Wer in die Hauptstadt der Ukraine reist, wird ein verblüffend gutgelauntes, freundliches und supercooles Kiew kennenlernen. reisen-EXCLUSIV-Autor Carsten Heinke hat sich dort mal umgeschaut. Sein Tipp: unbedingt hinfliegen!
Geschafft – und soweit alles schick: der Flieger pünktlich, die Passkontrolle schnell und nett, der Geldumtausch ganz easy – und der pinke Sky Bus, zu dem mein Freund Aljosha mir geraten hatte, steht fast direkt neben dem Ausgang. Bei meiner letzten Ukraine-Reise vor fast zehn Jahren war hier noch alles etwas kleiner. Manches provisorisch. Inzwischen hat sich der Kiewer Flughafen Boryspil zu einem feschen Airport mit fünf Terminals entwickelt.
Unterirdisch spannend: der tiefste Bahnhof der Welt
Der Fahrer wartet, bis der Bus ein bisschen voller ist. Dann geht er zum Kassieren rum. »Wissen Sie, was das Ticket kostet?«, frage ich den Typen hinter mir. »Leider nein«, sagt er. Vorsichtshalber krame ich nach kleinen Scheinen. »Wissen Sie, was das Ticket kostet?«, fragt nun mich die Dame vor mir. »80 Hrywen, wenn Sie bis zum Bahnhof Kiew wollen«, mischt sich der Busfahrer ein, der mittlerweile bei uns angekommen ist. Alle lachen. Am Fenster huschen Kiefernwäldchen, neue Tennisplätze und Mauerreste aus der Sowjetzeit vorbei.
Knapp drei Euro für 30 Kilometer. Das klingt wenig. Für viele Einheimische ist es ein Stundenlohn. Ich steige aus beim ersten Stopp und fahre mit der Metro weiter. Das geht schneller und ist außerdem viel spannender. Oft geht es zu den U-Bahn-Gleisen weit nach unten. Denn als man die Tunnel und Stationen in den 1960er-Jahren baute, plante man, sie im Falle eines Krieges zum Schutze der Bevölkerung zu nutzen.
Raus aus dem Bus, rein in die U-Bahn
Mit über 105 Metern unter der Oberfläche rühmt sich die Metrostation Arsenalna im Herzen Kiews die tiefstgelegene der Welt zu sein. Mehr als fünf Minuten fahre ich von dort auf zwei langen Rolltreppen nach oben. Wie in den Metrozügen nutzt man die Zeit zum Lesen. Smartphones und Tablets bevorzugt. Kostenloses Internet gibt in Kiew fast überall.
Im »Ukraina« check ich ein. Der Stalin-Protzbau aus den 50ern steht oberhalb des Maidan Nezalezhnosti. Zentraler schlafen, baden, brunchen in Kiew geht nicht. Das schönste City-Panorama inklusive. Auch das Dach der ziemlich leeren Globus-Shopping-Mall direkt vor dem Hotel ist eine Aussichtsplattform. Ich schaue auf den Platz der Unabhängigkeit und denke an die Orangene Revolution von 2004 und die Euromaidan-Proteste vor drei Jahren. Ringsum erinnern viele Blumen, Kerzen, Bilder an die mehr als 80 Menschen, die den Sturz des korrupten Präsidenten Viktor Janukowytsch mit ihrem Leben zahlten.
Wo Barrikaden brannten, wird jetzt geshoppt, gegessen und getanzt
Das Luxusanwesen des kleptomanen Autokraten, die ehemalige Staatsresidenz Meschyhirja, 24 Kilometer von Kiew, kann heute als »Volksmuseum der Korruption« von jedermann inspiziert werden. Vor der Unabhängigkeitssäule mit der slawischen Göttin Berehynia obendrauf lassen sich am Nachmittag junge Leute von einem DJ zum spontanen Tanzwettbewerb animieren. Unterm Maidan 1, wo 2013/14 noch revolutionäre Feuer loderten, zelebriert das tiefer gelegte Restaurant »Ostannya barikada« (Die letzte Barrikade) die Auferstehung der ukrainischen Hausmannskost.
Unglaublich viel hat sich getan in Kiew. Die Metropole am Dnipro-Fluss, im Mittelalter eine der größten und reichsten Europas, als Hauptstadt des ersten russischen Reiches (Kiewer Rus) auch »Mutter der russischen Städte« genannt, hat ihre sowjetische Vergangenheit abgestreift. Trotz aller politischen und wirtschaftlichen Probleme im Land strotzt sie vor Optimismus und Lebensfreude. Sie verblüfft mich mit ihrer entspannten Dynamik und ansteckenden Leichtigkeit.
Ein Speck, ein Schnaps und eine kreative Spaßfabrik
»Na, willst du mal probieren?« fragt mich Alexej, als ich verdutzt auf die verschiedenfarbig gefüllten Reagenzgläschen und bunten Häppchen schaue. Ich treffe den Studentenjobber am Eingang zum Bessarabskyj rynok. „PigXel“ steht über der Zwei-Quadratmeter-Bar. Hier kann man diverse Specks und Schnäpse kosten und miteinander kombinieren. Wissen muss man dazu, dass »salo« (Schweinespeck) das essbare Nationalheiligtum der Ukrainer ist. Deshalb steht unter dem Ladenschild auch der diskrete Hinweis »ukrainische Drogen« …
Da weder Fleisch noch Alkohol auf meiner Liste stehen, füttert mich der 24-Jährige mit Informationen, etwa über seine Freizeit. Die verbringt er nämlich hauptsächlich zusammen mit anderen jungen Kreativen in der freien »Kunstplattform« (Mistetzka Platforma). Das ist eine besetzte, leerstehende Fabrik in der Innenstadt von Kiew. »Es gibt Werkstätten, Ateliers und Proberäume, Café und Klub, Platz für Konzerte, Parties, Ausstellungen und Spaß«, erzählt mir Alexej und lädt mich ein, demnächst einmal vorbeizuschauen.
