Ich mag entlegene Orte, wo kaum ein Mensch hinreisen mag. So war es ein lang gehegter Traum, einmal nach Manitoba in Kanada zu fahren. Genauer gesagt nach Churchill an der Hudson Bay, der Hauptstadt der Eisbären. Text: Jennifer Latuperisa-Andresen
Terry, oh Terry. Mein Leben liegt in deinen Händen. Ob ich Angst habe? Ein wenig. Du sagst zwar, das wäre nicht vonnöten, aber Wikipedia sagt, der Eisbär gehöre zu den größten Raubtieren an Land. Und Terry, vor Raubtieren habe ich Angst. Jetzt stehe ich inmitten der kanadischen Tundra, nur ein paar Meter von einem Polarbären entfernt. Zugegeben, er sieht harmlos aus. Und du hast dein Schrotgewehr geschultert und einen Stein griffbereit in der linken Jackentasche.
Aber reicht das denn, Terry, wenn der puschelige Polarbär vor meinen Augen zum sagenumwobenen Sprint ansetzt? Heißt es nicht, er kann mindestens 30 Kilometer pro Stunde rennen? Nicht lange hält er das durch, ich weiß. Aber länger als ich. Da bin ich mir sicher. Aber du beruhigst mich und die anderen 20 Schaulustigen, die um uns herum mit ihren Kameras klicken und ihr Glück nicht fassen können.
Ich bin ganz nah an der Bärenmutter und ihren Kindern
Ursus Maritimus, direkt vor unserer Nase. Ist er doch zum Symbol der Klimaerwärmung geworden. Hat man ihn doch vor dem geistigen Auge – auf einer Eisscholle liegend – und kein Land in Sicht. Doch hier in der Tundra, die nicht annähernd so schneebedeckt ist, wie sie es um die Jahreszeit sein sollte, und deswegen auch nicht so fotogen, liegt er gemütlich auf Moos oder Flechte. Erst ein Blick zu dir, Terry, du nickst, und dann gehe ich einen Schritt vor. Möchte in der ersten Reihe stehen, für das perfekte Foto. Doch spätestens nachdem ich einige Hundert Bilder habe, ist es schlichtweg faszinierend, diese Bärenmutter mit ihrem Kind zu sehen. Besser als Krimis, spannender und mit echtem Nervenkitzel.
Terry ist das personifizierte Eisbärenlexikon
Ach, Terry, du weißt so viel über die Bären. Wie groß sie werden (im Durchschnitt um 2 Meter 30), und wie schwer sie sind (zwischen 150 und 300 Kilogramm).Du weißt, was sie fressen, kannst ihre Spuren lesen und ihre Schlafmulden finden. Faszinierend, wie du das machst, für mich sieht das aus wie Schneeverwehungen. Aber du hast ja jahrzehntelange Erfahrung. Immerhin bist du schon den Grizzlybären in British Columbia hinterhergelaufen und führst nun Gruppen durch die Pampa Manitobas zu Fuß zu den Eisbären, während deine Frau daheim im selbst gebauten Holzhaus auf Vancouver Island hofft, dass du nach den Wochen als Guide in der Dymond Lake Lodge in einem Stück heimkehrst.

Jennifer Latuperisa-Andresen
Alleine, sagst du, darf ich mich nicht aus meiner Hütte bewegen. Immer musst du mit deinem Gewehr dabei sein. Du holst mich ab und bringst mich hin. Hinter dir verschließe ich die Tür noch einmal mit einem Extrariegel. Vorsicht muss sein, sagst du immer. Und dann, als du nicht da warst und ich gedankenverloren am Fenster saß, kam er angetapst. Unbeholfen und naiv – der Eisbär. Er stolperte die Treppen hoch und schnüffelte an der Tür. Mein Adrenalinspiegel stieg. Vor Aufregung habe ich meine Kamera nicht gefunden. Und konnte kein Foto davon machen, wie sich der Eisbär aus der schier unendlich scheinenden Tundra genau mein Fleckchen Veranda aussucht. Apropos weite Tundra. Während der Wanderungen mit dir, Terry, (davon machen wir zwei am Tag), erfahre ich dann auch, welche Tiere hier in diesem von Permafrost gezeichneten Landschaftsgürtel noch leben. Vielfraße beispielsweise, Schneeeulen und Polarfüchse.
