Die Natur ist überall im tropischen Nordosten Queenslands. Zwischen Daintree-Regenwald und Whitsunday Islands kommt sie einem manchmal sogar näher, als man will – krabbelt in die Schuhe, stibitzt Habseligkeiten vom Balkon, krakeelt mitten in der Nacht oder steht plötzlich auf dem Highway. Text: Carsten Heinke.
Die Bremsen quietschen. »Ein Kasuar!«, schreit Beifahrer Peter. Es knallt und scheppert. Das Besteckschubfach im Wohnmobil war nicht verriegelt. Vor uns auf der Straße steht ein großer Vogel mit viel zu großen Füßen. Willkommen im Nordosten Queenslands.
Wie ein runder Fransenhocker mit zwei Beinen sieht er aus – und er tut so, als hätte er das 7,21 Meter lange Fahrzeug weder gesehen noch gehört. Langsam wendet sich das selbstbewusste Tier, als wolle es uns seine ganze Schönheit zeigen. Die hält sich jedoch arg in Grenzen.
Mit seinem Helm aus Horn und seinen Riesenkrallen tut er superwichtig, aber seinen nackten, leuchtend blauen Faltenhals mit den roten Hautlappen finden wohl nur Artgenossen sexy. Erst als die Wagentür aufgeht, hat es der korpulente Vogel plötzlich eilig und muss dringend in den Regenwald zurück. Unser »Motorhome« kann weiterfahren – samt Betten, Dusche und WC, Herd und Kühlschrank, Töpfen und Geschirr. Das Abenteuer »Great Tropical Drive« hat begonnen. Zusammen mit ein paar anderen Campern geht es die nächsten Tage mit dem Wohnmobil durch den tropischen Nordosten Queenslands.
Zwischen Ozean und Regenwald im Nordosten Queenslands
Zuerst ist der Pazifik nur eine blaue Linie, dann ein Streifen, in dem Australiens heiße Wintersonne funkelt. Immer höher fährt die Gondel. Und immer weiter reicht der Blick. Der Ozean versinkt am Horizont. Kronen von Akazien, Palmen und Eukalyptusbäumen verweben sich mit Farnen und Lianen zu einem vielfach grünen, endlos breiten Flickenteppich. Unter uns liegt der Daintree-Nationalpark, mit 110 Millionen Jahren der älteste Regenwald des fünften Kontinents. Obwohl der Dschungel nahe Cairns nur ein Hundertstel der Landfläche von Australien einnimmt, beheimatet er die meisten seiner Tierarten, darunter fast zwei Drittel aller Fledermäuse und Schmetterlinge.
Zu den merkwürdigsten Bewohnern gehört das Moschusrattenkänguru, ein primitives Säugetier, das so alt ist, dass einige Körperteile wie Schwanz und Füße noch die Merkmale von Reptilien zeigen. Nicht weniger urzeitlich ist der in Baumhöhlen lebende Boyd’s Walddrachen: ein Minidinosaurier mit furchterregendem Stachelkamm. Leider haben sich die scheuen Kreaturen längst versteckt, als wir den Skyrail Cableway bei einem Zwischenstopp zu einer kurzen Wanderung verlassen.
Das Spektakulärste ist ein Blick auf die 260 Meter hohen Fälle des Barron River – sowohl vom Boden als auch von der Seilbahngondel aus. Den Daintree Rainforest werden wir bei unserer Camper-Tour noch öfters streifen. Denn mehr als 500 Kilometer zieht er sich an der Nordostküste Queenslands entlang – fast parallel zum Great Barrier Reef, dem größten Korallenriff der Welt. Für uns heißt es nun erstmal Meilen-Schrubben – immer schön am Regenwald entlang, den Ozean im Auge.
Alles auf der falschen Seite
Das Geradeausfahren klappt inzwischen. Nur beim Schalten-Wollen greift die Hand noch ab und zu ins Leere. Denn dank Linksverkehr ist alles auf der falschen Seite – und zwar sowohl das Fahrzeug selbst als auch alles, was man braucht, um es vor- und rückwärts zu bewegen. Für rechtsgeeichte Kleinwagenfahrer eine echte Herausforderung. Der erste Kreisverkehr, das erste Überholmanöver, der erste Tierkontakt.
Mit der Kilometerzahl wächst die Routine. Die Natur, das menschenleere, unbebaute Land entfachen unseren Entdeckergeist. Jeder schwelgt für sich in kinoreifen Emotionen. Gefühle von Abenteuerlust und Freiheit. Innerliches Filmorchester (viele Streicher). Bei der Ankunft auf dem Campingplatz von Mission Beach sind die australischen Straßen um einige Helden reicher – das Rückwärtseinparken allerdings nicht mitgerechnet.
Inzwischen ist es dunkel. Doch das Haus auf Rädern steht bereit für eine ziemlich komfortable Nacht in der sanften Wildnis Queenslands. Der Abend findet draußen statt. Die Arbeit wird geteilt. Peter, Timo und das Bier sind beim Barbecue am Strand. Uschi, Evelyn und ich schnippeln den Salat. Die anderen testen derweil schon mal, welcher Wein zum Essen passen könnte. Meeresrauschen, Lagerfeuer, der Himmel voller heller Sterne. Dann ein Rascheln. Da ist was im Busch … Dank unserer Stille kommt es zaghaft raus: ein Wallaby. Wie ein Osterhäschen hockt es auf seinen Hinterbeinen.
