Die Insel im Westpazifik gilt als eines der am meisten unterschätzten Ziele Asiens.  Autorin Inna Hemme hat sich darauf eingestellt, in Taiwan vor allem mit Hochhäusern und Hightech konfrontiert zu werden. Bekommen hat sie viel Natur, eine erstaunliche Portion Gelassenheit und die leckersten Dumplings ihres Lebens. Text: Inna Hemme

Harmonisch beginnt der Tag …

Es ist sechs Uhr morgens in Taiwans Hauptstadt Taipeh, noch vor dem ersten Kaffee und zum Glück noch vor dem ersten Blick in den Spiegel. Die Sonne rollt sich langsam über die Dächer der Nationalen Chiang-Kai-shek-Gedächtnishalle und zieht ihren Schatten quer über die Parkanlage. Wir stehen mit einem kleinen CD-Spieler davor und machen … Tai-Chi. Beziehungsweise üben sich die anderen in Tai-Chi, und ich versuche, ihre Bewegungen in der letzten Reihe zu kopieren. Das chinesische Schattenboxen ist eine Art Nationalsport, überall in der Stadt treffen sich zum Sonnenaufgang Menschengruppen, um die ineinander fließenden Bewegungsabläufe gemeinsam zu üben.

Inna Hemme

Jeder kann mitmachen, als Tourist stellt man sich einfach dazu. Der Kampf verläuft in der Regel berührungsfrei, es geht vielmehr um Meditation und innere Balance. Man lässt die Gedanken schweifen und die negativen Emotionen los … Soweit zur Theorie. Ich dagegen fühle mich eher wie Uma Thurman in »Kill Bill« und muss zwangsläufig an alle Jungs denken, die in der Oberstufe nicht mit mir ausgehen wollten. Fingerkuppen zusammen, Arm anspannen, mit dem Bein ausholen, na wartet! »Du wirst schon noch deine Harmonie finden«, lacht meine Reiseleiterin Michele. »In Taiwan geht es gar nicht anders.« Ich möchte ihr glauben. Und wundere mich weiterhin über den alten CD-Rekorder.

Inna Hemme

Die Süßkartoffel-Insel kann mehr als nur Hightech

Denn hört man Taiwan, denkt man meist zuerst an das Produktionsland Taiwan. Auch ich hatte es immer mit »Made in« davor im Kopf. Wenn irgendwo alles Hightech und zugebaut ist, dann wohl hier. Dabei hat die 130 Kilometer vor der chinesischen Ostküste und nördlich der Philippinen gelegene Insel viel mehr auf dem Kasten als Gigabytes und Hardware. Auf der 394 Kilometer langen und 144 Kilometer breiten Insel in Form einer Süßkartoffel wechseln sich Wolkenkratzer mit buddhistischen Tempeln ab, waghalsige Bergmassive mit idyllischen Küstenabschnitten, kühle Wasserfälle mit vulkanischen Hot Pots. Und das von Ureinwohnern dünn besiedelte Zentralmassiv mit den Hipstern in den Millionenmetropolen wie Taipeh oder Taichung.

Obwohl der Tourismus kontinuierlich wächst, gilt Taiwan immer noch als eines der am meisten unterschätzten Reiseziele Asiens. Nicht zuletzt wegen seiner Abgeschiedenheit und nicht abschließend geklärter politischer Lage. Zwar ist Taiwan (23,5 Millionen Einwohner auf 36.179 Quadratkilometern) ein eigenständiger, demokratischer Staat, wird aber nur von 23 Ländern weltweit diplomatisch anerkannt. Offiziell heißt die Insel Republik China, die Beziehung zur Volksrepublik China ist mal mehr, mal weniger angespannt. China sieht in Taiwan nur eine widerspenstige Provinz. Taiwan selbst sieht sich aber als eine komprimierte Ausgabe der schönsten Seiten Asiens auf kleinster Fläche.

