Feelgood-Geschichten aus dem ländlichen Amerika waren rar in den vergangenen Jahren. Höchste Zeit, den Blick nach Kentucky zu lenken. In den grünen Hügeln des unterschätzten Bundesstaates widmet sich ein ehemaliger Filmkritiker pensionierten Vollblütern. Einer von vielen Gründen für einen Besuch.
Text: Ralf Johnen
Pferde haben einen guten Instinkt. Das hat Michael Blowen in jüngerer Vergangenheit immer wieder erlebt. Zuletzt bei Slim Shady, der seit seiner Ankunft auf dem Anwesen sichtbar entspannt über die ihm zugeteilte Landparzelle stolziert. »Als er mich alten Sack mit einem Eimer voller Karotten gesehen hat, da wusste er sofort, dass er nun in Rente ist«, erzählt Blowen.
Der neue Lebensabschnitt geht mit einem erheblichen Aufmerksamkeitsverlust einher, denn Slim Shady war im Showgeschäft tätig. Genau genommen hat der Hengst, der den Zweitnamen des Rappers Eminem trägt, eine Karriere als Rennpferd hinter sich. 2008 geboren, spülte er seinem britischen Besitzer 1.278.855 Millionen Dollar in die Kassen.
Wie Michael Blowen erzählt, konnten sich Helden wie Slim Shady in jungen Jahren bester Lebensbedingungen und großer Fürsorge erfreuen. Doch wenn das Leben im Rampenlicht vorbei ist, fallen die Rennpferde in ein tiefes Loch. »Das ist viel schlimmer als bei uns Menschen, denn die Besitzer verlieren komplett das Interesse.« Daher fristen die meisten pensionierten Vierbeiner mit Leistungssportlervergangenheit nach Karriereende ein trauriges Dasein.
Kein Flirt mit den Stars
Ein ähnliches Schicksal schien auch für Blowen selbst nicht ausgeschlossen. Schließlich war der Journalist viele Jahre als Filmkritiker für den Boston Globe tätig – und als solcher hat er die Stars der Branche getroffen. Wie er mit einem breiten Grinsen berichtet, ist ihm während seiner durchaus glamourösen Karriere das erspart geblieben, was ihm später bei Pferden ständig passiert ist: sich in sein Gegenüber zu verlieben.
»Okay, von ein oder zwei Ausnahmen mal abgesehen«, sagt er schmunzelnd.
Je mehr er sich zum Ausgleich mit Pferden beschäftigt hat, umso sicherer wurde sich Blowen, was er noch vor Erreichen der eigenen Rente machen würde: Er hat ein Altersheim für pensionierte Rennpferde in Kentucky gegründet.
Bei der Wahl des Standorts für seine neue Wirkungsstätte musste Blowen nicht lange überlegen. Zwar sind die USA generell ein pferdeverrücktes Land. Doch ein Bundesstaat ist nicht nur für die besten Züchter, sondern auch für das bedeutendste Rennen berühmt: Kentucky.
Seinem neuen Unternehmen verlieh er den vielsagenden Namen »Old Friends«. Seit 2003 befindet sich das Seniorenheim für die verdienstvolle Vierbeiner am Rande des kleinen Städtchens Georgetown, rund eine Autostunde östlich von Louisville, der mit über 600.000 Einwohnern größten Stadt Kentuckys. Das Anwesen ist eingebettet in eine Landschaft, die von sanften Hügeln und viel Grün geprägt ist. Davon abgesehen gibt es hier vor allem eines: Platz. Viel Platz.
Altersheim für Rennpferde in Kentucky: Entspannter Lebensabend
»Jedes Pferd«, erklärt Blowen während eines Rundgangs nicht ohne Stolz, »lebt alleine auf einem Hektar.« Außerdem konnten sich alle bislang 270 Bewohner über eine gute medizinische Versorgung freuen, die Tierärzte aus der Region ehrenamtlich leisten. Dieser Service ist mehr als nötig, sagt Blowen, denn viele Rennpferde haben nach Training, Wettkämpfen und Reisestress der aktiven Karriere chronische Verletzungen. Anders als sonst vielfach üblich, werden die Leiden hier kuriert.