Laut Nachbarn wohnt es hier und mag menschliche Gesellschaft, Gemüsereste und Kartoffelschalen. Das probieren wir gleich aus. Mit Erfolg: Zum Entzücken aller wird unser Biomüll an Ort und Stelle aufs Possierlichste verzehrt. Dass auf dem Elektrogrill da drüben gerade Känguru-Steaks brutzeln, bleibt glücklicherweise unser Geheimnis.
Kängurusteak auf dem Grill
Bei vielen »Aussies« heute eher als minderwertig verpönt, stand das Fleisch der sportlichen Hüpfer früher sowohl bei Ureinwohnern als auch bei den weißen Siedlern ganz oben auf dem Speiseplan – bis Rinder und Schafe es von dort verdrängten. Mangels natürlicher Feinde vermehren sich einige der rund 60 Känguruarten sehr stark. Ihre gesetzlich streng geregelte Jagd soll vor allem landwirtschaftliche Schäden vermeiden. Das Fleisch der erlegten Tiere landet hauptsächlich auf ausländischen Tellern, 80 Prozent allein auf europäischen. Der Rest ist Hundefutter.
Ein neuer Tag, ein neues Beuteltier – und zwar nicht irgendeins, sondern das »Große Känguru«. Für rationale Bleichgesichter bleibt es unsichtbar. Denn es lebt in der »Traumzeit«, dem Schöpfungsmythos der Aborigines. Wer es möchte, kann dem Geist des Super-Tieres im Tully-Fluss begegnen.
Nach einer wunderbaren, vor lauter Aufregung viel zu kurzen Campingnacht und einem Festfrühstück direkt am Pazifik treffen wir Caroline. Die junge Aborigine nimmt uns zu einem »Walkabout« auf ihrem »Traumpfad« mit. Der ungewöhnliche Spaziergang auf den Spuren ihrer Ahnen folgt dem Flusslauf. Bis zu den Knien und darüber wandern wir durchs Wasser, lauschen ihm, dem Wald und der kleinen Frau mit den funkelnden dunklen Augen und der schokoladenbraunen Haut.
Sonderbare Geschichten von der Regenbogenschlange, die den Uluru und die Welt erschuf, und von dem Großen Känguru, das Mensch und Tieren ihre Sprachen schenkte, mischt Caroline mit Lektionen zu Heilkunst und Botanik, kosmetischen wie handwerklichen Tipps und Kochrezepten. Im Regenwald von Mossman Gorge verrät uns ihr Onkel Roy, wie er aus Zweigen Hütten baut, aus Ästen Waffen und aus buntem Lehm und Pflanzensäften Farben herstellt und damit Körper und Gesicht bemalt. »Für unser Volk ist die Natur Wohnort, Kirche, Apotheke, Bau- und Supermarkt«, sagt der Mann, dessen Vorfahren hier schon vor Tausenden von Jahren lebten.
Rockstars zum Knuddeln
Es geht nach Westen im Nordosten Queenslands. Je weiter wir in Richtung Landesinneres fahren, umso kräftiger färbt sich das Rot der Erde und Termitenhügel. Vorbei an unzähligen, manchmal meterhohen Türmen der Insekten, führt der Weg der Camper in den Undara-Nationalpark. 64 erloschene Vulkane und gigantische, bis zu 100 Kilometer lange Lavatunnel faszinieren uns dort mit ihrer Höhlenarchitektur und zauberhaften Farben. Am Eingang einer solchen unterirdischen Riesenröhre erleben wir kurz nach Sonnenuntergang ein grandioses Schauspiel: Hunderte, vielleicht Tausende von Fledermäusen schwärmen aus dem Tunnel in den blauen Abendhimmel.
In den Atherton Tablelands, zwölf Kilometer von Mareeba, überrascht uns ein kleiner Felsenberg, der die unendlichen flachen Weiten der grünen Landschaft wie ein Leuchtturm überragt: der Granite
Gorge Nature Park, ein Campingplatz mit fantastischem Panoramablick. Direkt neben unseren Wohnmobilen lädt ein Haufen großer Gesteinsbrocken, umspült von einem Bach, zum Klettern ein. Ein Ort der Stille, an dem man allerdings nicht lange alleine ist. Denn Granite Gorge ist das Reich der Mareeba-Felsenkängurus. Erst 1996 wurde diese Spezies entdeckt. Nur hier ist sie zu Hause.
Plötzlich ganz viele Kängurus um mich herum
Erst sehe ich zwei, dann fünf von den geschickten Kletter-Hopplern und fotografiere sie. Als ich die Kamera herunternehme, steht ein Felsenkänguru so nahe neben mir, dass es mich fast berührt.