Einfach mal was Neues machen – zum Beispiel Essen, nur aus Pflanzen
Nach einem Rundgang durch die Gemüse-, Obst-, Fisch-, Speck- und Käsepyramiden der Händler entdecke ich in einer Ecke der alten Bessarabska-Jugendstil-Markthalle Kiews angesagtesten veganen Foodcourt. Dort schmeckt es nicht nur schweinisch lecker. Es ist zugleich chillig und gesellig; und obendrein fast peinlich günstig.
Die Idee zu dem für ukrainische Verhältnisse avantgardistischen Gastroangebot hatte Wowa (26). Er sieht in seinem Vintage-Musterstrickpullover nicht aus wie ein Unternehmer mit 20 Leuten Personal und einem 19-jährigen Direktor. »Wir wollten mal was Neues machen«, beginnt der fast schüchtern wirkende Rotblondschopf die Geschichte seines Streetfood-Restaurants. Er gründete es als »Vegano Hooligano« mit einem Partner. Heute ist er als alleiniger Betreiber des »Green 13«. An manchen Tagen macht er bis zu 500 Gäste satt und glücklich.
Veganer Koch mit Fleischeslust und »buterbrody« ohne Butter
Die meisten davon sind übrigens wie Wowa selbst weder Vegetarier noch Veganer. »Zum ersten Mal kommen die Leute aus Neugier – und danach, weil es ihnen schmeckt«, berichtet der gelernte Koch und Bäcker. Er isst zwar nicht oft, aber gern mal tote Tiere. Und trotzdem hat er wahre Pionierarbeit in Sachen vegan food in seiner Stadt geleistet.
Abgerundet wird das Angebot gleich nebenan im »Buterbrod« von Katja und Aljona; mit Snacks, Desserts und jeder Menge guter Laune. Denn die zwei Studentinnen der Philosophie und Landwirtschaft – beide 21 – sind furchtbar albern. Am liebsten kleben sie sich Wörter auf die Stirn und spielen Ich-rate-was-ich-bin.
Der Name des Bistros klingt in deutschen Ohren irreführend, denn das in früheren Sankt-Petersburger-Zeiten importierte Fremdwort bedeutet in den ostslawischen Sprachen nichts anderes als Sandwich, also ein mit irgendwas (meist außer Butter und hier sowieso) belegtes Brötchen oder Brot.
Zum Hauskonzert geht Tauben-Dascha in den Park
Daschas Brot ist trocken und auch schon etwas hart, genau richtig für ihre Freunde, die Tauben und Spatzen vom Goldenen Tor. Das mittelalterliche Stadtportal – halb Tempel, halb Burg – erinnert unwillkürlich an die Märchen der ostslawischen Völker.
Eine Bank im Park davor ist der Lieblingsplatz der alten Dame. »Mein Wohnung ist gleich um die Ecke, aber was soll ich allein zu Hause?«, fragt die Pensionärin, die mit hundert Euro Rente im Monat über die Runden kommen muss.
»Hier bin ich an der frischen Luft und immer in Gesellschaft«,
plaudert sie und löffelt mitgebrachtes Essen aus einer Margarinedose. »Und abends hab ich öfters mein eigenes Konzert«, verrät mir Dascha listig blinzelnd. »Manche Leute trinken hier. Wenn sie besoffen sind, machen sie Musik und singen«, sagt sie kichernd. Ich schenk ihr einen Schokoladenosterhasen. Sie freut sich wie ein Kind.
Irgendwo taucht immer einer auf, der den Weg zur nächsten Party kennt
Als ich später selber durch die sehr belebten abendlichen Straßen laufe, treffe ich den ein oder andern Sänger, doch nicht einen, der zu viel getrunken hat. Selbst in den Clubs und Kneipen geht es ausgelassen, doch recht gesittet zu. Und irgendwie sind alle nett. Als ich aus der Pink-Freud-Bar komme und drei Jungs nach dem Weg zum »Hlib«-Club frage, zücken sie wie auf Kommando ihre Smartphones und googlen mich zurecht. Die Beschreibung war perfekt. Dumm nur, dass der Laden nicht mehr existiert.
Doch prompt kommt da ein freundlicher Kostja vorbei, gerade auf dem Weg ins »Closer«, und nimmt mich dorthin mit. Es ist ein hipper Club in einer Ex- Fabrik, erinnert an die Neunziger im deutschen Osten – nur statt hartem Techno mit Electroclash, smooth und chillig, gut zum Tanzen.
Ich reiße mich beizeiten los, will morgen viel von Kiew sehen; das Höhlenkloster mit seinen unterirdischen, lebenden und toten Mönchen, den Handwerker- und Künsterkiez rund um den Andreassteig, Mutter Heimat, die Sophienkathedrale, Chreshtshatyk, Oper und die vielen wunderbaren Streetart-Werke, die die letzten Reste des verschlissenen Sowjetanstrichs der Stadt endgültig mit einem frischen, kreativen, weltgewandten Outfit unter sich begraben.