Der Eisbär auf Knopfdruck – nein, so läuft das nicht
Leider ist dies kein Tierpark, sagst du immer, und die Tiere kommen nicht auf Knopfdruck. Aber du findest selbst die zaghaften Spuren der Schneehühner, und ich weiß nicht einmal, wie ein Vielfraß aussieht, bis ich ihn in der Google-Bildersuche finde. Da steht auch, dass ein Vielfraß einen Elch töten kann. Und du hoffst für mich, dass ich mal einen zu sehen bekomme.
Und am nächsten Tag ist es dann tatsächlich so weit. Du fuchtelst wild mit den Armen, ich gucke nach rechts und sehe einen wuscheligen Schwanz zwischen dem niedrigen Geäst verschwinden. Wahnsinnig schnell ist er, so ein Vielfraß oder Wolverine, wie die Kanadier ihn nennen. Plötzlich knackt es unter meinem Schuh, und ein Bein verschwindet im Morast. Knietief. Rauskommen unmöglich. Es ist wie mit der Legende vom schwarzen Moor. Es zieht einen trotz Gegenwehr nach unten, bis man für immer in der schwarzen Erde versinkt. Ich soll nicht melodramatisch sein, sagst du, und buddelst mich aus. Mit nasskaltem Schuh müssen wir zurückwandern.
Es heißt Abschied nehmen von Terry. Und den Eisbären
Gehe niemals allein, hast du gesagt. Und mal wieder recht behalten. Zum Abschied von der Dymond Lake Lodge kommen noch einmal zwei Eisbären ganz nah heran. Als würden sie sich verabschieden. Es wird nicht dein letzter Eisbär sein, sagst du mir, als ich mit dem Helikopter gen Churchill entschwinde und von dir Abschied nehmen muss. Es dauert noch ein bisschen, bis die Hudson Bay zufriert und die Bären wieder auf Robbenjagd in die Arktis entschwinden können. Churchill – ohne dich.

Jennifer Latuperisa-Andresen
Eine ganz neue Umgebung. Statt einsamer Blockhütte wohne ich jetzt in einem aus Spanplatten zusammengezimmerten Motel, und statt Tundraerde spaziere ich nun über asphaltierte Wege. 1 000 Einwohner leben hier. Abgeschottet vom Rest der Welt. Churchill ist die letzte Bastion vor dem 1,23 Millionen Quadratkilometer großen Randmeer Hudson Bay. Wer hierhin kommen möchte, muss in das Flugzeug steigen oder den Zug nehmen. Denn Churchills Straßen enden irgendwo im Nirgendwo, höchstwahrscheinlich aber im borealen Nadelwald.
Nein, schlecht leben sie hier nicht von den Eisbären
Churchill gilt als Eisbär-Hauptstadt. Und die Gemeinde lebt nicht schlecht vom Tourismus mit den Polarbären. Bislang. Denn aufgrund des Klimawandels gefriert das Eis an der Hudson Bay immer später. Die Bären, die ihren Sommer hier verbringen, sind also gezwungen, länger zu hungern und auszuharren, bis die Bucht gefriert und der Migrationsweg zu ihrer Nahrung der Robben wieder frei wird. Getrieben durch den Hunger sowie dank ihres außergewöhnlichen Geruchssinns (Eisbären können Robben über einen Kilometer weit riechen), kommen sie in die Stadt. Und auch hier hattest du mir geraten, niemals alleine zu gehen. Schon gar nicht im Dunkeln.