Vor lauter Freude bin ich wie erstarrt und merke gar nicht: Es werden immer mehr. Mittlerweile stehen oder liegen mehr als zwei Dutzend Mareeba Rock Roos auf den morgensonnewarmen Felsen. Ich glaube, dass ich träume, und steige in den kalten Granite Creek. Nun bin ich ganz sicher wach, und eine Herde Felsenkängurus schaut mir beim Baden zu. Es werden nicht die Letzten dieser Reise sein.
»Beeilt euch, wenn ihr Geoffrey treffen wollt. Er wird nicht lange bleiben«, hat Margit Cianelli am Telefon gesagt. Um sie und ihren rätselhaften Gast zu treffen, fahren wir in die Lumholtz Lodge. Vor 41 Jahren war die gelernte Tierpflegerin aus Schwaben ausgewandert. Seither sorgt sie sich hier im Nordosten Queenslands um den Schutz bedrohter Arten.
Vier Kängurus leben in der Lodge – und laufen frei herum
Geoffrey sitzt auf dem Küchentisch und frisst Spaghetti. Der Geselle mit dem braunen Pelz und langen Schwanz ist ein Lumholtz-Baumkänguru. Gefunden wurde er als Baby, nachdem er seine Mutter bei einem Autounfall verloren hatte. Wie viele verwaiste Tierkinder zog ihn Margit mit der Flasche auf, trug ihn in einem Stoffbeutel am Körper und gewöhnte ihn zugleich von klein auf an das Leben in der Wildnis. Im Gegensatz zu anderen Ex-Zöglingen lässt sich Geoffrey immer wieder mal bei Margit blicken. Ein- bis zweimal in der Woche steht er vor der Tür. »Ich lass ihn rein, er geht in die Küche und wartet, dass ich ihm zu fressen gebe«, erzählt die Adoptivmama. Danach will er wie früher herumgetragen werden, bevor er von ihrer Schulter auf den nächsten Ast steigt und im Wald verschwindet.
So toll es ist, in einem Wohnmobil zu schlafen – noch dazu im Regenwald: Als uns Margit einlädt, bei ihr im Haus zu übernachten, können wir nicht widerstehen, allein wegen ihrer Mitbewohner. Vier junge Beuteltiere leben derzeit hier und dürfen sich im Haus frei bewegen. Natürlich lasse ich die Zimmertür nachts offen. Erst kommt das Opossum, dann ein kleines Wallaby ans Bett gehüpft.
Wie soll man da zum Schlafen kommen? Durchs Fenster sehe ich die Sterne. Einer davon ist mit Sicherheit der gute, unter dem diese Camper-Reise steht. Schade, dass ausgerechnet der »Große Wagen« nur auf der anderen Seite der Welt, am nördlichen Sternenhimmel, scheint. Doch dafür warten vor der Tür vier echte, mittelgroße Wagen. Und jede Menge neue Queensland-Abenteuer.
Hinfliegen, unterwegs sein und übernachten im Nordosten Queenslands
Hinfliegen. Cathay Pacific fliegt täglich ab Frankfurt via Hongkong nach Brisbane und viermal wöchentlich auch nach Cairns.
Einreisen. Mit vorher beantragtem »eVisitor«-Visum, online und kostenlos.
Unterwegs sein. Komfortable Camper von Britz oder Maui (z. B. »Maui Beach« mit vier Betten) sind buchbar bei Reiseveranstaltern wie Dertour, Best of Travel Group, Explorer Fernreisen und Boomerang Reisen – und zwar je früher, desto günstiger. CAmpingplätze mit Strom- und Wasseranschluss gibt es ab ca. € 20 pro Stellplatz. Schicker und teurer sind die »Big 4« Camp Grounds. Sie bieten neben besseren Duschen, Küchen und Grillplätzen oft auch Pool, freies WLAN, Mini-Supermarkt und Kinderspielplatz. Da die meisten Plätze um 18 Uhr schließen, sollte man möglichst vorher da sein – zumal der Camper sonst auch im Dunkeln eingeparkt und aufgebaut werden müsste.
In Australien wird links gefahren. Die Straßen sind in gutem Zustand und perfekt beschildert. Entlang der Ostküste und im tropischen Norden Queenslands gibt es zahlreiche Campingplätze, Tankstellen und Supermärkte. Wer ins Outback reisen will, sollte sich vorab über Entfernungen und Infrastruktur informieren. Bis zur nächsten Tankfüllung sind es im Outback nicht selten 300 km. Die App »Drive North Queensland« gibt zahlreiche praktische Infos und Tipps und steht kostenfrei im Google Play Store und im Apple App Store zur Verfügung.
Übernachten. Vier-Sterne-Hotel in Cairns: Pacific Hotel Cairns, Lumholtz Lodge in den Atherton Tablelands (bei Känguru-Margit). Fünf-Sterne-Resort im Regenwald: Silky Oaks Lodge, Mossman, Viereinhalb-Sterne-Hotel am Pazifik: Kewarra Beach Resort & Spa.
Informieren. Allgemeine Informationen über den Nordosten Queenslands hat Tourism and Events Queensland in München, Tel. 0 89 759 69 88 69. Den reisen-Exclusiv-Guide gibt es hier.