Tauchen unterm Eis? Was nach einer ganz schön verrückten Idee klingt, wurde für unsere Autorin und Abenteuerin Bianca Klement zu einem ihrer schönsten Erlebnisse. Hier erzählt sie vom Eistauchen in Finnland.
Text: Bianca Klement
Knirschend rollen die Reifen des Geländewagens über den gefrorenen Schnee. Rechts und links des Waldweges ragen Fichten und Kiefern aus dem weißen Untergrund. Anfang März ist Finnland eine endlose Winterlandschaft. Nach einigen Kurven kommt endlich unser Ziel in Sicht: Iso-Melkutin. Der See befindet sich im Süden des Landes, etwa 90 Minuten Autofahrt nördlich von Helsinki.
Finnland gilt als Land der 1.000 Seen – tatsächlich sind es mehr als 188.000 Gewässer! Über einen Waldsee zu stolpern, ist daher nichts Ungewöhnliches. Doch Iso-Melkutin ist besonders.
Der See ist bekannt für sein kristallklares Wasser und ein beliebtes Ziel für Tauchende – das ganze Jahr. Seit Monaten ruht das dunkle Gewässer unter einer meterdicken Eisschicht und genau deswegen bin ich hier. Unter dem Eis lockt eine surreale Welt aus Kälte, Dunkelheit und Stille. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe internationaler Freitaucher will ich hier ein frostiges Abenteuer wagen: Eistauchen mit nur einem Atemzug.
Eistauchen: Darum ist ein Seil beim Tauchgang wichtig
Als der Wagen zum Halten kommt, blicke ich über den zugefrorenen See. Die am Ufer wachsenden Kiefern und Fichten bilden einen natürlichen Schutzwall. Es ist kalt, verschneit und friedlich. Außer unserer Gruppe ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Nirgends finden sich Häuser, Bootsschuppen oder sonstige Zeichen der Zivilisation. Die Schneedecke auf dem zugefrorenen See verschmilzt mit dem hellgrauen Himmel zu einer blendenden Wand.
Mitten auf dem See hat das Team der »Freediving Fishermen & Friends«, das aus Olavi Paananen, Salla Hakanpää, Tommi Pasanen und Miro Suonperä besteht, einen Spielplatz für unsere kleine Freichtauch-Gemeinde aufgebaut:
60–70 Zentimeter hohe Eisblöcke umranden wie eine Mauer eine Fläche in der Größe eines halben Fußballfeldes. In der Mitte sind zwei drei mal fünf Meter große Rechtecke aus dem Eis gehauen.
Seile ragen in die dunkle, freie Fläche darunter. Die Rechtecke sind die Tieftauchzonen.
Iso-Melkutin hat mit rund 27 Metern eine attraktive Tiefe für Gerätetauchende und Apnoeisten. Wie schwarze Augen schauen rund zehn dreieckige Löcher aus dem See. Auch sie sind zum Ab- und Auftauchen gedacht. Alle Löcher sind unterhalb der dicken Eisdecke mit Seilen miteinander verbunden. Diese verbinden die Einstiege, also die Dreiecke miteinander. Unter dem Eis wird es schnell dunkel und da nur an ausgewählten Punkten aufgetaucht werden kann, sind die Seile ein notwendiges Sicherheitselement.
Auf rund zehn Metern Tiefe sind es mollige zehn Grad Celsius
An diesen Führungsseilen werden wir uns schon bald orientieren. Damit ich mich nicht bei zehn Grad Minus auf dem Eis umziehen muss, trage ich bereits meinen Neoprenanzug. Sich in einen Freitauchanzug zu zwängen, ist selbst in einer warmen Umkleide kein Spaß. Draußen bietet der fünf Millimeter dicke Anzug aber einen guten Schutz gegen die frostigen Temperaturen.
Ob der Anzug auch unter dem Eis warmhält, wird sich noch zeigen. Das Wasser hat auf dem ersten Meter etwa eine Temperatur von einem Grad Celsius.
Etwas tiefer wird es wieder wärmer. Auf rund zehn Metern sind es schon mollige drei Grad. Bei diesen Temperaturen muss man aufpassen, nicht auszukühlen. Zum Aufwärmen haben die »Freediving Fishermen & Friends« am Rande des sogenannten Spielplatzes vier kleine Saunazelte aufgebaut, die mit Holzöfen geheizt werden. Das Eis ist so dick, dass es kein Problem ist, wenn hier über Stunden ein Feuer brennt.
Das muss man beim Eistauchen beachten
Wer eistauchen möchte, braucht zuerst eine ausführliche Einweisung. Wie auch sonst beim Freitauchen ist auch beim Eistauchen die oberste Regel: Tauche nie allein, sondern immer mit einem erfahrenen Buddy. Aber beim Eistauchen gibt es noch andere Dinge zu beachten, denn einfach auftauchen, wenn es ein Problem gibt, ist unmöglich.
