Istanbul ist eine Stadt, die Kultur ausatmet. Hier hat man eine große Auswahl. Nur den Überblick, den sollte man in dieser knapp 2.600 Jahre alten Stadt nicht verlieren. Vieles ist hier nur einen Katzensprung voneinander entfernt. Text: Markus Grenz

In Istanbul flirtet eine zauberhaft mystische Metropole mit der Moderne, trifft uralte Tradition auf ein junges und pulsierendes Nachtleben. Doch wo fängt man an in einer Stadt, die 1.600 Jahre lang die Hauptstadt dreier Weltreiche, des Römischen, des Byzantinischen und des Osmanischen Reiches, war? Die 853 historische Bauwerke neben zahlreichen Theatern und Museen vorweisen kann? Deren ganzes Erscheinungsbild Kultur ausatmet? Und die auch noch im Kulturhauptstadtjahr Hunderte Aktionen, Konzerte und andere Veranstaltungen auf dem Spielplan hat? Hier liegen Ost und West, Asien und Europa nur einen Katzensprung voneinander entfernt. Oder 75 Cent für eine Fähre über den Bosporus. Besucher müssen da erst einmal den Überblick behalten. Den verschaffe ich mir nun auch und suche mir in dieser Stadt der Dachterrassen einen der gemütlichs­ten Aussichtspunkte aus.

Frau auf Schiff am Bosporus

Mert Kahveci

Am Abend rufen die Muezzine zum vierten Gebet des Tages

Träge schippert ein Ausflugsdampfer durch das Blau des Goldenen Horns. Von den unzähligen Minaretten zu meinen Füßen rufen die Muezzine in die aufsteigende Abenddämmerung bereits zum vierten Gebet des Tages. Für den Schiffskapitän und seine Crew in der Bucht des Bosporus verheißt das den baldigen Feierabend. Und für mich noch ein bisschen Ruhe, bis die Nachtschwärmer das schicke Dachrestaurant in einen hippen und vor allem lauten Tanzclub verwandeln. Im Moment aber kann ich meinen Blick noch ungestört schweifen lassen. Für das »360«, eine der angesagten Locations in Istanbul, gilt nämlich: Nomen est omen. Vom obersten Stock eines über 100 Jahre alten Appartementhauses habe ich einen Rundumblick.

Alle wollen etwas vom Kulturhauptstadt-Kuchen abbekommen

Von hier aus betrachtet sehen die 31 Meter Durchmesser der Kuppel der Hagia Sophia schon mächtig aus. Steht man jedoch davor, und lässt die Augen 55 Meter empor wandern, wird schnell klar, warum die ehemalige Basilika schon längst von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt worden ist. Mit ihren 1500 Jahren ist die »Heilige Weisheit«, so die Bedeutung des griechischen Namens, noch nicht einmal das älteste Baudenkmal der Stadt. Hier praktizierten nacheinander Christen und Muslime ihren Glauben. Dann dient es lange als »Museum« und ist seit kurzem wieder offiziell eine Moschee. Ein Ort. der unter die Haut geht, stelle ich fest, nachdem ich ins Haupthaus eingetreten bin.

Hagia Sophia

Raimond Klavins

Allein die Kuppel ist knapp 14 Meter hoch. Gedämpftes Licht fällt durch die 40 Fenster, auf der das Rund in schwindelerregender Höhe ruht. Angesichts der gewaltigen Wölbung über mir, die nirgendwo sichtbar von einem Träger gehalten wird, ist mir fast etwas flau im Magen. Natürlich wird die Konstruktion gestützt durch die angrenzenden kleinen Kuppeln. Nachvollziehbar ist das aber für mich gerade nicht, und in mir wächst der Eindruck, den die antiken Baumeister beabsichtigt hatten: mystisch. Den zu erhalten ist die Aufgabe ihrer zeitgenössischen Kollegen. Dafür bekommen sie vom Kulturhauptstadt-Kuchen ein gehöriges Stück ab. Die Organisatoren wissen: Wer das historische Herz Istanbuls schlagen hören möchte, der kommt hierher. Doch die Hagia ist nicht der einzige Taktgeber in der Nachbarschaft.

