Das kleine Land Armenien hält viele Überraschungen bereit: landschaftlich erstaunliche Abwechslung mit vielen Bergen, jahrtausendealte Geschichte, eine quirlige Hauptstadt, köstliches Essen und unfassbar freundliche Menschen. Redakteurin Marie Tysiak war auf den Yerevan Wine Days zu Gast – wo die Menschen ihr einen tiefen Einblick in ihr eindrucksvolles Land im Südkaukasus gewährten.
Die Moskovyan-Straße bebt. Die Bürgersteige sind gesäumt von weißen, offenen Pavillons aus denen Angestellte der verschiedenen Weingüter des Landes im Akkord der feiernden Masse auf der Straße die edelsten lokalen Tropfen einschenken. Der laue Sommerabend wird erhellt durch Lichterketten, die über das Geschehen gespannt sind. Von einer der vielen Bühnen schallt der Sound einer armenischen Folklore-Rockband. Eine Drohne schwebt vorbei und versucht, diese feierliche, unbeschwerte Atmosphäre einzufangen.
Ich befinde mich in Jerewan, der Hauptstadt von Armenien, südlich der bergigen Kaukasusregion zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer. Heute hat das Land etwa die Landesfläche von Brandenburg, im Norden der große Bruder Georgien, im Süden Iran. Und dann gibt es natürlich noch die Nachbarn Aserbaidschan im Osten und die Türkei im Westen… dazu später mehr.
Wein: Fester Bestandteil der armenischen Kultur
Armenien ist ein gebeuteltes Land, das es dennoch nicht verlernt hat, zu feiern und das Leben zu genießen. Ein Land, über das man hier in Deutschland meist wenig weiß – dabei leben auch hier Menschen der armenischen Diaspora, die sich über die ganze Welt verteilt. So wusste auch ich vorher nicht: Wein ist ein fester Bestandteil der armenischen Kultur. Und das schon überraschend lange. Denn man fand in der sogenannten Vogelhöhle (Areni-1), einer Karsthöhle in einem fruchtbaren Flusstal etwa 100 Kilometer südlich von Jerewan, eine steinzeitliche Weinkellerei mit der wohl ältesten Weinpresse der Welt. Schon vor 6.000 Jahren haben die Menschen im Gebiet des heutigen Armeniens also professionell Wein angebaut – und vermutlich für Riten verwendet.
Heute führen unzählige kleine und große Weingüter dieses kulturelle Erbe im armenischen Hochland fort. Dementsprechend werden bei den Yerevan Wine Days ausschließlich armenische Weine ausgeschenkt. Viele von ihnen werden in der sogenannten Ararat-Ebene angebaut, einem flachen, fruchtbaren Gebiet südlich der Hauptstadt, in dem der Aras-Fluss fließt. Was für uns Deutsche, die den Riesling an den Hängen der Mosel oder des Rheins gewohnt sind, erstmal komisch wirken mag: Auf diesem Plateau auf ca. 1.000 bis 1.800 Metern gedeihen die Trauben besonders gut. Dank der über 300 Sonnentage im Jahr und des hiesigen vulkanischen Bodens bekommen die Trauben auch im flachen Anbau genug Sonne ab, und es gibt kaum Regen, der ablaufen muss.
Die Ararat-Ebene: Zu Besuch auf dem Weingut
Die Traubensorten, die man hier am meisten kultiviert, sind die roten Sev Areni und Kakhet und die weiße Voskehat. Tatsächlich gibt es in Armenien eine Vielzahl lokaler Rebsorten, die es so nur hier gibt. Viele der Weine sind ausgezeichnet – und werden auch in großem Stil exportiert. Nur eben nicht nach Deutschland. Hauptabnehmer ist Russland, das dem heute kleinen Land, das es 1920 mit Einmarsch der Roten Armee der Sowjetunion unterordnete, noch heute als selbsternannte »Schutzmacht« dient.