Jeder von uns muss daher beim Tauchen eine Lanyard tragen, eine Sicherheitsleine, mit der sich der Taucher in das Führungsseil einklinkt.
»Wen ich ohne Lanyard erwische, der fliegt vom Eis«
betont Olavi am Morgen. Sicherheit ist kein Spaß, sondern lebenswichtig. »Falls etwas Überraschendes passiert, zum Beispiel kaltes Wasser in die Maske oder in die Ohren dringt, kann das die Orientierung beeinflussen. Mit der Lanyard am Seil findet man immer den Weg zurück zur Oberfläche«, erklärt Olavi.
Befolgt man die Sicherheitsstandards, ist Eistauchen gar nicht so dramatisch, denke ich. Vorausgesetzt, man kommt physisch mit der Kälte klar. »Wenn man in das kalte Wasser eintaucht, kann das Herz stark beansprucht werden, deswegen ist es wichtig, dass man sich an die Kälte herantastet«, warnt Olavi.
Der Finne ist professioneller Freitaucher und Tauchlehrer. Seit mehr als fünf Jahren taucht er regelmäßig unter Eis.
»Es ist schon ein echtes Privileg hier in Finnland, dass wir solche Bedingungen haben und Eistauchen können. Unter dem Eis ist so ruhig. Es ist, als wäre man in einer anderen Welt. Und es ist schön, dass wir diesen Ort hin und wieder besuchen dürfen«
schwärmt er.
Eistauchen in Finnland: der erste Tauchgang
Jetzt will auch ich endlich diese Welt erkunden. Zusammen mit meinem Buddy Roy suchen wir uns ein Einstiegs-Dreieck am Rande des Parcours. Nach dem gegenseitigen Sicherheitscheck steigen wir ins Wasser und klinken uns mit der Lanyard ins Führungsseil.
Roy und ich haben uns abgesprochen. Ich tauche zuerst, während er zurückbleibt, beobachtet und den Tauchgang überwacht. Der nächste Einstieg und damit die nächste Möglichkeit zum Luftholen ist knapp 15 Meter entfernt. Bevor ich abtauche, kommen mir Sallas Worte in den Sinn: »Taucht mit einer Hand am Eis ab, sonst könnt ihr euch leicht den Kopf stoßen.«
Ich hole tief Luft und lege meine Hand an die milchig weiße Eisdecke. Die Kälte beißt im Gesicht. Ich gleite mit der Hand am Eis entlang. Nach etwa 30 Zentimetern wird das Eis plötzlich so klar, dass ich es noch fühlen, aber nicht mehr wirklich sehen kann. Nach wenigen Sekunden ist die untere Kante erreicht und ich schiebe mich unter die Eisdecke.
Unter Wasser wird es still
Unter Wasser ist es plötzlich still. Die Welt verstummt. Unter mir ist nichts als Dunkelheit. Trotzdem hat die Szenerie nichts Beängstigendes oder Klaustrophobisches. Es ist friedlich. Ich drehe mich auf den Rücken und blicke hinauf zur Eisdecke über mir, die durch das Sonnenlicht hell und weiß schimmert. Mit einer Hand streiche ich über das Eis. Statt einer geraden Fläche ertaste ich Kurven und Rundungen.
Ich tauche ganz langsam am Seil entlang und staune über die eingeschlossenen Luftblasen, die wie kleine Kunstwerke vom Sonnenlicht durchflutet werden.
Nach etwa dreißig Sekunden erreiche ich das nächste Dreiecksloch. Zur Sicherheit sind die Entfernungen zwischen den Einstiegen kurzgehalten. Niemand ist hier, um neue Bestzeiten oder Rekorde aufzustellen, sondern um die Welt unter dem Eis zu erleben.
An der Kante des Dreiecks taste ich nach der Eiskante und gleite langsam an die Oberfläche. Wow! Ich atme aus, hole tief Luft und signalisiere Roy, dass alles okay ist. Danach beobachte ich meinen Buddy, wie er abtaucht und am Seil entlang in meine Richtung schwimmt. Auch er hat ein breites Grinsen auf dem Gesicht, als er wieder an der Oberfläche ist. In den nächsten 40 Minuten tauchen wir kreuz und quer über den Parcours, dann kriecht mir die Kälte in die Glieder, meine Bewegungen werden langsamer. Zeit zum Aufwärmen. Zeit für die Sauna. Zwei Minuten später sitzen wir in unseren Neoprenanzügen in einem der kleinen Zelte. Erst in dem warmen Zelt merke ich, wie durchgefroren ich bin. In der Sauna ist jeder Platz belegt und jeder Taucher, der reinkommt, strahlt über das ganze Gesicht. Die Kälte kurbelt die Ausschüttung von Glückshormonen ordentlich an.
Eine halbe Stunde später sind wir zurück im Wasser. Diesmal starten wir bei den Tieftauch-Seilen.
In nur zehn Metern Tiefe hat man einen grandiosen Überblick über den gesamten Parcours. Von unten leuchten die Einstiege wie Portale in eine andere Dimension.