Zuerst zur Blauen Moschee

Im Altstadtviertel Sultanahmet – im europäischen Teil der Metropole – liegen gleich drei der »Pflichtadressen« nur ein paar Fußminuten voneinander entfernt. Vis-á-vis der Hagia wetteifert ein weiterer Prachtbau um den Titel »Wahrzeichen Istanbuls«. Mit dem Zielort »Blaue Moschee« wird allerdings kein Istanbuler Taxifahrer etwas anfangen können, obwohl Kuppel und obere Mauern mit blau-weißen Fliesen verziert sind.

Eminönü in Istanbul

Fatih

Unter diesem Namen ist das berühmte islamische Gotteshaus nur im restlichen Europa bekannt. Die Sultan-Ahmet-Moschee, benannt nach ihrem Bauherrn, diente als Ersatz für ihre viel ältere Nachbarin. Von seinem »Wohnzimmer« im benachbarten Topkapi-Palast, heute ein weitläufiger Museumsdistrikt, musste besagter Sultan Ahmet I. für den Weg zum Morgengebet nur den kaiserlichen Pyjama überstreifen. Die Kulturhauptstadt kann auch Stadt der kurzen Wege sein, und in diesem historischen Dreieck merkt man es ganz besonders. Der Takt der Moderne schlägt aber auf der gegenüberliegenden Seite des Goldenen Horns, dort, wo ich mir ein Lammfilet mit Minzaroma schmecken lasse. Da muss ich an Ismail Acar denken, den ich vorher besucht habe.

Alt und Neu, Tradition und Moderne: Das hat das Kulturhauptstadt-Komitee überzeugt

Noch am Morgen hat mir der Maler, einer der bekannten Künstler der Türkei, bei einer Tasse Kaffee von »seinem« Istanbul erzählt. Nicht weit musste ich von seinem Atelier im alten und doch jungen Viertel Galata zum »360« laufen. Beides liegt im Stadtteil Beyoglu, der zweiten Kulturzone der Stadt, Spielort unzähliger kreativer Istanbuler. In einem ehemaligen jüdischen Gebetshaus aus dem 17. Jahrhundert hat sich Acar sein Nest gebaut. Ganz bewusst und mittendrin.

»Mein Garten, mein Hintergrund, sind die Stadt und der Bosporus. In Istanbul prallen die unterschiedlichsten Einflüsse aufeinander, und das lässt unglaublich viel entstehen«, schildert er.

Da sind sie wieder, die Gegensätze, die auch das Kulturhauptstadt-Komitee überzeugt haben: Alt und Neu, Tradition und Moderne, Orient und Okzident. Das greift Acar auf, unter anderem bei seinem 2010-Projekt. Mit Laien will er einen im Jahr 1902 von Kaiser Wilhelm II gebauten Bahnhof auf der asiatischen Seite umgestalten. Und die verschiedenen Traditionen miteinander spielen lassen. Ismail Acar: »Das ist doch spannend: Istanbul ist der westlichste Punkt des Ostens und der östlichste des Westens

Galataturm in Istanbul

Ibrahim Uzun

Im Moment spielt aber gerade eindeutig der Westen die Musik. Ein lauter Beat setzt ein und reißt mich zurück in die Gegenwart und ins »360«. An der ausgelassenen Stimmung rund um mich herum kann ich mich leider nicht mehr beteiligen. Ich muss los, fast habe ich den Termin mit Özgül Özkan Yavuz vom Kulturhauptstadt-Büro vergessen. Obwohl es bereits dunkel ist, überfluten immer noch zahllose Menschen die Istiklal Caddesi (»Unabhängigkeitsstraße«). Da muss ich durch.

