Zwischen Spanien und Frankreich lockt das kleine Fürstentum Andorra zu einer Reise in seine unentdeckte Natur. Also los: ab ins Herz der gigantischen Pyrenäen.

Text: Ina Bohse

Drei Stunden Anreise bis Ankunft ins Grün

Plötzlich sind die Palmen verschwunden. Strand und Meer liegen längst hinter uns. Im Bus von Barcelona nach Andorra zieht die Landschaft wie ein Film vorbei – erst flache Dörfer, dann glitzernde Seen, Tunnel, Kurven. Die Straße windet sich immer höher, die Hänge werden schroffer, das Grün dichter. Nach drei Stunden: Andorra. Kompakt, umgeben von Bergen, sattgrün und ganz anders als alles, was eben noch vorbeigeflogen ist.

Berglandschaft mit Fichten und blauem Himmel

Ina Bohse

Rund 90 Prozent Andorras bestehen aus purer Natur – und das meist in beeindruckender Höhe. Die Hauptstadt Andorra la Vella thront über 1.000 Meter über dem Meeresspiegel, umgeben von mehr als 60 Gipfeln, die über 2.000 Meter hinausragen. Der höchste kratzt sogar fast an der 3.000er-Marke. Fast wie ein Mini-Mount-Everest – na gut, so ungefähr.

Heiter bis holprig

Am nächsten Tag geht es für mich ebenfalls bergauf – im wahrsten Sinne. Der Start unserer Wanderung wirkt harmlos: Der Circuit de les Fonts zieht sich gemächlich den Hang hinauf, vorbei an kleinen Quellen, die leise vor sich hinplätschern. Hohe Kiefern spenden Schatten, doch bald lichtet sich der Wald. Der Pfad wird steiler, steiniger, die Sonne drückt, und ich komme ordentlich ins Schwitzen.

Ich keuche, als ginge es auf den Mount Everest. Eigentlich kein Wunder, wenn ich schon beim Treppensteigen in den fünften Stock nach Luft ringe. Unser Guide Mark Crichton lässt sich davon nicht beirren: „Nur noch ein Stück. Gleich wartet ein fantastischer Ausblick.“ Er übertreibt nicht. Nach ein paar hundert Metern mehr öffnet sich der Blick – ein stilles, grünes, weit, menschenleeres Tal. Keine Straße, kein Motor, nur Stille. Ich schnaufe immer noch, aber das liegt wohl eher an der Aussicht als an der Anstrengung.

Drei Wanderer zwischen grünen Bergen und Steinen.

Ina Bohse

Immer weiter bei dieser Reise durch Andorra

Seit 2004 zählt das Vall del Madriu-Perafita-Claror im Süden Andorras zum Unesco-Weltkulturerbe – ein Naturjuwel und eines der letzten unberührten Täler des Landes. Wir steigen hinab, nun auf dem Camí de Rámio unterwegs. Überall blüht es, Schmetterlinge tanzen durch die Luft, als hätten sie eine Choreografie einstudiert. Kaum vorstellbar, dass es noch idyllischer werden könnte. Der Pfad führt an alten Steinhäusern vorbei, Überbleibsel einer einstigen Sommersiedlung. Früher lebten hier Kleinbauern, die Getreide auf den Feldern ringsum anbauten. »Die Familien sind längst weitergezogen, aber ihre Häuser gehören heute zu den beliebtesten Fotomotiven«, sagt Mark.

Alte Steinkirche an grünem Abhang und Hügel

Henryk Sadura/Shutterstock.com

Mein perfekter Platz

Er kam im Juni 1974 mit zehn Jahren nach Andorra, gemeinsam mit seinen Eltern. Schon damals war klar: Das hier ist sein Ort. Er verliebte sich in Land und Leute – und blieb. Bis heute. Inzwischen hat Mark aus seinem Hobby einen Beruf gemacht. Seit vielen Jahren ist er hauptberuflich in den Bergen unterwegs, wandernd, kletternd, immer draußen.