Leider wurden in Churchill früher bis zu 20 Eisbären jährlich erschossen. Aus purer Notwehr. Waren sie dem Menschen doch einfach zu nahe gekommen oder hatten sich auf der Müllkippe rumgetrieben. Heute hat die Stadt dafür ein Eisbären-Alarmsystem entwickelt. Die auffälligen Tiere kommen in eine Art Gefängnis, wo sie ohne Futter gehalten werden, bis die Bucht zugefroren ist, oder sie werden nach 28 Tagen »Haft« mit dem Helikopter weit nach draußen geflogen.
Manche Bären, hattest du erwähnt, werden auch mit einem Sender versehen, um Daten zu sammeln. Denn obwohl sich die Population der Eisbären in dem letzten Jahrzehnt wieder regeneriert hat (immerhin von 5000 auf 25 000 Tiere), gehören sie weiterhin zu den gefährdeten Tierarten. Du sagtest, dass Eisbären heute bis zu 50 Kilogramm leichter sind als vor 20 Jahren und auch im Durchschnitt weniger Junge bekommen.
Der Tundra Buggy wirkt von innen wie ein Schulbus
Statt mit dir über Stock und Stein zu laufen, sitze ich jetzt in einem sogenannten Tundra Buggy. Du hast mir schon davon berichtet, wie dieses Gefährt 1979 praktisch aus einer fixen Idee heraus entstanden ist und heute zahlreiche Touristen durch die Tundra vorbei an den Eisbären bugsiert. 40 Menschen haben in dem wohlig beheizten Buggy Platz. Wer jedoch ein kleines Gefährt erwartet, wird überrascht sein, da es sich eher um das Gegenteil handelt. Innen die Atmosphäre eines Schulbusses, von außen optisch eher ein Wohncontainer auf einem Lkw-Fahrgestell. Aber es ist sicher. Denn das Gefährt rollt auch bei minus 50 Grad über die ehemaligen Militärwege Manitobas.

Jennifer Latuperisa-Andresen
Du hattest prophezeit, aus dem Buggy werde ich viele Eisbären sehen. Und am Ende der siebenstündigen Tour war es tatsächlich ein gutes Dutzend. Doch das Gefühl ist anders. Distanzierter, eher wie im Zoo. Obwohl das natürlich nicht der Fall ist. Zwar ist ein Aufenthalt in der Dymond Lake Lodge wesentlich teurer und nicht so luxuriös, wie der Preis es erwarten lässt. Aber es hat den Vorteil, mit dir, Terry, durch die subpolare Flora zu wandern. Zudem bist du ein wandelndes Bärenlexikon. Und ein Lebensretter. Und wer will das im Angesicht des Eisbären schon missen?
Anreise. Ab Frankfurt a. M. nonstop nach Winnipeg, am besten mit Air Canada. Weiterflug mit Calm Air nach Churchill (Achtung, der Flug kostet um die 800 Euro), www.calmair.com.
Individuell. Eine individuelle Buchung gestaltet sich sehr schwieirg. Die Unterkünfte in Churchill kooperieren mit den Touranbietern, und so kann man meist nur ganze Pakete kaufen. Deshalb lohnt es sich, die Angebote der Anbieter (s. u.) zu checken.
Übernachtung/Churchill. Rustikal, aber gemütlich ist die Lazy Bear Lodge. Der Lodge bietet ein Tourpaket inkl. Hundeschlitten- und Tundra-Tour (allerdings nicht mit den Buggys), www.lazybearlodge.com.
Tundra Buggy Tour. Bietet ganze Pakete ab Winnipeg an, inkl. Übernachtungen und Flug nach Churchill, www.tundrabuggy.com
Beste Reisezeit. Oktober und November.
Kleidung. Jacke, Hose und Schuhe können in Churchill gemietet werden.
Info. Travel Manitoba, Frankfurter Str. 175, 63263 Neu-Isenburg, www.travelmanitoba.com