Unser Redakteur Konrad ist normalerweise nicht so der Sonnenanbeter. Da das Frühjahr zu Hause aber sogar ihm zu nass und kalt war, ist er in den italienischen, sonnengeküssten Teil der Schweiz gefahren: Ins Tessin, an den immer blauen Luganer See.
Manchmal ist so ein kleines bisschen Häme ja okay. Unter guten Freunden. Zum Beispiel, wenn man wie ich gerade schon seinen zweiten Cappuccino in einem schnuckeligen Café am Luganer See schlürft und sich dabei die südalpine Sonne auf den Pelz brennen lässt. Während die Daheimgebliebenen über mieses Aprilwetter klagen. Tja. Mal ist man der Hund, und mal der Baum.
Der Sonne hinterher ins Tessin
Ich bin bei Weitem nicht der Einzige, der vor dem schlechten Wetter durch den Gotthardtunnel geflohen ist. Als ich in Lugano, der größten Stadt am Luganer See, ankomme und einen ersten Gang durch die verwinkelten Gässchen mache, merke ich schnell: Die Stadt ist voll mit Deutschschweizern. Das Tessin gilt auch als Sonnenstube der Schweiz und wenn in den nördlichen Kantonen schlechtes Wetter herrscht, strömen die Eidgenossen in Scharen Richtung Süden.

Konrad Bender
Lugano: Vom Fischerörtchen zum Wohnsitz der Reichen und Schönen
So herrscht also reges Treiben in diesem ehemaligen Fischerörtchen, das heute ein bildhübscher Zweitwohnsitz für die Reichen und Schönen ist. Von der eher einfachen Vergangenheit merkt man heute nicht mehr viel. Prächtige Jahrhundertwendebauten mit farbenfrohen Fassaden zieren die Straßen, in den Laubengängen reihen sich Luxusgeschäfte aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Und als ich schließlich an der Uferpromenade ankomme, sehe ich gleich mehrere Anleger, an denen kleinere und größere Sport- und Segelboote sanft auf dem Wasser wiegen. Lugano wäre der perfekte Drehort für einen James-Bond-Film.
Wie es dazu gekommen ist, das erklärt mir die Gästeführerin Letizia Bettoli. »Der große Wandel kam im 19. Jahrhundert, vor allem mit der Fertigstellung des Gotthardtunnels 1880.« Zwar gehört das Tessin bereits seit 1503 zur Eidgenossenschaft, zunächst als Vogtei und seit 1803 dann als ebenbürtiger Kanton. Die Nähe zu Italien und der italienischen Kultur ist aber immer noch allgegenwärtig. Und das schätzten und schätzen eben auch die nördlichen Eidgenossen, sodass sich Lugano durch die bessere Anbindung von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zum Zentrum des Tessiner Tourismus entwickelte.
»Heute hört man im Sommer fast nur Deutsch«
lacht Letizia. Tatsächlich ist das Tessin nur einer von zwei Kantonen, in denen Italienisch Amtssprache ist.
Die historische Kirche Santa Maria degli Angioli
In der Entwicklung zur Tourismushochburg wurde um die Jahrhundertwende auch der Großteil der Altstadt im zeitgenössischen Stil umgestaltet. Einige Überbleibsel findet man aber noch in einigen Ecken der Stadt. So etwa die von außen unscheinbare Kirche Santa Maria degli Angioli direkt an der Uferpromenade. Als ich eintrete und meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, erblicke ich eine gigantische Kreuzigungsszene, fast zehn Meter in der Breite, mit mehr als 100 Figuren. Gemalt wurde das imposante Fresko von Bernardino Luini, einem Schüler Leonardo da Vincis. Nicht nur ist es aus sich heraus ein sehenswerter Kunstschatz, sondern auch das älteste Renaissancefresko der Schweiz. Ich merke: Lugano hat auch innere Werte.

Konrad Bender
Die entdecke ich auch, als ich mich abends in der Stadt herumtreibe. In den warmen Monaten wird jeden Donnerstagabend in den Bars, Bistros und Restaurants der Stadt der Apéro zelebriert. Terrassen und Innenräume sind gefüllt mit Einheimischen und Touristen gleichermaßen. Auch bei der Schweizer Variante des Aperitifs trinkt man gerne Wein und im Tessin ist man besonders stolz auf die heimischen Tropfen. Vorrangig Merlot. Den gibt es, wie ich mit Erstaunen feststelle, auch als Weißwein.
Morcote: Das schönste Dorf der Schweiz
Um herauszunfiden, wie dieses Wunder in Flaschenform zustande kommt, fahre ich in das Dorf Morcote. Das wurde 2016 zum schönsten Dorf der Schweiz gewählt. Völlig zu Recht, merke ich schnell. Die vielen kleinen Häuser, die sich am südlichen Fuß des Monte Arbòstora den Hang hinauf aneinanderschmiegen, sehen aus wie gemalt.
Gemeinsam mit der kleinen Barockkirche und der alten Burg weit über dem Ort bilden sie ein Postkartenmotiv, bei dessen Anblick jedem Romantiker das Herz aus der Brust springt.