Dank der Vorzugsbehandlung erreichen die Stars von einst bei »Old Friends« ein zuweilen biblisches Alter. Bestes Beispiel ist Silver Charm, der zugleich Blowens Lieblingspferd ist. Der Schimmel ist stolze 26 Jahre alt und ein wahrer Superstar seiner Zunft, denn er wurde für das erlesene Teilnehmerfeld eines der berühmtesten Pferderennen der Welt zugelassen: Beim Kentucky Derby, wo die besten Dreijährigen ihres Jahrgangs am Start stehen, schlug Silver Charm am 3. Mai 1997 all seine Konkurrenten.
Rund 23 Jahre später genießt der Vollblüter das Leben. Seinen Status als ehemaliger Derbysieger verdankt er dabei einem Gehöft ganz der Nähe, wo Blowen mehrmals täglich vorbeischaut. Nur allzu gerne nimmt der einstige Filmkritiker dabei seine Lieblingsrolle wahr: Als alter Knacker mit einem Eimer Möhren. Zur Erklärung seiner Motivation muss er nicht lange nach Worten suchen:
»Ich war entsetzt, als ich davon erfahren habe, dass die Rennpferde regelrecht verwahrlosen, wenn ihre Karriere beendet ist.«
Bevor die Vierbeiner ihnen auf der Tasche liegen, lassen viele Besitzer sie lieber einschläfern.
Würdevolle Ruhestätte für Rennpferde in Kentucky
Dank Blowens Initiative ist dieses Schicksal nicht mehr unausweichlich. Zur allgemeinen Freude, denn nicht selten hat er bei seinen Rundgängen ein Gefolge im Schlepptau. »Old Friends« ist eine Art Touristenattraktion geworden:
»Die Leute kommen hierher, um ihre Helden von einst zu sehen.«
Und sei es nur die letzte Ruhestätte, die sich in ebenfalls würdevollem Rahmen auf einer separaten Parzelle befindet.
Kentucky litt lange darunter, nur auf Pferde, frittiertes Hühnchen und Bourbon reduziert zu werden. Dabei ist der Staat nicht nur überraschend wohlhabend und aufgeräumt, sondern auch vielseitig. Louisville etwa ist eine aufstrebende Stadt mit einer weit zurückreichenden Geschichte. Sie liegt am mächtigen Ohio River, der sich von Pittsburgh kommend seinen Weg in Richtung Mississippi bahnt. Seit sich das zweieinhalb Autostunden südlich gelegene Nashville immer mehr dem Kommerz hingibt, ziehen viele Musiker aus Tennessee hinüber nach Kentucky, wo die Häuserpreise noch günstig sind.
Dabei gehört Old Louisville zu den am besten erhaltenen Stadtvierteln der amerikanischen Gründerzeit. Rund um den Central Park warten majestätische Steinbauten aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. auf Bewunderer.
Weiter östlich lockt mit den Highlands eines jener Viertel, die Amerikaner als »funky neighborhood« bezeichnen. Eine breite Straße, die von Vintage Stores, Plattenläden und Restaurants mit Ethno-Küchen gesäumt wird.
Auch die am Ohio River gelegene Innenstadt kann sich sehen lassen. Zwar ist das Ufer – wie so oft in der Autonation USA – durch mehrspurige Schnellstraßen verbaut. Doch immerhin liegt mit der Belle of Louisville ein prächtiger Schaufelraddampfer vor Anker. Zudem verbreiten die drei Eisenbrücken, die nach Indiana führen, den rustikalen Charme vergangener Zeiten.
Die Heimat von Muhammad Ali
Ganz in der Nähe des Flussufers erinnert ein Museum an den bekanntesten Sohn der Stadt: Muhammad Ali (1942–2016). Der Olympiasieger von 1960 und spätere Schwergewichtschampion wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Louisville auf. Als nördlichster Außenposten der Südstaaten war Kentucky seinerzeit noch im erheblichen Maße von Rassenungerechtigkeit und Segregation betroffen. Das Muhammad Ali Center zeichnet seinen Aufstieg nach.