Inna Hemme

In Rekordgeschwindigkeit über Taipeh

In der Hauptstadt Taipeh heißt die erste Pflichtanlaufstelle der Wolkenkratzer Taipei 101 (man sagt einfach: One-O-One). Das Markenzeichen der Stadt, das einer Bambusstange ähnelt, wurde einfach nach der Anzahl seiner Stockwerke benannt. Bis 2007 war es mit 508 Metern das höchste Gebäude der Welt – dann wurde das Burj Khalifa in Dubai gebaut. Einen Rekord hält das Gebäude aber: Der Lift schießt mit 16,8 Metern pro Sekunde in die Höhe und ist der schnellste der Welt. Die Fahrt im Ferrari unter den Aufzügen dauert nur 37 Sekunden. Oben stehe ich gleich bei der nächsten Sehenswürdigkeit von Taipeh, einer 660 Tonnen schweren Pendelkugel aus Stahl. »Hat die auch was mit Harmonie zu tun?«, frage ich Michele. »Ein wenig schon. Sie ist dafür da, um bei Erdbeben den Erschütterungen entgegenzupendeln. Damit das One-O-One nicht umkippt.«

Dumplings und Tee vom Feinsten

Für die besten Dumplings (gedämpfte und gebratene Teigtaschen) von Taiwan geht es mit dem Aufzug wieder hinunter zu der anliegenden Mall. Das dauert länger als hoch, da der Aufzug gebremst werden muss. Im Erdgeschoss der Mall befindet sich die berühmteste Filiale vom »Din Tai Fung Dumpling House«. Vor diesem Schnellrestaurant mit einem Michelin-Stern stehen längere Schlangen als vor den Cronut-Läden in New York. Auch Tom Cruise ist Fan. Natürlich gibt es in Taiwan gleich mehrere Anlaufstellen für Foodies. So ist die Yong Kang Street zum Beispiel berühmt für ihr geraspeltes Mango-Schabeis, der Shihlin-Nachtmarkt für Ausgefallenes wie Stinky Tofu und die Dihua Street für hippe Fusionsküche inmitten traditioneller Märkte, wie zum Beispiel die aktuell heißeste Adresse »Fleisch«.

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Für die beste Tasse fährt man mit einer Seilbahn ins Tee-Anbaugebiet von Maokong hinauf. Hier servieren Teehäuser mit dem Blick auf ganz Taipeh die berühmte Sorte Oolong, den halb fermentierten Tee (geschmacklich zwischen Grün- und Schwarztee) mit einem gewaltigen Wachmacher-Potenzial: Bis zu 2.000 Euro verlangen die Bauern pro Kilo des edlen Tees. Vielleicht wird man auch deshalb so wach. Trotzdem lohnt sich das Warten in der Schlange des Din Tai Fung Dumpling House. Denn der Stern ist verdient, bessere habe ich noch nie gegessen. Als wir endlich drin sind, beobachte ich zunächst hinter der großen Glasscheibe, wie etwa 20 Männer – angezogen wie in einem Physiklabor – akribisch die Teigtaschen formen. Ich winke. Keiner winkt zurück. Mit Dumplings ist eben nicht zu scherzen.

Oh, mein Gott!

Ebenfalls nicht zu scherzen ist mit den taiwanischen Göttern. Es gibt auf der Insel mehr als 15.000 Tempel und für alles und jeden einen Gott. Die größte Auswahl an Göttern und somit die höchste Wahrscheinlichkeit, dass die Wünsche in Erfüllung gehen, bietet der Tempel Longshan aus dem 18. Jahrhundert im Nordwesten von Taipeh. Hier kann man 100 Göttinnen und Götter um Hilfe bitten, es gibt sogar einen Taxifahrer-Gott. Ganz so einfach ist es doch nicht. »Du musst erst um Erlaubnis fragen«, sagt Michele und drückt mir zwei halbmondförmige Hölzer in die Hand. Ich soll stillschweigend mein Anliegen vortragen und die Holzstücke so lange auf den Boden werfen, bis eine auf der Vorder- und eine auf der Rückseite landet. Erst dann darf ich die Nummer meiner Antwort ziehen. Nach vier Würfen klappt es endlich, ich nehme einen Zettel, den ich nicht lesen kann.

Inna Hemme

»Was hat die Gottheit geantwortet?«, frage ich Michele. »Sie sagt, manche Dinge in deinem Leben sind nicht so, wie sie scheinen.« »Ihr Ernst?«, rege ich mich auf. »Das trifft doch auf jeden zu. Und steht in jedem schlechten Horoskop. Ohne dass ich vorher um Erlaubnis fragen muss!« »Morgen um sechs ist wieder eine Tai-Chi-Stunde«, sagt Michele und schaut mich bedeutsam an.