Henrique Ferreira
Rund um die Burg, dem Castello di Morcote, betreibt Gaby Gianini seit mehr als 20 Jahren eine Bio-Winzerei. Die Tochter eines Tessiners und einer Deutschen hat das Weingut von ihrem Großvater übernommen und über die Jahre mit Erfolg ausgebaut. »Wir waren die Ersten, die im Tessin nach Bio-Maßstäben angebaut haben«, erzählt Gaby. »Heute arbeiten wir seit drei Jahren biodynamisch. Unsere besten Mitarbeiter sind unsere Regenwürmer.«
Bio-Wein aus dem Tessin
»Wie aber wird denn jetzt aus der dunklen Rebe ein weißer Merlot?« Das erklärt mir Mitarbeiterin Kate in den heiligen Hallen des Weinguts, der Kelterei. »Was dem Merlot seine sonst charakteristische Farbe gibt, sind die Häute der einzelnen Trauben. Um zu verhindern, dass sie mit in den Saft gelangen, müssen wir sie so sanft wie möglich pressen.« Und so gelangt dann zwar der Saft, nicht aber die Farbe in den zu gärenden Saft. Der Merlot wird weiß. Wieder was gelernt. Der Wein eignet sich hervorragend als Mitbringsel, denn die Schweizer exportieren gerade einmal zwei Prozent ihres Weins ins Ausland. Wer sich für den Herstellungsprozess interessiert, kann sich auf eine geführte Tour durch die Weinberge und das Weingut machen – Verkostung natürlich inklusive.

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2019 haben Gaby und ihr Team sogar ein eigenes Boutiquehotel im Dorf eröffnet. In dem ehemaligen Klostergebäude war zeitweise auch eine Architekturschule untergebracht. Das sieht man am eleganten Interieur heute noch. Die verschiedenen Stile harmonieren hervorragend miteinander, ob nun hölzerne Kassettendecke, moderne Stahl-Glas-Treppe oder überraschend gut gelungener Nacktbetonanbau. Nur zwölf Zimmer finden in dem historischen Bau Platz, die aber sind mit Liebe zum Detail eingerichtet. Ich checke hier zwar nicht ein, Architektur ist aber das richtige Stichwort für meinen nächsten Ausflug.
Hoch hinaus: Auf den Gipfel des Monte Generoso
Denn nun geht es für mich hoch hinaus. In Capolago, am südlichsten Zipfel des Luganer Sees, nehme ich die Zahnradbahn hinauf zum Gipfel des Monte Generoso. Knapp 40 Minuten dauert die gemütliche Fahrt hinauf, aus den Boxen klingt leiser Italoschlager und vor jedem Tunnel wird laut das Horn geblasen. Da kommt Stimmung auf. Schon aus der Bahn heraus reichen sich die Traumansichten die Klinke in die Hand. Doch das ist alles nichts gegen das, was der Gipfel bereithält.
Oben angekommen sehe ich beim Ausstieg gleich, was von unten noch wie ein auf dem Gipfel gelandetes, fremdartiges Raumschiff aussah: Die »Fiore di pietra«, die Steinblume vom Tessiner Stararchitekten Mario Botta. Tatsächlich erhebt sich der massive Bau wie eine steinerne Knospe, nur knapp unter dem eigentlichen Gipfel des Monte Generoso, und prägt das Panorama von hier oben noch mehr als beim Blick unten aus dem Tal.

Konrad Bender
Die Geschichte des Steinblumen-Baus
Der außergewöhnliche Bau wurde natürlich nicht nur aus Jux und Tollerei errichtet. In den Alpen hat es Tradition, dass auf einem Gipfel auch ein Gasthaus betrieben wird. Doch die alte Hütte auf dem Monte Generoso war Anfang des 21. Jahrhunderts deutlich in die Jahre gekommen, sodass die Betreibergenossenschaft der Bergbahn beschloss, dem berühmten Sohn der Region den Auftrag für ein einzigartiges Wahrzeichen zu erteilen. 2017 wurde die »Fiore di pietra« eingeweiht. Der Bau beherbergt ein Restaurant, ein kleines Infozentrum zur Geschichte der Bauarbeiten und eine Dachterrasse. Für private Veranstaltungen und sogar Hochzeiten steht ein eigener Saal zur Verfügung.
Ich mache mich die restlichen gut 100 Meter hinauf bis zum Gipfel. Von hier, in 1.700 Metern Höhe, genieße ich einen wahrhaftig atemberaubenden Blick auf das Tessin. Ich sehe den strahlend blauen Luganer See, kann den Lago Maggiore in der Ferne erahnen und da, schüchtern hinter ein paar Wolken, lugt sogar das Matterhorn hervor. Das erinnert mich daran, dass ich morgen die Heimfahrt Richtung Norden antrete, zurück ins kalte, nasse Deutschland. Doch heute genieße ich noch die wärmenden Strahlen hier in der Sonnenstube der Schweiz.
Mehr Infos zum Tessin
Weitere Informationen zum Tessin beim Tourismusbüro.
Führungen und Weinverkostungen im Castello di Morcote sind auf der Webseite buchbar.
Hier findet ihr mehr Infos zum Boutiquehotel Relais Castello di Morcote.
Tickets für die Zahnradbahn zum Monte Generoso sowie Informationen zur Gastronomie und dem Veranstaltungsprogramm in der Fiore di pietra gibt es hier.

Konrad Bender