Wer genau hinsieht bemerkt, dass die Loire in Nantes in die falsche Richtung fließt. Jeden Tag zwei Mal, immer wieder aufs Neue. Das ist den Gezeiten geschuldet, die auch 60 Kilometer landeinwärts das Wasser zurückdrängen. Der Rhythmus der Natur aber ist zugleich eine schöne Metapher für die Hafen- und Industriestadt, die gerne mit Konventionen bricht. Text: Ralf Johnen
Ein Elefant stolziert über die Loire-Insel. Auf seinem Rücken sitzen mehr als ein Dutzend Menschen. Während der Rüssel des Elefanten geräuschvoll eine Fontäne ausstößt, genießen sie in zwölf Metern Höhe die Aussicht. Ein alltäglicher Vorgang in Nantes, denn das Eiland ist die Heimat von Les Machines de l’Île. Die Künstlerwerkstatt betreibt hier eine Ausstellungshalle und ein Atelier, wo die Mitarbeiter am laufenden Band skurrile Kreaturen und Skulpturen entwerfen, die in der Galerie des Machines zum Leben erweckt werden.
Auch das »Carousel des mondes marins« geht auf das Konto der Künstler. Dabei handelt es sich um ein auf Alt getrimmte Karussell mit im Kreis reitenden Figuren, die einer fremden Unterwasserwelt zu entstammen scheinen. Eine Anspielung auf Jules Verne, der in Nantes das Licht der Welt erblickt hat? Oder doch eher eine Manifestation des Steampunk, jener ominösen Kunstrichtung, die futuristische Elemente mit viktorianischen Formen vereint?
Alte Lagerhallen in Nantes werden mit neuem Leben gefühlt
Darüber denken wir noch nach, als die Fahrt beendet ist. Doch viel Zeit bleibt uns nicht. Schließlich reihen sich auch am Ufer des Flusses die Attraktionen in dichter Taktung aneinander. Das fängt an mit einer Serie von überdimensionalen Ringen, die am Quai des Antilles zu einer ausführlichen Foto-Session einladen. Nicht weit entfernt sorgen ein Paar riesige Gummistiefel und eine auffällig feindselige Stachelskulptur für staunende Blicke. Und als wäre das noch nicht genug Futter für den Instagram-Account, ruhen auf dem Eiland auch noch dekorative Hafenkräne und ausgemusterte Lagerhallen, in denen sich nun spannende Museen wie die HAB Galerie befinden.
Höchste Zeit für eine kleine Auszeit. Diese nehmen wir in der Cantine de Voyage, eine Institution, die ihrerseits eine ausgediente Lagerhalle mit neuem Leben erfüllt. Die halbe Stadt scheint sich hier im Sommer zu treffen, obwohl es nur ein einziges Gericht gibt: gegrilltes Maishühnchen mit köstlichen Kartoffeln und Salat – inklusive eines Getränks für 11 Euro (oder 14 Euro am Abend).
Unterwegs mit der Fähre durch Nantes
Bald darauf begeben wir uns an Bord eines Navibus. So heißen hier die Fähren, die über den Fluss und seine beiden Arme einzelne Viertel der 320.000-Einwohnerstadt miteinander verbinden. Vom Hangar à Bananes steuern wir mit der Linie N2 das Trend-Viertel Chantenay ein paar Kilometer flussabwärts an, wo wir zwischen alten Werften und abgerockten Schiffen die Little Atlantic Brewery aufsuchen. Auch so aufgehübschtes Warenhaus, das für seine süffigen Biere aus hauseigener Produktion und gute Musik bekannt ist. Im Sommer lockt zudem eine große Terrasse.
Die Brauerei aber suchen wir nicht nur wegen der leckeren Biere auf. Vielmehr setzen wir von hier unseren Rundgang fort. Nächste Station ist der Jardin extraordinaire. Hier ist der Name Programm: Künstliche Wasserfälle, eine abenteuerliche Treppe, bizarre Skulpturen und atemberaubende Aussichtplattformen rechtfertigen jeden Buchstaben der Bezeichnung als »außergewöhnlichen Garten«. Das Gesamtkunstwerk befindet sich in einem ehemaligen Steinbruch am Nordufer der Loire. Es verfügt über einige hübsche Rückzugsorte und ist noch lange nicht fertig.
Die Loire mit seiner Insel
Wir verlassen den Park an der Oberkante, wo wir eine hübsche Aussicht auf den Fluss und Loire-Insel genießen. Hier auch befindet sich ein kleines Museum, das dem berühmtesten Sohn der Stadt gewidmet ist: dem bereits erwähnten Jules Verne (1828–1905). In der hübschen Villa sind vor allem Manuskripte, Illustrationen und Artefakte aus dem Privatbesitz des Autors zu sehen, wodurch das Ganze eher etwas für Fans als ein Museum ist, das jeder gesehen haben muss. Immerhin gibt es ein Wiedersehen mit den Fabelwesen, die wir bereits von der Île de Nantes kennen.
