Spaniens Atlantikregion Galicien hat einen zweischneidigen Ruf: schöne Landschaft, aber oft verregnet. Zum Glück gibt es landesweit gelobte Delikatessen, die auch bei verhangenem Himmel schmecken. Text: Stefan Weißenborn

Es regnet in Strömen. Wie ein Schleier hängt die feuchte Luft über allem, was an anderen Tagen in voller Schönheit beste Laune beschert. Wir hörten nur das Beste von der Gegend, doch wir sehen gerade nichts von der landschaftlichen Beschaffenheit, die mal an Norwegens Fjordlandschaft erinnert, mal an das deutsche Wattenmeer, mal an die Steilküste Englands. Galicien? Wunderschön, gutes Essen, aber das Wetter! So reden die Spanier im Rest des Landes. Und so weit bestätigt die nordwestlichste autonome Gemeinschaft Spaniens das landesweit gepflegte Klischee auch jetzt. Vielleicht zehn Autolängen beträgt die Sicht auf der Küstenstraße Richtung der Dünen von Corrubedo auf der Halbinsel Barbanza, ein zehn Quadratkilometer großer Sandkasten mit dem Status eines Naturparks in der Region A Coruña.
Nach 300 Metern weiter zu Fuß auf einem Holzweg müssen wir umkehren. Wir hören das Meer rauschen, wollen aber den Trampelpfad, den es hinter einer Absperrung trotz angedrohter Strafe von 600 bis 6.000 Euro für das Betreten der Dünen zum Wasser gibt, nicht weiter austreten. Ja, Galicien kann einen in die Irre führen.

Galicien kann auch Sonne

Aber es hat sich entschieden, seinen Ruf nicht überzustrapazieren. Der nächste Tag bringt Sonne. Schon am Morgen blinzeln die Strahlen durch die Fenster des Ferienhauses am Meer.
Ferienhaus am Meer in Galicien

Stefan Weißenborn

Der Strand ist eine gleißende Spiegelfläche mit Furchen, durch die sich das Wasser über Nacht zurückgezogen hat. Ebbe und Flut mit beachtlicher Auswirkung auf die Breite des Strandes – das gibt es nicht nur an der Nordsee. Wie das deutsche Watt kann zum Beispiel auch die Küste vor dem alten Fischerort Cambados aussehen, der sich mittlerweile zu einem Städtchen von 14.000 Einwohnern entwickelt hat und bekannt ist als Kapitale des Albariño, einem leichten, süffigen Weißwein mit milder Säure, der im Hinterland der fjordartigen Buchten der Rías Baixas erzeugt und in jeder Bodega ausgeschenkt wird.
Aber Cambados ist auch das Zentrum der Muschelsammlerinnen, der »Mariscadoras«.
»Wir sind 220 Frauen«, sagt Maria Victoria Oubiña Vieites. Tagein, tagaus durchwühlen sie gebückt den schlammigen Sand auf der Suche nach Sorten wie Almejas Fina, Berberecho, Babosa, Japonica. Das Muschelsammeln sei schon seit 1.000 Jahren Frauensache.
»Früher mussten die Mütter runter zum Strand, um auf die Kinder aufzupassen, während die Männer den ganzen Tag draußen auf dem Meer waren«,
sagt die Endsechzigerin und zeigt am alten Hafen auf ein Ruderboot, von dem die Farbe blättert. »Mit solchen Booten brauchten sie allein Stunden raus aufs Wasser, dahin wo die Fische sind.«

Ein Beispiel erolgreicher Emanzipation

Währenddessen wurden die Frauen Expertinnen in Sachen Muscheln, setzten sie als Tauschmittel gegen Kartoffeln oder Mais ein, die sie ihren Männern als Proviant wieder mit aufs Boot gaben oder in den bekannten Hórreos, den auf Pfählen stehenden quaderförmigen Getreidespeichern lagerten. Die Bauten sind typisch für den Nordwesten Spaniens. Verziert sind sie oft mit der Fica, einem Fruchtbarkeitssymbol der Kelten, die hier einst heimisch waren, bevor später die Römer in die Gegend vordrangen – bis zum Kap Finisterre, das die Menschen bis ins Mittelalter als »das Ende der Welt« ansahen. Den Schlusspunkt des Jakobswegs setzen viele Pilger heute dort noch immer.
In den Wintern bedeutete das Muschelsammeln das einzige Einkommen für die Fischerfamilien von Cambados. Sie verkauften ihr Sammelgut auch auf dem Schwarzmarkt. »Ja, so war das«, sagt Victoria, die zusammen mit ihrer Mutter im Alter von neun das erste Mal mit Harke und Eimer loszog.
Muschelsammlerin Victoria in ihrer Heimat Galicien