Nur ein paar Schritte weiter widmet sich die Evan Williams Bourbon Experience einer anderen Erfolgsgeschichte Kentuckys: dem Bourbon. In weiten Teilen des ländlich geprägten Staates wird der aus Maismaische gebrannte Schnaps produziert, wobei vor allem die kleineren Hersteller noch Raum für Entdeckungen bieten.
Fehlt noch ein Festmahl. Hierfür eignet sich das ehrwürdige The Brown Hotel, das seit 1923 seinen Status als ersten Haus am Platze behauptet. Bereits kurz nach der Eröffnung wurde hier der wahre Beitrag Kentuckys zur kulinarischen DNA der USA kreiert: das Hot Brown Sandwich, das üppig mit Truthahn, Bacon und einer mit Gruyere angereicherten Bechamelsauce belegt und anschließend überbacken wird. Im hauseigenen J. Graham’s Café kommt es bereits zum Frühstück auf den Tisch – vorzugsweise in Begleitung einer eimergroßen Bloody Mary.
Einst Star des Kentucky Derbys, heute im Altersheim für Rennpferde
Am ersten Maiwochenende ist es so gut wie unmöglich, ein Zimmer im The Brown zu ergattern. Immer dann steigt auf Churchill Downs im Süden von Louisville das Kentucky Derby. Es ist ein gesellschaftliches Ereignis, wie es nur wenige in den USA gibt: 165.000 Zuschauer flankieren das zwei Kilometer lange Oval, um 20 Pferden bei der Ermittlung eines Siegers zuzusehen. Viele Gäste putzen sich fein heraus und tragen ausgefallenen Kopfschmuck. Ganz so, als befinde man sich im England vergangener Jahrhunderte.
Die beste Zeit für die Absolvierung des Parcours datiert mit 1.59,40 Minuten noch immer auf das Jahr 1973. Wer mag, kann sich den Triumph von Secretariat ebenso wie alle anderen Derbys vor Ort im Kentucky Derby Museum mit Originalkommentar ansehen. Wer den Siegern der Zukunft begegnen möchte, muss zurück in den Osten Kentuckys fahren: Keine 15 Meilen von der »Old Friends«-Farm entfernt, liegt nahe des Dorfes Versailles die Ranch Coolmore, eine der größten und erfolgreichsten Zuchtbetriebe für Vollblüter.
Auch dieses Anwesen ist in liebliche Hügellandschaften eingebettet, die am frühen Morgen noch in Nebel gehüllt sind. Stattliche Eichen und gepflegte Hortensienbüschen komplettieren den gediegenen Rahmen für die Stallungen, wo der ursprünglich irische Zuchtbetrieb seit den 1980er Jahren tätig ist. Zuletzt konnte Coolmore 2016 den Sieger des Kentucky Derby stellen. Nyquist war der Name des erfolgreichen Pferdes, das mittlerweile nicht mehr aktiv ist.
Kein brillanter Business-Plan, aber einer fürs Herz
Auch der Lebenszyklus von Vollblütern findet eben unweigerlich seine Fortsetzung. Michael Blowen aber ist froh, ihrem Alltag nach der Karriere im Altersheim für Rennpferde in Kentucky ein Stück wohlverdienter Würde verleihen zu können. »Es war nicht grade ein brillanter Business-Plan meine Karriere bei der Zeitung vorzeitig an den Nagel zu hängen, um diesen Pferden aufs Altenteil zu helfen«, sagt er.
»Doch ich bin ein auf jeden Fall ein besserer Mensch geworden, seit ich nicht mehr jeden Tag im Büro sitze.«
Wer ihn Nase an Nase mit seinem Lieblingsschützling Silver Charm sieht, erkennt sofort, dass er nicht der einzige ist, der diese Erkenntnis gewonnen hat.
Hier entlang zum Altersheim für Rennpferde in Kentucky
Kentucky ist in normalen Zeiten leicht zu erreichen, z.B. ab Frankfurt mit United Airlines über Chicago nach Louisville (ab 700 Euro). Mietwagen über Sunny Cars.
Weitere Infos über Louisville gibt es beim Tourism Board. Infos über Kentucky bei Kentucky Tourism.