»Für mich bietet Andorra alles, was ich brauche«,

schwärmt Mark und deutet auf die schneebedeckten Gipfel in der Ferne. »Im Winter herrschen perfekte Bedingungen zum Skifahren – ob Abfahrt, Langlauf oder Skitouren – und im Sommer kannst du wandern, klettern, canyoning, mountainbiken oder angeln. Hier findet jeder sein Ding.« Auch das Klima spielt mit: Über 300 Sonnentage im Jahr locken Outdoor-Fans und Sportliebhaber zu jeder Jahreszeit nach draußen.

Sein nächstes Ziel? Eine gemeinsame Tour mit seiner Frau auf den höchsten Gipfel Andorras. »Der Comapedrosa liegt im Westen, fast an der spanischen Grenze, und mit 2.942 Metern hat er es ganz schön in sich«, erzählt Mark lächelnd und schaut zu mir herüber. »Da komme sogar ich manchmal ins Schwitzen.« Ich bin mir sicher, dass er das nur sagt, um mich aufzumuntern. Nett, dieser Mark.

Grünes Bergpanorama mit blauem Himmel und Wolken

rvb3ns/Shutterstock.com

Hoch mit Ross

Nach der Wanderung und einer kleinen Stärkung geht es weiter in Richtung des Städtchens Ordino. Dort wartet schon Andorras Antwort auf John Wayne: Mit Cowboyhut, Stiefeln und enger Wrangler-Jeans steht Gilles Prouheze bereit. Er ist Reitlehrer im Club Hípic L’Aldosa – und heute unser Guide. Über 30 Pferde leben hier im Stall, allesamt aus Spanien, jedes mit eigenem Charakter, trittsicher und ideal für das Hochgebirge. Ich bekomme die einzige Erdbeere unter den Pferden zugeteilt. Fresa – so heißt sie auf Spanisch – trägt mich ruhig und sicher durch steiniges Gelände, durch Kiefern- und Tannenwälder und vorbei an klaren Bächen.

Fuchsfarbenes Pferd mit Sattel vor Berglandschaft

Ina Bohse

Auf einer sattgrünen Bergwiese legen wir eine Pause ein. Vor uns glitzern die schneebedeckten Gipfel in der Sonne. »Ist es hier nicht herrlich?«, fragt Gilles. Sein Blick schweift über die Landschaft, und man sieht ihm an, wie sehr er dieses kleine Land mit dem großen, wilden Herz liebt.

Wir sind Andorraner

Gilles ist gebürtiger Franzose und einer von insgesamt nur rund 81.000 Einwohner Andorras.

»Ich mag besonders die Ruhe. Wenn ich mit den Pferden draußen in dieser einmaligen Natur bin, kann ich perfekt abschalten«,

Er rückt den Cowboyhut zurecht, lächelt zufrieden und sagt: »Ich kann mir keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen. Meine Entscheidung, hierherzukommen, habe ich nie bereut. Dieses Jahr sind es dreißig Jahre. Ich fühle mich hier rundum zu Hause.«

Damit steht Gilles nicht allein. Die gebürtigen Andorraner sind inzwischen eine Minderheit im eigenen Land. Rund zwei Drittel der Bevölkerung besitzen keinen andorranischen Pass. In den 1960er- und 1970er-Jahren kamen immer mehr Menschen aus Spanien, Portugal und Frankreich in das kleine Fürstentum. Wer sie heute fragt, ob sie sich eher als Spanier oder Franzosen fühlen, bekommt oft nur einen überraschten Blick und die selbstbewusste Antwort: »Wir sind Andorraner – ist doch klar!«

Heißes Gefährt

Am nächsten Tag geht es nach Vallnord im Westen Andorras. Wo im Winter Ski- und Snowboardfahrer die Pisten unsicher machen, tun dies im Sommer vor allem Mountainbiker. Sicher gepanzert düsen sie die Berge hinunter. Ich habe die Wahl: entweder mit besagtem Zweirad die Berge hinunter zu ruckeln oder mit motorisierten Buggies über die Wege zu heizen. Da ich meine Beine von der Wanderung am Vortag immer noch ganz schön spüre, überlege ich nicht lange und entscheide mich für die gemütlichere und vor allem muskelschonendere Variante.