Stefan Weißenborn

Das war ihr Leben lang ihr Beruf, allerdings kein anerkannter, aber sie wollte nie damit aufhören. Erst mit einer Initiative Ende der 1990er-Jahre wurde die Tätigkeit eine legale Beschäftigung mit Besteuerung und sozialer Absicherung, auf Drängen von Victoria und einigen Mitstreiterinnen. Die Geschichte ist ein Beispiel erfolgreicher Emanzipation, bei der sich Frauen nicht an den Maßstäben der Männerwelt ausrichteten.
Einen Einblick in diese Frauenparallelwelt gewährt die Mariscadora während touristischer Touren, die sie führt – heute ein Grüppchen, das ausgerechnet nur aus Männern besteht. Es geht über eine steinerne Mole vorbei an der Ruine des mittelalterlichen Stadttors Torre San Sadurniño, dann über wabbeligen Meeresboden. Victoria fährt mit der Harke durch den weichen Sand und zeigt kurze Zeit später vier verschiedene Muschelsorten auf der flachen Hand herum. Niemand, der nicht einen von Galiciens Regionalregierung ausgestellten Berechtigungsausweis trägt, darf sich einfach so an den Meeresfrüchten bedienen.
»Es ist für andere verboten, Muscheln zu sammeln«,
sagt Victoria. »Auf jedes Kilo stehen 200 Euro Strafe.« Einer der Männer hebt die Augenbraue und entlässt einen Pfiff durch die Lippen.

Delikatessen aus dem Schlick

 Günstiger kommt man auf den Märkten der Gegend an die Delikatessen aus dem Schlick. Berühmt für Meeresfrüchte ist zum Beispiel die Markthalle in der ehemaligen Bischofsstadt Noia an der Ría de Muros e Noia, auch so einer weitverzweigten typisch galicischen Bucht. In den Auslagen hauchen Krebse blubbernd den Rest ihres Lebens aus, Jakobsmuscheln sind im Angebot, Pulpo mit meterlangen Armen. Die Fischverkäuferinnen sprechen nur Spanisch. Erst als die Ration Percebes in der Tüte gelandet ist (und noch eine Hand mehr) dreht eine Verkäuferin das Preisschild um. 30 Euro je Kilo kosten die Entenmuscheln, die genau genommen Krebstiere und manchmal noch weit teurer sind.
Teure Krebstiere genannt Percebes in Galicien

Stefan Weißenborn

Anders als im Fall der im Watt vorkommenden Muscheln wird das Sammeln der Percebes von Männern übernommen – die Arbeit ist oft lebensgefährlich, weil die Tiere an Felswänden siedeln, die von wilder Brandung umspült werden.

Da, wo die Pimientos de Padrón wachsen

 Eine andere Spezialität der Region sind Pimientos de Padrón, kleine grüne Paprika, die bräunlich angebraten in fast jedem Restaurant auf der Speisekarte stehen. Sie sind in ganz Spanien beliebt. Doch am frischesten sind sie in Padrón, einer Kleinstadt unweit von Santiago de Compostela.
Pimientos de Padrón in Galicien

Stefan Weißenborn

An einem Platz steht die Statue einer Bäuerin, sie sitzt vor einem Korb geernteter Pimientos und ist sozusagen der allgemeingültige Wegweiser in all die Bodegas und Wirtschaften. Auf der Theke der Pulperia Rial in der Calle Herreros türmen sich vom Strunk befreite Früchte, bevor sie in Olivenöl gebraten werden. Mit ihrem zartbitteren Geschmack und grobem Salz serviert ergänzen sie Pulpo perfekt, auch pur schmecken sie als Tapa.
»Eigentlich muss man sie aber mit Salat und Fleisch essen«,
sagt Padre Francisco Honrubia. Er ist Mönch im Kloster San Antonio de Herbón. Der Klostergarten ist der Geburtsort der Pimientos de Padrón, die deshalb manchmal auch Pimientos de Herbón genannt werden.
Padre Francisco Honrubia am Geburtsort der Piementos de Patrón

Stefan Weißenborn

Hier zogen Franziskanermönche im 16. Jahrhundert die ersten Pflanzen aus Samen, die sie von ihrer Mission in Südamerika mitgebracht hatten. »Es gibt einen Mönch, der die Geschichte der Pimientos aufgeschrieben hat, aber selbst er benennt keine konkrete Person, der sie aus der mexikanische Region Tabasco nach Galicien importiert hat«, sagt Padre Francisco. Anders ist das im Fall der herkömmlichen Paprika, von der man weiß, dass sie rund 100 Jahre früher mit Kolumbus nach Spanien kam.
Mit brauner Kutte bekleidet steht Padre Franciso in seinem Gewächshaus im Klostergarten, wo er wie seine Vorgänger Pimientos anbaut. »Manche sind scharf, manche weniger«, zitiert er ein Sprichwort. Denn die Methode, den Früchten durch Wässerung während des Anbaus die Schärfe zu nehmen, gelingt nicht immer.
»Der Anbau ist einfach. Man muss im Grunde nur die Samen in den Furchen auslegen und zusehen, wie die Pimientos wachsen«,
sagt er. Vielleicht auch wegen ihrer Unkompliziertheit wurden die Pimientos so populär.
Heute stehen um und in Herbón viele Gewächshäuser, in denen ab Februar die Pflanzen gezogen werden, geerntet wird bis in den Oktober, rund 15 Tonnen jährlich. Höhepunkt der Saison ist das Festa do Pemento de Padrón, ein Erntefest, das am ersten Sonntag des Augusts im Kloster zelebriert wird.
Kloster San Antonio de Herbón in Galicien

