Lust auf eine Zeitreise? In Estland lockt nicht nur unberührte Natur. Sondern auch ganz viel Geschichte. Willkommen im Land der Einhörner, Willkommen in der Natur in Estland!

Text: Bianca Klement

Bei jedem Schritt gibt der Boden ein bisschen nach. Es fühlt sich an, als würde man auf einem Trampolin laufen. Die breiten Moorschuhe geben mir Halt, damit ich nicht zu tief in der estländischen Moorlandschaft einsinke und die Pfanzenwelt der Natur in Estland verletze.

Unter meinen Füßen erstreckt sich eine bunte Decke aus smaragdgrünen Moosen, lilafarbenen Heidekraut und rosafarbenen Flechten. Hier und da sprießen Kiefern aus dem feuchten Grund hervor, die mir gerade so bis zum Kinn reichen, aber zum Teil jahrhundertealt sind. Der nährstoffarme Boden sorgt dafür, dass die Bäume nur sehr langsam wachsen.

Baden in der Natur in Estland

Foto: Jaan Roose

Natur in Esland: Unterwegs im Moor

Ich konzentriere mich auf jeden Schritt und achte genau darauf, wo ich hintrete, denn überall gibt es kleine und große Sinklöcher. Die Tümpel sind zwar nicht sehr tief, aber in dem dunklen Moorwasser können durchaus Überraschungen warten. Der saure Sumpfboden enthält kaum Mikroorganismen, sodass umgestürzte Bäume oder Tiere auf natürliche Weise mumifiziert werden und für die Ewigkeit erhalten bleiben. In den Tiefen der Moorlandschaft werden daher immer wieder archäologische Entdeckungen gemacht. Das Moor vergisst nicht. Vielleicht gilt dieses besondere Ökosystem in der Natur in Estland deshalb als mystischer Ort, um den sich viele Legenden ranken.

Die Hochmoore Estlands entstanden vor rund 10.000 Jahren und sind echte Klimaretter. Kein anderer Lebensraum oberhalb der Meeresoberfläche speichert mehr Kohlenstoffdioxid. Die Flora und Fauna in diesen außergewöhnlichen Landstrichen sind einzigartig. Hier finden sich noch Pflanzen aus der Eiszeit. Derart weitläufige Moore wie hier im Lahemaa-Nationalpark gibt es in ganz Estland. Und sie sind beliebte Erholungsgebiete für Einheimische und Touristen. Eine Wanderung mit Moorschuhen – nichts anderes als Schneeschuhe – ist sicherlich die abenteuerlichste Methode, die Landschaft zu erkunden. Gefährlich ist das nicht. Allerdings besteht das Risiko, sich nasse Füße zu holen, und wer sich nicht auskennt, kann sich schnell verlaufen.

Moorwanderung in Estland

Moorwanderung in Estland I Foto: Bianca Klement

Das Schweigen des Moors

Für Unerfahrene lohnt sich daher eine geführte Tour mit einem Guide wie Signe Ohakas. Die Estin arbeitet schon in der zweiten Generation als Naturführerin und kennt die schönsten Ecken in dem großen Naturschutzgebiet.

»Diese Ruhe im Moor ist einfach einzigartig. Je weiter man hier draußen ist, desto ruhiger wird es. Man hört dann nur noch den Wind. In Estland haben wir sogar ein Wort dafür: >rabavaikus<, das Schweigen des Moors«

sagt sie verträumt. Vor allem in der Dämmerung, wenn der Nebel über die uralte Landschaft wabert, verwandelt sich das Moor in pure Magie.

Signe erzählt, dass im Frühjahr große Gebiete auch mit dem Kanu erkundet werden können. »Wir nennen das die fünfte Jahreszeit, wenn die Flüsse über die Ufer treten und überall viel Wasser steht. Das ist meistens Ende März, Anfang April.«

Erstklassige Beerenreviere

Wer die Natur in Estland und das Moor erkunden will, braucht aber weder Moorschuhe noch Kanu. In ganz Estland züngeln schmale Holzpfade durch die Hochmoore und an Moorseen vorbei, in denen man im Sommer baden kann. Im Herbst locken die dichten Birken- und Kiefernwälder zum Beeren- und Pilze sammeln. Die besten Spots sind wohl gehütete Geheimnisse.

»Ein Este würde dir eher seine Kontodaten nennen, als den besten Spot, um Beeren zu sammeln«

sagt Signe und lacht, als sie bedächtig über den weichen Boden stapft. Immer wieder deutet sie auf kleine rote Früchte oder bückt sich, um eine Beere in den Mund zu stecken. Die Hochmoore sind erstklassige Beerenreviere. Ohne groß zu suchen, findet man Heidelbeeren, Preiselbeeren, Walderdbeeren oder Moltebeeren. Estland ist ein wildes Land. Bären, Wölfe, Luchse und Elche streifen durch die unberührte Natur, und Biber bauen emsig Dämme in den Feuchtgebieten.

Moorlandschaft in Esland

Foto: Bianca Klement

Der Lahemaa-Nationalpark

Der Lahemaa-Nationalpark im Norden Estlands ist mit mehr als 725 Quadratkilometern Fläche der größte des Lands. Gerade einmal eine Autostunde von Tallinn entfernt, lässt sich hier die ganze Vielfalt der estnischen Natur erleben: Kiefern- und Birkenwälder, Auen, Seen, Moore und natürlich die Küste. Entlang der beinahe 4.000 Kilometer langen Ostseeküste Estlands verstecken sich unzählige Strände, bewaldete Buchten und urige Fischerdörfer. Noch sind viele Regionen kaum besiedelt. Wer sich nach einsamen Stränden sehnt und den nordischen Charme der Ostsee liebt, wird hier glücklich.