Nach diesem aufregenden Tag freuen wir uns auf einen Abschluss nach regionaltypischer Art. Hierzu begeben wir uns in die Fußgängerzone, wo wir im Heb Ken einen Tisch unter freiem Himmel ergattern. Dort bestellen wir das bretonische Nationalgericht: Galettes, das herzhafte Gegenstück der Crêpes, die es hier mit Blutwurst und Apfel oder mit würzigem Käse aus den Savoyer Alpen und Kartoffeln gibt. Dazu schmeckt ein Gläschen Muscadet oder Cidre. Ein Absacker geht danach noch – und was das angeht, haben wir viel Gutes über die 19:33 Cocktail Experience gehört. Die kleine Bar verfolgt einen hohen Anspruch und tritt im Stile eines amerikanischen Speakeasys auf.
Auf den Spuren einer turbulenten Geschichte
Den nächsten Tag beginnen wir etwas konventioneller mit einem historischen Highlight: dem Chateau des Ducs de Bretagne, das an einen ungelösten Konflikt erinnert. So hat man 1941 im fernen Paris beschlossen, dass Nantes nicht mehr die Hauptstadt der Bretagne, sondern fortan die Kapitale der neu gegründeten Region Loire-Atlantique sein soll. Doch das schert die örtliche Bevölkerung wenig. Sie fühlt sich auch heute noch der historischen Bretagne zugehörig.
Ein Argument, das alle weiteren Diskussionen binnen weniger Sekunden beendet, ist das Schloss der Herzöge der Bretagne. Es steht nun einmal in Nantes und nicht in Rennes oder an irgendeinem anderen Ort. Das Bauwerk kombiniert die Stile diverser Epochen zu einem trutzigem Gesamtkomplex, der mit einem aufgeräumten Innenhof überrascht. Doch Nantes wäre nicht Nantes, hätte man nicht an der Außenfassade eine langgereckte Rutschbahn angebracht.
Nantes – die Vielseitige
Wo wir schon mal hier sind, schlendern wir noch ein wenig durch die City, die eher konventionell daherzukommen scheint. Ein Highlight ist die Passage Pommeraye. Die glamouröse Einkaufspassage mit Glasüberdachung und klassizistischer Säulenhalle aus der Mitte des 19. Jh. verführt auf zwei Ebenen mit schicken Boutiquen zum Konsum. Doch auch staunende Blicke sind willkommen.
Die setzen wir abermals auf, als wir die Place Royale erreichen, denn auf dem historischen Mittelpunkt der Stadt steht in diesem Sommer: ein Schiff. Es ist Teil des wiederkehrenden Festivals, das die Stadt während der schönsten Monate des Jahres noch lebensfreudiger macht. Auf der ehrwürdigen Place Graslin, wo die Oper und das Jugendstil-Restaurant La Cigale beheimatet sind, ist wie selbstverständlich eine Skater-Bahn aufgebaut.
Einstiger Umschlagplatz des Sklavenhandels
Das alles ist reichlich fortschrittlich und zukunftsfähig. In diesem Zusammenhang wundert es nicht, dass Nantes auch seine heikle Vergangenheit thematisiert. So ist das »Mémorial de l‘abolition de l’esclavage« ein beeindruckendes Bekenntnis zur eigenen Geschichte als Umschlagshafen für den Sklavenhandel. Nicht weniger als 1710 Schiffe haben den Hafen von Nantes vor allem im 18. Jahrhundert mit Sklaven an Bord verlassen und so zum Wohlstand der Epoche beigetragen. Das am Nordufer der Loire unter Straßenniveau gelegene Mahnmal ist ein Ort der inneren Einkehr, mutig und bedrückend zugleich. Und es setzt ein Ausrufezeichen für eine bessere Zukunft, an der sich viele andere Städte ein Beispiel nehmen könnten.
Mit diesem Wissen wenden wir uns wieder leichteren Themen zu. Wir besuchen die herrliche Markthalle, die hier kein Hipster-Ziel, sondern Versorgungseinrichtung ist. Und wir schlendern durch die Jardins Botanique hinter dem Bahnhof. Bald jedoch zieht es uns wieder auf die Loire-Insel, deren Ost-Hälfte sich als Spielwiese für avantgardistische Architekten erweist.
Unmittelbar neben der Straßenbahnlinie entdecken wir abermals eine Lagerhalle, in der die Betreiber ein Vintage-Kaufhaus eingerichtet haben. Es heißt Le Wattignies und beherbergt kleine Läden für Vinylschallplatten, antike Designgegenstände und gebrauchte Klamotten. Davon angefixt, zieht es uns wieder zum Ufer. Über die Tischtennisplatten, die halbrund sind, denen die Ecken fehlen oder die mit Artgenossen verflochten sind, wundern wir uns kaum noch. So ist das, wenn das Außergewöhnliche Normalität ist.
Weitere Informationen zu Nantes
Nantes hat sich in den vergangenen 20 Jahren von einer grauen Maus zu einer der angesagtesten Städte Frankreichs gemausert. Das Preisniveau ist moderat, der kreative Input hoch. Zusätzlich zu den etablierten Attraktionen richtet die Stadt jedes Jahr das Summer Festival Le Voyage à Nantes aus. 2022 findet dieses vom 2. Juli bis zum 11. September statt.
Nantes ist bequem mit dem Zug erreichbar. Ab Paris braucht der TGV nur etwas mehr als zwei Stunden.
Für die Übernachtung empfehlen wir das Hotel Oceania in der Rue Crébillon 24.