Wobei auf jeden Fall diskutabel ist, ob die Beziehung zu Russland als »bester Freund« vom Staat Armenien eine gänzlich freiwillige Entscheidung ist. Vor allem Rohstoffe wie Gold und Strom aus den eindrucksvollen Wasserkraftwerken am Hrasdan-Fluss und Elektronikgeräte (Fun Fact: Der Farbfernseher wurde hier erfunden!) liefert Armenien heute noch an Russland, aber eben auch viele Waren – wie Wein. Tipp: Wer mal einen armenischen Wein in Deutschland probieren mag, der findet sie meist in russischen Supermärkten!
»Der Kaukasus ist für die Revolution entscheidend, denn er ist eine Quelle für Rohstoffe und Nahrungsmittel. Aber entscheidend ist er auch wegen seiner Lage zwischen Europa und Asien, Europa und der Türkei, denn hier laufen alle wirtschaftlichen und strategischen Verbindungen hindurch, die von beachtlicher Bedeutung sind. Wir müssen diese Region kontrollieren.«
– Stalin am 30. November 1920, bevor die Rote Armee nach Armenien einmarschierte und es zum Teil der Sowjetunion machte.
Das kleine Land hat fünf Weinbaugebiete, die sich zum Teil sehr in ihren Eigenarten unterscheiden – und das schmeckt man. Bei einem Besuch Armeniens sollte man unbedingt bei einem der hübschen Weingüter im Süden des Landes vorbeischauen. Viele befinden sich unweit der iranischen Grenze – und die guten Tropfen werden gern an Besucher aus dem Nachbarland, getarnt in alten Colaflaschen, am Straßenrand verkauft. Der Begriff »Armenische Cola« ist in Iran mittlerweile etabliert.
Unterwegs zu den Klöstern in Armenien
Auch ich war dort im Süden. Ich hatte zu meinem großen Glück die Gelegenheit, schon vor den Yerevan Wine Days das Land etwas zu erkunden. Begleitet wurde ich dabei von Narine Hovesyan. Die langjährige Reiseleiterin und Dozentin an der Uni in Jerewan spricht fließend Deutsch und ist unglaublich schlau, herzlich und belesen – und hat ihre eigene, gut begründete Meinung zu Dingen. Eine Meinung, in denen sich alle Armenier einig sind: Sie sind stolz auf ihr Land mit einer unglaublich traditionsreichen Geschichte! Armenien ist eines der ältesten Länder und schon auf der babylonischen Weltkarte von ca. 600 v. Chr. vermerkt. Einst dehnte sich das Reich sogar vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer aus.
Gemeinsam haben wir zum Beispiel verschiedene Klöster besucht, wie das Kloster Haghartsin im grünen Norden und das Kloster Sewanawank am Sewansee. Denn: Religion ist in Armenien wichtig. Ja – auch wenn das natürlich für viele Länder gilt, geht es in Armenien doch noch etwas tiefer, zumindest geschichtlich. Denn hier sollen zwei der Apostel Jesu nach dem Tod des selbsternannten Sohn Gottes im ersten Jahrhundert gepredigt haben – sodass schon um das Jahr 197 n. Chr. erste Aufzeichnungen der armenischen Christen überliefert sind.
Ein uraltes Christentum
Der Legende nach war es der König Trad III., der von dem Christen Gregor von einer Krankheit geheilt wurde und der schließlich im Herrschaftsgebiet Armenien 301 n. Chr. als erstes Land die Staatsreligion Christentum einführte. Noch vor der konstantinischen Wende, also bevor die Kaiser Konstantin und Lucinius im Römischen Reich das Christentum zur einzig erlaubten Religion machten (neben dem Judentum). Eine armenische Sprache wurde ebenso entwickelt und Teile der Bibel übersetzt. Wie auch die orthodoxe Kirche spaltete sich das armenische Christentum kurze Zeit später vom »Mainstream«-Glauben ab, als sie in Jesus die Menschwerdung Gottes anerkannten, und nicht den natürlichen Menschen und das Göttliche in einem ansehen wollten.