Die Unterwasser-Stuntfrau
Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug. See, Sauna, See, Sauna. Die Kombination aus Tauchen und Sauna ist genial. Als sich der erste Tauchtag dem Ende zuneigt, gehe ich mit Salla zurück zum Wagen. Sie hat zusammen mit den anderen finnischen Freitauchern das Event überwacht und uns hilfreiche Tipps gegeben wie wir wieder warm werden oder uns Tricks unter dem Eis gezeigt.
Salla ist nicht nur erfahrene Freitaucherin, sondern Akrobatin und Unterwasser-Stuntfrau. Sie trainiert oft Schauspieler für Unterwasserszenen. Für sie ist Freitauchen unter Eis die pure Freude. Anders als bei anderen Disziplinen geht es ihr hierbei nicht darum, weite Distanzen zu tauchen oder große Tiefen zu erreichen. Unter Eis genießt sie das Element Wasser.
»Ich liebe Eistauchen. Unter dem Eis ist es so wunderschön, wenn sich das Tageslicht in den kleinen Luftblasen fängt.
Wenn ich kopfüber mit den Füßen unter der Eisdecke stehe, fühle ich mich wie im Weltall. Das Licht strahlt zwischen meinen Füßen hindurch und wenn ich mich vom Eis abdrücke und springe, drifte ich aufgrund des Auftriebs wieder ans Eis zurück, als würde ich auf dem Mond laufen.« Ich nicke stillschweigend und bin fest entschlossen, am nächsten Tag auch unter dem Eis zu laufen – zumindest will ich es versuchen.
Tauchen, Sauna, Schlafen, repeat!
Unser Hauptquartier ist ein altes Schulgebäude, etwa 15 Kilometer vom See entfernt. Früher lebten in den ländlichen Regionen mehr Kinder. Heute zieht es viele Familien in die Städte und so stehen viele Gebäude leer und dienen nun als Touristenunterkünfte oder Veranstaltungsräume. Zurück in der Unterkunft dusche ich heiß und merke, wie ausgehungert ich bin. Bei den eisigen Temperaturen verbrennt der Körper jede Menge Energie, um warm zu bleiben. Nach dem Essen falle ich todmüde ins Bett.
Der nächste Tag folgt demselben Ablauf: Frühstück, Briefing, See. Als wir bei unserem Spielplatz auf dem Iso-Melkutin ankommen, muss zunächst der Platz vorbereitet werden. Über Nacht hat sich über allen Einstiegen eine rund zehn Zentimeter dicke Eisdecke gebildet. Mit Motor- und Handsägen muss Loch für Loch freigeschnitten werden. Wir schauen zu, wie die »Fishermen & Friends« dem Eis zu Leibe rücken und fischen die einzelnen Schollen aus dem Wasser. Nach rund einer Stunde ist der Spielplatz bereit und die Saunen sind aufgeheizt.
Am Ende sind alle wehmütig
Dann geht es endlich wieder unter das Eis. Heute genieße ich das kalte Wasser noch mehr. Ich schaue zu, wie Salla ihre Eislaufkünste demonstriert, als wäre es das Einfachste der Welt. Ich brauche mehrere Anläufe, um auch nur für eine Sekunde beide Fußsohlen von unten an die Eisfläche zu bekommen und in eine halbwegs aufrechte Position zu gelangen. Wie ein Ballon treibe ich immer wieder gegen das Eis. Grazil geht anders. Spaß macht es trotzdem. Die ganze Gruppe ist wie euphorisiert.
Am letzten Tag tauchen die meisten von uns ganz ohne Neoprenanzug. Auch wenn nicht alle Fans von Kälte sind, sind alle Fans vom Eistauchen geworden.
»Das war definitiv eines der besten Erlebnisse meines Lebens und das sage ich als jemand, der auch schon mal nur wenige Meter von einem Glattwal mit Kalb entfernt war«
sagt Brandon Reed strahlend. Der in Südafrika lebende Amerikaner hatte die Idee für den Trip und hat unsere kleine Gruppe zusammengebracht. Auch er ist das erste Mal unter Eis getaucht. »Es ist wirklich ein unglaubliches Erlebnis, das ich jedem ans Herz legen kann, selbst dann, wenn man kein kaltes Wasser mag. « Er hat recht. Als wir am letzten Tag den See verlassen, sind wir alle ein bisschen wehmütig. Als ich mit meinen Flossen in der Hand den frostigen Spielplatz verlasse, drehe ich mich noch einmal um und präge mir den gefrorenen See noch einmal ganz genau ein. Mir ist bewusst, dass für viele die Faszination Eistauchen ein Rätsel ist. Doch ich bin froh, dass ich den Sprung ins kalte Wasser gemacht habe und bin sicher: Das war nicht das letzte Mal!
Mehr Infos zum Eistauchen in Finnland
Bei den Freediving Fisherman & Friends gibt es mehr Infos zum Thema Eistauchen in Finnland.