Stefan Weißenborn

Das Kloster ist auch eine Station auf dem Jakobsweg. »Viele Pilger kommen auf dem Weg nach Santiago de Compostela vorbei«, sagt Padre Francisco. Sie haben Gelegenheit, in einem Schlafsaal zu übernachten, bevor es auf die oft letzte Etappe geht. Wir begnügen uns damit, Kappelle, Sakristei und Kreuzgang zu betreten. In seinem unrestaurierten Zustand verströmt das Kloster Charme. Man kann die Jahrhunderte fast riechen.

Der wohl schönste Strand Spaniens

Auf unserer Rundreise wartet aber noch ein anderer magischer Ort: der Strand von Louro, ebenfalls in der Provinz A Coruña. Teils öffnen sich in Galicien zum Atlantik Buchten, die zu den schönsten Stränden Spaniens gehören. Richtung Westen warten mehrere Tausend Kilometer Wasser. Das bringt Bewegung in die Sache.
Am sichelförmigen Strand von Louro rollen die Wellen über mehrere Dutzende Meter heran. Braun gebrannte Burschen mit einem Körperfettgehalt von wenigen Prozent nehmen es kraulend mit der Naturgewalt auf, wuchten sich auf ihre Surfbretter und fahren gebückt mit ausgebreiteten Armen ein Stückchen, um Sekunden später im Schaum der Brandung zu versinken. Selbst das Baden in den Wellen ist nichts, wofür man einen Neoprenanzug benötigte. Spaniern ist das Wasser zu kalt, sagen sie. Wer aber Nord- und Ostsee gewöhnt ist, fragt sich, was haben die bloß?
Die Kulisse bilden der auf eine Höhe von 241 Metern dem Meer entsteigende Monte Louro, ein kleiner Dünenzug, in dessen Senken sich die Nackten sonnen, und die Laguna das Xarfas, die sich zur Freude der Kinder kleine Krebse als ihr Revier ausgesucht haben. Kommt man ihnen zu nahe, huschen sie seitwärts davon oder vergraben sich mit dem Hinterteil voran im Sand. So kann ein Strandtag angenehm lang werden, und zum Glück spielt die Sonne mit. Denn so weit im Westen geht sie im Sommer erst spät am Abend unter. Richtig dunkel ist es manchmal erst gegen elf.
Fischlokal im Hafen von Muros - Galicien

Stefan Weißenborn

Zum Glück passen sich auch die Restaurants dem Lebensrhythmus an, auf den man sich auch als Urlauber so langsam einlässt. Hungrig schlurfen wir zurück zum Auto. Am Hafen in Muros, einem der schönsten kleinen Fischerorte der Gegend und bekannt für leckere Meeresfrüchte, serviert uns der Kellner in der »Bodega Bodegón« noch um fast halb zwölf einen dicken Olivenholzteller mit paprikapulverbestäubten Scheiben von Pulpoarmen, Scheidenmuscheln (Navajas) mit herrlich sanftem Nussarmoma und superfrischen Merluza (Seehecht). Von außen sah das Restaurant aus wie eine Touristenfalle – direkt am Hafen gelegen und mit allerlei Seemann-Nippes als Dekor. Doch der Schein trog. Typisch Galicien. Und gerade drängt sich eine Wolke auf den sternenbehangenen Himmel.
Anreise. Flug nach A Coruña oder Vigo zum Beispiel mit Iberia über Madrid, weiter mit dem Mietwagen. Nach Vigo fliegt mit einem Stopp in Barcelona auch Vueling Airlines. vueling.com/de
Unterkunft. Ferienhäuser, teils direkt am Meer etwa über www.belvilla.de
Aktivitäten. Tour mit Muschelsammlerin: www.guimatur.org
Auskunft. www.spain.info
Essen. In Muros: Don Bodegón, Rúa Porta da Vila 20, Tel.: +34 981827802
In Cambados (Bacalao und Albariño): Posta do Sol, Calle de la Ribeira de Fefiñans 22, Tel.: +34 986 54 22 85
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