Richtig, wir verlieren uns in den Details. Manche der Zahlen und Daten lassen sich sowieso auch nicht hinreichend von Historikern belegen. Doch Fakt ist: König Trad III. ließ antike Kultstätten zerstören, um an diesen Plätzen Kirchen zu errichten. Eine von ihnen war die Kathedrale von Etschmiadsin, die im 4. Jahrhundert erstmals dort errichtet wurde. Die im 17. Jahrhundert komplett restaurierte Kirche auf den historischen Fundamenten gehört zum Welterbe der Unesco.
Katholikus: der eigene Papst der Armenier
Ebenso stehen drei weitere Klosteranlagen in Armenien auf dieser Liste. Denn: Es war ein Armenier, der im 5. Jahrhundert das Klosterleben erfand. Ein Jahrtausend lang waren in Jerusalem traditionell Armenier in den Klöstern tätig. Noch heute hat die Apostolische Armenische Kirche, wie man sie nennt, quasi die Rolle einer Staatsreligion in Armenien. Und spielt auch im Leben der Armenier auf der ganzen Welt eine identitätsstiftende Rolle. Die hochrangigen Priester im Land tragen wichtige gesellschaftliche Verantwortung und mit dem sogenannten »Katholikus aller Armenier«, dem obersten Patriarch, haben die Gläubigen heute noch ihre eigene Form des Papstes – mit Sitz im historischen Etschmiadsin.
Das Nationalsymbol: der Berg Ararat
All das hat mir Narine erzählt, auf unseren Autofahrten durch das kleine Land, während Weinreben, an uns vorbeiziehen, dahinter der schneebedeckte Gipfel des Berg Ararat, das Nationalsymbol der Armenier und angeblicher Landungsplatz der Arche Noah nach der göttlichen Sintflut. Heute ist der Gipfel, der bei gutem Wetter auch von der Hauptstadt Jerewan gut zu erkennen ist, mit 5.137 Metern höchster Berg der Türkei. Auf den Protest der Türkei, dass Armenien den Berg nicht in ihrem Wappen abbilden dürfe, weil er nicht in ihrem aktuellen Staatsgebiet liegt, gab Russlands damaliger Außenminister Grmyko einmal den berühmten Konter: Die Türkei führe immerhin auch den Mond in ihrer Flagge, obwohl dieser nicht zum Staatsgebiet der Türkei gehöre.
»Klöster waren in Armenien lange nicht nur Wohnort von Geistlichen, sondern vor allem Bildungseinrichtungen. Jeder Priester musste zunächst studieren – und sein Wissen hier weitergeben. Außerdem sind die komplexen Anlagen, die sich über die Jahrhunderte veränderten, auch ein lebendiges Zeugnis der armenischen Architektur«. Narine und ich waren hier gerade auf dem Weg zum Kloster Norawank im kargen, von rotem Fels geprägten Süden des Landes. Das Höhenkloster aus dem 13. Jahrhundert war auch immer ein Ort, an dem die Menschen in den Bergen Schutz suchen konnten.
Ein gebeuteltes Land
Denn: Leider auch das gehört zu Armenien. Vertreibung, Landverlust und Völkermord. Denn Armenien ist seit jeher Streitmasse großer Mächte wie Römer, Perser, Russen oder Osmanen. Noch heute kriselt es mit zwei Nachbarn politisch heftig. Die Regionen, in denen historisch vorrangig Armenier lebten, wurde durch verschiedene Abkommen, die oft über die Köpfe der Menschen hinweg geschlossen wurden, gerne mal zum eigenen Zwecke weitergeschenkt. Die Römer gaben für ein Friedensangebot den Persern ein Stück Armenien hier, die Sowjetunion der Türkei später ein Stück da. Die Sowjetunion entschied zuletzt nach der Oktoberrevolution 1917 über die Region Bergkarabach zugunsten des Nachbarn Aserbaidschan. Die Armenier, die auf diesen Gebieten lebten, wurden und werden teilweise auf brutalste Weise diskriminiert, verfolgt und ermordet.
Der Genozid des Osmanischen Reiches an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges, bei dem vermutlich bis zu 1,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer zwischen 1915 und 1916 ihr Leben verloren, ist wohl das prominenteste Zeugnis… 2016 erkannte auch der Deutsche Bundestag diesen Völkermord an. Die Vertreibung der letzten Armenier aus Bergkarabach durch das aserbaidschanische Militär im September 2023 und das erneute Aufflammen des Konflikts ist hingegen aktuell.