Vier rote Buggies heizen mit Bergpanorama über Schotterpiste

Ina Bohse

In Zweierteams bekommen wir jeweils einen Buggy zugeteilt, ähnlich einem Quad, nur stabiler gebaut und mit Dach. Nach einer kurzen Einweisung starten wir. Ich habe Glück: Neben mir sitzt meine Freundin Anja, die genauso gern Gas gibt wie ich. Der Rest der Gruppe fährt lieber gemütlich vorneweg, also lassen wir sie ziehen, warten kurz – und jagen dann mit Vollgas hinterher. Staub, Lachen, Adrenalin. Genau so muss sich Freiheit anfühlen.

Qualm und Rauch

Die dicken Reifen wirbeln Staub auf, es knirscht und kracht. Wir rasen über die alte Schmugglerroute – ja, richtig gehört: Andorra war einst ein echtes Paradies für Schmuggler. Was viele gar nicht wissen, bis heute wird hier Tabak angebaut. In den Fabriken entstehen Produkte für große Marken, und genau dieser Tabakanbau brachte einst das lukrative Schmuggelgeschäft ins Rollen. Die Lage war perfekt: Durch die Bergpässe gelang es Schmugglern, unbemerkt über die Grenzen zu schlüpfen. Doch als in den 1990er-Jahren immer mehr organisierte Banden auftauchten, zog der Staat die Zügel an. Strengere Kontrollen, härtere Maßnahmen – und das Schmuggelzeitalter war vorbei. Erfolgreich beendet.

Bergsee mit Resten von Schnee und Panorama

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Der Besucherstrom dürfte in den kommenden Jahren weiter zunehmen – kaum verwunderlich. Morgens durch das Unesco-Welterbe-Tal Madriu-Perafita-Claror wandern, nachmittags hoch zu Pferd durchs Gebirge reiten, am nächsten Tag im Buggy durch Vallnord jagen und abends frisch geduscht im schicken Restaurant in Andorra la Vella speisen: In diesem kleinen Land lässt sich in kurzer Zeit erstaunlich viel unternehmen. Das Fürstentum in den Pyrenäen misst gerade einmal 468 Quadratkilometer, also kaum mehr als Köln. Von der französischen Grenze im Nordosten bis zur spanischen im Südwesten dauert die Fahrt mit dem Auto nur etwa eine Stunde – kompakter lässt sich Abenteuer kaum denken.

Altstadt im Abendgrauen

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Exklusiv hergerichteter Teller mit Nachtisch

Ina Bohse

Wie über den Wolken

Mal ehrlich: Welche andere Gebirgsregion kann da mithalten? Wo sonst lässt sich auf so kleinem Raum so viel erleben? Trotz all seiner Reize zieht Andorra die meisten Besucher noch immer wegen des zollfreien Einkaufens an. Schnaps, Zigaretten, Kosmetik, Kleidung, Luxusartikel – hier ist vieles günstiger. Entsprechend drängen sich die Einkaufstüten über die Avenida de Carlemany in Escaldes-Engordany, von Laden zu Laden, von Schnäppchen zu Schnäppchen.

Von der spektakulären Natur bekommen viele nur einen flüchtigen Blick durchs Bus- oder Autofenster. All die Abenteuer, die ich in den letzten Tagen erlebt habe, bleiben ihnen verborgen. »Selbst schuld«, denke ich, als der Bus zurück nach Barcelona rollt und die Berge langsam im Rückspiegel verschwinden. Eines steht fest: Ich komme wieder. Wenn ich fit bin. Dann geht es auf den höchsten Gipfel des Landes – mit Mark. Und diesmal schwitzen wir zusammen.

Panorama mit wolkenumkreistem Berg

Henryk Sadura/Shutterstock.com

Tipps

Anreise. Andorra selbst besitzt keinen eigenen Flughafen. Hin- und Rückflug von einem der vielen deutschen Flughäfen nach Barcelona  oder nach Toulouse. Von dort geht es ca. 3 Stunden mit Auto oder Bus weiter nach Andorra.