WhatsApp-Grün und Facebook-Blau

Dazu kommt es zum Glück nicht, denn wir fahren bereits vor Sonnenaufgang Richtung Süden in die Taroko-Schlucht. »Dieser Ort ist so mystisch, da kommt die Harmonie von ganz alleine«, verspricht Mi-
chele. Zunächst fahren wir etwa zwei Stunden lang an der steilen Küste des Pazifischen Ozeans, das Wasser schimmert unerwartet blau – man könnte meinen, am kalifornischen Big Sur zu sein. Dann wird die Landschaft schroffer, die Luft kühler. Über die sich wie Drachenschwänze schlängelnden Passstraßen nähern wir uns langsam dem 92.000 Hektar großen Taroko-Nationalpark, einem von acht Nationalparks in Taiwan. Sein Herzstück, die Taroko-Schlucht, wurde vom Fluss Liwu in die bis zu 700 Meter hohen Marmor- und Granitberge geschliffen. Pagoden und Tempel klammern sich in die vom Nebel eingehüllten Berge, dünne Hängebrücken überspannen die fast schneeweißen Klippen wie Spinnweben, von allen Seiten plätschern Wasserfälle. Wir lassen den Wagen stehen und gehen den beliebten Shakadang Trail.

Inna Hemme

»Der Name Taroko bedeutet ›großartig und schön‹ auf Truku, das ist die Sprache des Stammes der Ureinwohner der Gegend«, erklärt Michele. Taroko ist der älteste Nationalpark in Taiwan, er wurde schon 1937 während der japanischen Besatzung errichtet. Wir biegen in immer neue Marmorschluchten ab, das Wasser schimmert mal smaragdgrün, mal türkisblau. Oder ist es eher WhatsApp-Grün und Facebook-Blau?, denke ich und ertappe mich dabei, erste Entzugserscheinungen zu haben. Denn Handyempfang gibt es in der Schlucht kaum, und so spazieren wir drei Stunden schweigend durch diese Marmorschatzkiste. So habe ich mir Taiwan wirklich nicht vorgestellt. Als ich abends draußen im Hot Pot des Silks Place Hotels sitze – inmitten der Berge und Sterne –, denke ich, dass Michele recht hatte. Hier kann man gar nicht anders, als tiefenentspannt zu sein.

Flitterwochen-Gefühle

Fast fünf Stunden dauert die Autofahrt am nächsten Tag zum Sonne-Mond-See, mit acht Quadratkilometern das größte Binnengewässer Taiwans. Der Name des Sees kommt von der Form des Ufers, die im Osten der Sonne und im Westen einer Mondsichel ähneln soll. Vielleicht sieht man sie von der 46 Meter hohen Tse-en-Pagode besser? Einmal ganz oben angekommen, hat man tatsächlich eine grandiose Aussicht über den ganzen See und die umliegenden Berge. Eine Sonne und einen Mond erkenne ich dennoch nicht. Für viele Taiwaner ist der See der Anlaufpunkt für romantische Fotoshootings, Bootsfahrten und Spaziergänge. Manche verbringen sogar ihren Honeymoon hier – in durchdesignten Spa-Hotels wie The Lalu mit seinem über dem See hängenden Infinity-Pool.

Inna Hemme

Niemand kommt aber am riesigen Wenwu-Tempel vorbei, der Konfuzius und einem Kriegsgott gewidmet ist. Auch hier werfen die Menschen hastig Holzstücke auf den Boden, um die Götter nach ihrer Zukunft zu fragen. Ich könnte dagegen gelassener nicht sein und bewundere lieber die orange leuchtenden Dächer. »Na, noch einen Versuch?«, fragt Michele. »Ne, ne. Ich weiß schon: Die Dinge in meinem Leben sind nicht so, wie sie erscheinen. Ich habe Hightech erwartet und Harmonie made in Taiwan bekommen.«

 

Flug. Mit China Airlines von Frankfurt a. M. direkt in Taiwans Hauptstadt Taipeh ab € 670 hin und zurück.

Visum. Für deutsche Staatsbürger nicht erforderlich.

Übernachten. In Taipeh im klassischen Palais de Chine ab € 150 p. P. im DZ.
Im stylischen W Hotel ab € 200 p. P. im DZ.
Im Mandarin Oriental mit dem Blick auf One-O-One ab € 300 p. P. im DZ.
In der Taroko-Schlucht im Silks Place Taroko ab € 150 p. P. im DZ.
Am Sonne-Mond-See im zentralen Lealea Garden Hotel ab € 125 p. P. im DZ.
Oder im The Lalu mit Infinity-Pools über dem See ab € 215 p. P.

Währung. 1 Euro = 33 New Taiwan Dollar

Beste Reisezeit. März bis Mai sowie Oktober bis Dezember. Im Sommer wird es schwül und heiß.

Info. www.taiwantourismus.de

Nur kurz in Taipeh? Dann lesen Sie unseren Artikel »24 Stunden in Taipeh«.

Noch mehr zu Taiwans Nachtmärkten gibt es hier.