen aus der tunesischen Stadt gleichen Namens nach Fès kam, ist wieder so ein nach innen gekehrter Raum. Von außen sieht man nur glatte Steinwände.
Wieder bleibt mir nur die Rolle des Zaungastes, aber am Tor zum gewaltigen Innenhof geht es erheblich weniger geschäftig zu als am Mausoleum des Staatsmitbegründers Idris II. Entspannt lümmeln sich einige Besucher auf Steinquadern oder Teppichen, kleine Kinder springen umher. Bis zu 20 000 Gläubige sollen in den verwinkelten Bau, der immer wieder erweitert wurde, hineinpassen. Laut Guiness-Buch ist die angeschlossene Universität die älteste Lehranstalt auf der Welt, die noch immer in Betrieb ist. Doch dies »Hochglanz-Fès«, obwohl der Glanz eher im Versteckten liegt, ist nur eine Seite der alten Königsstadt. Salaheddine führt uns weiter ins Fès der Fassi.
Bloß nicht verlaufen in der Medina
Schnell verliere ich den Überblick, nachdem uns der Fremdenführer durch unzählige schmale Gassen geführt hat. Hat man die Hauptwege verlassen, ist die Medina von Fès ein unüberschaubares Labyrinth, in dem es wenig Orientierungspunkte, dafür aber ursprüngliches Leben gibt. In den Gassen kicken Kinder mit einem alten Fußball, aus einem offenen Fenster tönt mir Flötenspiel entgegen. In einer geschätzt nur einen Meter breiten Gasse muss ich mich an einer Dame vorbeiquetschen, die durch ihre vielen Einkaufstaschen fast doppelt so breit ist.
Doch bei so viel Idylle und Mittelalterflair sollte man nicht zu romantisch werden. Der Fluss, der verschiedene Viertel durchzieht, ist nicht gerade glasklar. Hygiene und Infrastruktur sind problematisch, die Angst vor Feuer allgegenwärtig. Viele Menschen sind bitterarm. Und nicht zuletzt leben in ganz Fès durchschnittlich 12 000 Menschen auf einem Quadratkilometer, in der Medina werden es erheblich mehr sein. Zum Vergleich: In Deutschlands am dichtesten besiedelter Stadt, in München, sind es rund 4.500 je Quadratkilometer. »Die Medina von Fès ist eben echt, hier wird gelebt und gearbeitet, anders als im herausgeputzten Marrakesch«, erläutert mein einheimischer Fremdenführer.
Er will uns zum Abschluss noch einmal eine weitere Seite seiner Stadt zeigen. Denn zur Kulturhochburg Fès gehört unverzichtbar das Handwerk. »Fast 80 Prozent der Menschen in der Medina leben davon«, unterstreicht Salaheddine die Authentizität der Stadt, während er uns wieder durch zahlreiche Gässchen ins Zentrum der Altstadt zurückführt. Leder, Keramik und Metall sind die Hauptbranchen, und von Letzterer findet man einen kleinen pittoresken Ausschnitt auf dem Platz Seffarine.
Platz ist für dieses kleine Eckchen eigentlich schon zu viel gesagt. Auf ein paar Treppen hämmern Arbeiter ein auf rot glänzende, tellergroße Tabletts und lange wabernde Scheiben aus Kupfer. In den Geschäften drumherum hängen in Reih und Glied Töpfe, Lampen oder Krüge aus dem gleichen Material. Es ist laut und geschäftig, aber mit Sicherheit einer meiner Lieblingsorte des Tages. Doch während ich noch auf einer Stufe sitze und mir das Treiben ansehe, drängt Salaheddine schon auf den Aufbruch. Er will uns noch ein ziemlich anrüchiges Gewerbe zeigen.
Ein Pfefferminzblättchen gegen den Gestank
Und das stinkt so sehr, dass man uns beim Eintritt in die größte und älteste Gerberei und Färberei in Marokko einen Zweig mit Pfefferminzblättern reicht, den man sich unter die Nase halten kann. Nicht umsonst hat man das Gerberviertel etwas entfernt von den Einkaufspassagen platziert, denn das Bearbeiten der Tierhäute ist keine Wohltat für feine Nasen. Treppe auf Treppe steigen wir auf in dem riesigen Komplex der Tannerie Chouara, der aus einem ganzen Häuserblock besteht. Nachdem wir den x-ten Verkaufsraum durchquert haben, landen wir endlich auf der Außenterrasse des Betriebes, an dem seit dem 14. Jahrhundert verschiedene Familien beteiligt sind und der nach eigenen Aussagen in die ganze Welt exportiert. In der Tat stockt auch mir kurz der Atem, und ich schnüffele kurz an der Minze. Doch der Ausblick lässt mich den Gestank schnell vergessen.
Macht die Medina vom Boden aus durchgängig einen gut erhaltenen Eindruck, so sieht es von hier oben aus, als sei man im tiefsten Indien gelandet. Wie im Mittelalter walgen die Arbeiter in zahllosen kleinen Gruben die Kamel-, Ziegen- oder Kuhhäute in einer Suppe aus Taubenkot und Kalk zum Bleichen. Neben der weißen Bienenwabenlandschaft erstreckt sich eine farbige mit roter, weißer, brauner oder blauer Brühe. Glaubt man den Verantwortlichen, dann wird hier nur natürlich mit Pflanzen wie Mohn (rot), Indigo (blau) oder Safran (gelb) gefärbt. Auf den Zwischen- und Vordächern des stark heruntergekommenen Häuserblocks liegen überall Häute zum Trocknen. »Fès ist eben Marokko pur«, kommentiert Salaheddine trocken. Er will schon wieder weiter, hat nämlich noch ein Ass im Ärmel seines weiten Gewandes. Bald ist es 18 Uhr, und die Muezzine rufen zum Abendgebet. Er kenne da so eine besondere Stelle.
Anreise. Von Frankfurt-Hahn aus kann man mit Ryanair montags und freitags direkt nach Fès fliegen. Ebenfalls bietet Ryanair drei Flüge in der Woche, dienstags, donnerstags und samstags, von Düsseldorf-Weeze an.
Infos. Informationen gibt es beim Staatlichen Marokkanischen Fremdenverkehrsamt, Graf-Adolf-Straße 59, 40210 Düsseldorf. Kontakt gibt es unter Tel.: 0211 3705 51 52, Infos im Internet unter:
Außerdem befindet sich das Fremdenverkehrsbüro der Region Fès-Boulemane in Fès, Immeuble Bennani, Place de la Résistance, Boulevard Moulay Youssef, Tel.: +212(0)535 62 34 60.
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