Die armenische Diaspora
Doch das sind leider nicht die einzigen Vorkommnisse dieser Art in der Geschichte der Armenier. Fakt ist: Heute leben von weltweit ca. neun Millionen ethnischen Armeniern nur knapp drei Millionen im eigenen Land. Hier stellen sie mit über 98 Prozent der Menschen die eindeutig größte Gruppe dar – kaum ein Land ist ethnisch so homogen. Der Rest der Armenier ist über die Welt verteilt, von den befreundeten Nachbarn Georgien und Iran und der Schutzmacht Russland hin in die USA, Frankreich, Kanada, Argentinien bis nach Australien. Die armenische Diaspora ist auch in Deutschland zu spüren, wenn man genauer hinschaut. In Mecklenburg-Vorpommern und den großen Städten, besonders in NRW, leben besonders viele.
Das Leben in vollen Zügen genießen
Nach all dem ist es so erstaunlich, wie lebensfroh die Armenier sind! Oder feiert man besonders dann das Leben in vollen Zügen? Und was natürlich auch dazu gehört: Essen! Und das ist in Armenien wirklich unglaublich ausgezeichnet – und reichlich! Überall wird man eingeladen, doch dieses oder jenes zu probieren. »Komm, eigentlich musst du auch noch einen Armenischen Cognac trinken – den haben die hier doch bestimmt auch irgendwo.« Es scheint, als wollte Narine, die mich nach unseren wunderschönen Tagen im Land zum Abschied noch hier auf dem Weinfest trifft, diese Aussage gleich zur Begrüßung nochmal unter Beweis stellen.
Dass ich eben schon drei Gläser Wein getrunken habe, scheint unbedeutend. Und so kommt sie mit zwei kleinen Schnapsgläsern mit dem goldfarbenen Trunk. Aber Recht hat sie – den habe ich noch nicht probiert. Der »Armenische Cognac«, den man natürlich offiziell nicht so nennen darf, weil er nicht aus der französischen Cognac-Region stammt, ist bei Kennern von hochwertigen Weinbränden in aller Welt berühmt. Nicht zuletzt, weil Churchill sich gerne die Flaschen von Stalin kistenweise liefern ließ.
In der Ararat Destillerie in Jerewan kann man alles über die Produktion und der – natürlich jahrtausendealten – Geschichte des armenischen Weinbrands erfahren. Auch liegt hier im Keller der Destillerie schon sehr lange ein »Fass des Friedens«, das erst dann angestochen wird, wenn der Konflikt um Bergkarabach gelöst ist und in Armenien kein Krieg mehr herrscht. Ich hoffe es so sehr für Armenien, dass sie irgendwann darauf anstoßen können…
Eine unglaubliche Gastfreundschaft
Die Gastfreundschaft in Armenien ist einfach unglaublich! Diese Wärme hält noch nach, als ich auf dem Rückflug im Wizz Air Flug nach Dortmund auf die braunen Hochhäuser von Jerewan mit den schneebedeckten Bergen im Hintergrund hinabblicke. Einen selbstgemachten Honig von Narine habe ich auch im Gepäck – und Snacks, damit ich ja nicht hungrig werde auf dem Flug. Da lädt mich mein Sitznachbar, ein Armenier, der schon lange in Deutschland lebt, auf einen Drink ein. Leider gibt es keinen armenischen Wein. Dazu muss ich wohl einfach nächstes Jahr wiederkommen, wenn in Jerewan wieder die Straßen vor Freude beben.
Mehr Infos zu Armenien
Die Yerevan Wine Days 2024 finden vom 7. bis 9. Juni statt. Seit 2023 fliegt Wizz Air direkt von Dortmund in vier Stunden nach Jerewan. Mehr Informationen liefert das Armenische Fremdenverkehrsamt. Die meisten Regionen des Landes gelten als sicher, so auch die Hauptstadt Jerewan. Konfliktgeladene Gebiete wie Bergkarabach sollten allerdings gemieden werden.