Am Rand von Lahemaa, knapp 70 Kilometer außerhalb von Tallinn, wachen in Altja uralte Holzhäuser und Fischerboote am Strand. Es wirkt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Das ist kein Zufall. Die Regierung hat mit viel Mühe das alte Dörfchen restauriert, um den Charakter der jahrhundertealten Ortschaft zu bewahren. Quellen zufolge wurde hier schon seit 1465 gefischt.

Strand in Estland

Strand in Estland I Foto: Bianca Klement

Digitalisierung in Estland

Während die Wildnis und hyggelige Ortschaften auf dem Weg in die Großstadt an einem vorbeiziehen, vergisst man beinahe, dass Estland eine der modernsten und fortschrittlichsten Nationen der Welt ist. Als erstes Land der Welt wurde hier 2005 erstmalig online gewählt, zukünftig soll das sogar via App möglich sein. Digitalisierung wird von der Bevölkerung nicht skeptisch beäugt, sondern ist fester Bestandteil des Alltags.

Kinder lernen schon in der Grundschule programmieren und Waren werden zum Teil von Robotern ausgeliefert.

Gemessen an der Bevölkerungszahl gibt es mehr Einhörner als in jedem anderen Staat. Richtig gelesen: Einhörner. Bei nur 1,3 Millionen Einwohnern verfügt Estland sogar über eine stolze Herde von zehn Unicorns: Start-ups wie Wise oder Bolt, die mit über einer Milliarde Dollar bewertet wurden.

Die Hightechkultur mag in einem starken Kontrast zu der Naturverbundenheit und Traditionsliebe der Esten stehen, doch sie schließen einander nicht aus. Die Menschen arbeiten tagsüber mit den neuesten Technologien und singen abends im Chor oder tanzen Folklore. Tradition und Moderne, Kunst und Technik, Geschichte und Fortschritt koexistieren nicht nur, sie stärken einander.

Altstadt von Tallinn im Nebel

Altstadt von Tallinn im Nebel I Foto: Aivo Oblikas

Die alte Rathausapotheke: Seit 1422 im Dienst der Gesundheit

Über Kopfsteinpflaster spaziert es sich in Tallinn unter dicken Torbögen in die Vergangenheit. Die mittelalterliche Stadtmauer ist noch zu 65 Prozent erhalten, und auch die historischen Gebäude in der Altstadt befinden sich in einem derart guten Zustand, dass es beinahe surreal wirkt. Das Herz des Viertels bildet der alte Marktplatz, an dessen Stirnseite das imposante Rathaus thront, aus dessen Fassade hoch über dem Platz Wasserspeier in Form von Drachenköpfen ragen. Gegenüber befindet sich eine weitere, auf den ersten Blick eher unscheinbare Attraktion: die alte Ratsapotheke. Das cremefarbene Gebäude steht bereits seit 1422 im Dienst der Gesundheit und ist damit die älteste kontinuierlich operierende Einrichtung ihrer Art in ganz Europa. Auch heute werden hier noch regulär Medikamente verkauft.

Der hintere Raum ist mittlerweile ein kleines Museum, das an die Praktiken der Vergangenheit erinnert.

Von der Decke baumelt dort ein ausgestopftes Krokodil. Im Mittelalter diente das Reptil dazu, die Mystik und Weisheit des Apothekerwesens zu unterstreichen. Je exotischer eine Kreatur, desto größer die Heilkraft.

So dachte man früher. Das steife Krokodil ist bei Weitem nicht die einzige Kuriosität. In unzähligen Gläsern befinden sich Kräuter und Medikamente, die in vergangenen Zeiten dazu eingesetzt wurden, um Husten, Gicht oder die Pest zu behandeln.

Einhornpulver und andere magische Heilmittel aus Estland

Einhornpulver und andere magische Heilmittel aus Estland I Foto: Dianca Aljas

Einhornstaub: Heilung durch den Glauben an Magie

In einer Vitrine steht zwischen Spinnen, einem getrockneten Igel, eingelegten Schlangen und einer mumifizierten menschlichen Hand auch ein Glas mit rosafarbenem Pulver. Das Etikett verrät, worum es sich bei dem schimmernden Staub handelt: Einhorn! Dem Fabelwesen wurden magische Kräfte zugeschrieben. Woher der Apotheker das magische Pulver hatte, dürfte sein Geheimnis geblieben sein. Ob es wirkte? Wer weiß. Vor 500 Jahren gab es schon lange keine Sibirischen Einhörner mehr, auch bekannt als Wollnashörner. Und auch die pferdeähnlichen Fabelwesen waren nur der Stoff von Legenden. Doch der Glaube an Magie hat vielen Menschen geholfen. Und wer so durch Estland reist, ist sich sicher, dass es hier alsbald noch mehr Einhörner geben wird.

Mehr Infos zu einer Reise nach Estland

Moorschuhwanderung. Der etwas andere Spaziergang quer durch das Hochmoor. Buchbar über Wanderlust.

Weitere Infos über Estland gibt es bei Visit Estonia.

Hier haben wir viele weitere spannende Beiträge zu Estland.

Kanufahren in Estland

Foto: Karl Ander Adami