Gott sei Dank gibt es noch die nostalgische Tram, die sich laut bimmelnd einen Weg über die große Fußgängerpassage bahnt. Nach knapp der Hälfte der bekanntesten Einkaufsstraßen der Stadt bin ich am Ziel. Grelle Plakate kündigen die neuesten türkischen Kassenschlager an. Hinter der Fassade des Atlas-Kinos wartet ein weiterer Protagonist der Kulturhauptstadt auf mich.

Im Sommer werden die Ufer des Goldenen Horns zur Plattform

Özgül Özkan Yavuz hat 2008 ihre Arbeit aufgenommen, und seitdem ist viel passiert. »Auf unserer Liste stehen 426 offizielle Kulturhauptstadtprojekte«, fasst sie den Rahmen zusammen. Zahllose Aufführungen, Aktionen und Arbeiten werden sich auf den 1.800 Quadratkilometern Fläche der Stadt abspielen.

Im Sommer werden die Ufer des Goldenen Horns zur Plattform für zahlreiche Veranstaltungen. Das ganze Jahr hindurch bieten Musiker auf vielen Bühnen überall im Stadtgebiet Kostproben ihres Könnens. Alles ist international. Beim Universitätstheaterfest haben sich internationale Darsteller angekündigt, und der Ballettwettbewerb lockt Tänzer aus aller Welt. »Hunderte nationale und internationale Künstler werden sich beim Projekt 2010 beteiligen«, unterstreicht die Organisatorin den Aktionsteil im Programm.

traditioneller türkischer Tanz

Emir Egricesu

Aber natürlich profitieren auch die alten Kulturstätten von den insgesamt 270 Millionen Euro Budget. Viel Geld werden die Istanbuler in ihr kulturelles Erbe – neben der Hagia und dem Topkapi gehören dazu auch das Archäologische Museum oder das eindrucksvolle Mimar-Sinan-Museum – stecken. Nur mit Schutzhelm kann man das neue Istanbuler Stadtmuseum, eine archäologische Ausgrabungsstätte, besuchen.

»Eine 250 Jahre alte Kaserne erweitern wir zur Volksbücherei«, ergänzt die Organisatorin. Viel gebe es in den kommenden Monaten zu bestaunen. Wo soll man da anfangen? Doch vor so viel Kultur braucht dem Besucher nicht bange zu werden. Schließlich gibt es ja noch haufenweise gemütliche Aussichtspunkte, damit man den Überblick nicht verliert. In Istanbul ist eben vieles nur einen Katzensprung voneinander entfernt. Oder 75 Cent.

Aussicht auf Istanbul

Abdurahman Iseini

Istanbul-Tipps: Anreise, Übernachtung, Insider-Infos

Anreise. Turkish Airlines fliegt montags bis sonntags viermal täglich ab Düsseldorf zum Flughafen Istanbul-Atatürk International. Der wird auch von Köln/Bonn aus einmal täglich bedient. Zum Airport Istanbul-Sabiha Gökçen kann man mit Turkish Airlines dienstags, donnerstags und sonntags nach Istanbul-Sabiha Gökçen fliegen.

Schlafen. Im historischen Stadtteil Sultan Ahmet kann man im »Sultanahmet Palace«, Torun Sokak, No: 19 344 00, Sultanahmet-Istanbul/Türkei, ab € 33  p. P. (Sommer ab € 51) wohnen. Tel.: +90 21 24 58 04 60.

Buchung. Alles buchbar über FTI, Friedenstraße 32, 81671 München, Tel.: 01805 384500 (14 ct./min.).

Insidertipps. »360« ist nicht nur ein exzellentes Restaurant, sondern auch ein Club. Und die Aussicht ist fantastisch. Istiklal Caddesi, Misir Apt. K:8 N:311, Beyoglu 34330, Istiklal. Wer in die Yerebatan-Zisterne hinabsteigt, wird beeindruckt sein vom Charme des alten Konstantinopel. Die Zisterne versorgte einst das alte Byzanz mit Wasser. 336 Säulen tragen die Decke dieses imposanten, unterirdischen »Versunkenen Palastes«. Yerebatan Caddesi 13, 34410 Istanbul