Wer sich heute für eine Reise nach Nordamerika entscheidet, wählt immer öfter Kanada. Die Buchungszahlen sprechen eine klare Sprache – und ich finde: zu Recht. Es gibt gute Gründe, beim nächsten Trip das Ahornland dem großen Nachbarn vorzuziehen. Fünf davon liegen für mich auf der Hand.
Text: Ole Helmhausen
1. Anders offen – und das im besten Sinn
Zwei Begegnungen sind mir besonders im Kopf geblieben. Das eine war ein schwules Paar aus dem US-Bundesstaat Kansas, das ich an einem warmen Sommernachmittag auf einer Caféterrasse in Montréal traf. Wir tranken Latte, teilten Croissants und sie erzählten: »Zuhause können wir nicht mal Hand in Hand durch die Stadt gehen.« Und dann war da der junge kanadische Wanderguide, der am ersten Abend wie selbstverständlich die beiden Niederländer in unserer Gruppe nach ihrem Coming-out fragte. Kein Getuschel, kein betretenes Schweigen – nur aufrichtiges Interesse, echtes Zuhören. Diese unaufgeregte Offenheit ist typisch für das Kanada, das ich kenne.
Ich lebe seit 30 Jahren in Montréal – für mich die offenste, unkonventionellste und liberalste Stadt Nordamerikas. Regenbogenflaggen gehören hier zum Stadtbild, nicht nur im Gay Village oder im kreativen Mile End. Und so ist nicht nur Montréal. LGBTQ+-Inklusion ist in ganz Kanada gelebter Alltag und kein Sonderthema. Offenheit ist selbstverständlich, nicht schrill. Ein »Don’t Say Gay« wäre undenkbar.

Das Gay Village in Montréal I Foto: Dav Himbt/Shutterstock.com
Dabei geht es längst nicht nur um Sexualität – es geht um Haltung. Gleichstellung gehört dazu. Als Justin Trudeau – (Noch-)Premierminister und gern gesehener Gast auf Pride-Parades – gefragt wurde, warum die Hälfte seines Kabinetts aus Frauen besteht, antwortete er schlicht: »Because it’s 2015.« Punkt.
Oder wie mein 80-jähriger Nachbar kürzlich sagte, als wir uns über Zuwanderung unterhielten: »Einwanderung macht uns stark.« So denkt man hier – offen, pragmatisch, zukunftsgewandt.
Kanada war übrigens früh dran: Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind seit 1969 legal, seit 1996 gesetzlich geschützt und seit 2005 ist die Ehe für alle möglich.
2. Englisch, Französisch & Co.
Kanada ist offiziell zweisprachig – Englisch und Französisch. Vor allem in Québec, dem Herzen des alten Neu-Frankreichs, gehört Französisch zum Alltag. Aber auch in Teilen von New Brunswick und Nord-Ontario hört man es überall. Und ja – manchmal wirkt es, als würde man hier auf Französisch bestehen. Doch wer genauer hinhört, merkt schnell: Die Freude an Begegnung überwiegt. Auch wenn man mit Akzent spricht oder beim »bonjour« leicht danebenliegt. Wie sagt man in Deutschland? Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus.
Montréal ist ein Kaleidoskop: widersprüchlich, kreativ, polyglott – ein bisschen Paris, ein bisschen Brooklyn. Diszipliniert an der Bushaltestelle, chaotisch im Straßenverkehr. »Ein bisschen schizophren«, beschrieb mir Kathy Reichs, Krimiautorin und forensische Anthropologin mit Wohnsitz Montréal, das mal. »Aber genau darum liebe ich diese Stadt.«
Toronto hingegen wirkt klar konturiert: nordamerikanisch, urban, leistungsorientiert – und ist zugleich eine der multikulturellsten Städte der Welt. Über die Hälfte der Torontonians wurde nicht in Kanada geboren. In der Subway fliegen einem die Sprachen nur so um die Ohren. Morgens Tamil, mittags Sushi, abends auf Polnisch fluchen – alles ganz normal. Niemand hebt die Augenbraue.
Vielfalt ist hier nicht Statement, sondern Alltag.
De facto ist der kanadische Alltag vielsprachig – und genau das prägt auch den Umgang miteinander: rücksichtsvoll, neugierig, offen für Zwischentöne. Und das spürt man – in Schulen, auf Festivals, im Fernsehen, in Behörden. Einwanderung gilt nicht als Herausforderung, sondern als Chance. Wer neu dazukommt, soll sich nicht verbiegen, sondern einbringen.

Tanzenden Menschen beim Tam Tams Festival, das jeden Sonntag inoffiziell im Mount Royal Park in Montréal stattfindet. Foto: Cagkan Sayin/Shutterstock.com
Und was bedeutet das für Besucher und Besucherinnen? Man wird gesehen. Nicht als Fremdkörper, sondern als Teil eines bewusst bunt gehaltenen Mosaiks. Ganz gleich, ob man zwei Wochen bleibt oder zwei Jahre – man gehört dazu.
3. Geschichte zählt: Aufarbeitung statt Abwehr
Auch Kanada hat keine weiße Weste. Die Geschichte der Residential Schools, in denen indigene Kinder über Jahrzehnte entwurzelt und traumatisiert wurden, hat tiefe Wunden hinterlassen. Lange wurde geschwiegen, verdrängt, abgewehrt. Doch inzwischen ist ein Prozess der Aufarbeitung in Gang – mit der »Truth and Reconciliation Commission« als wichtigem Anfang. Heute werden indigene Perspektiven aktiv eingebunden: in Museen, im Schulunterricht, im öffentlichen Diskurs – und zunehmend auch im Tourismus.
Indigen geführte Lodges, Restaurants, Winzereien und Tourenanbieter sind mehr als wirtschaftliche Impulse. Sie sind Brückenbauer. Sie öffnen Türen zu indigenen Gemeinschaften, schaffen Raum für Begegnung auf Augenhöhe. Einige meiner eindrücklichsten Reiseerlebnisse hatte ich bei indigenen Gastgebern.

Indigene Person im Wanuskewin Heritage Park I Foto: Destination Canada
Etwa in Nunavik, im hohen Norden Québecs, wo mir eine ältere Inuit-Frau unter einem entschlossenen Wortschwall in Inuktitut ein Paar abgewetzte Seehundlederstiefel überstreifte – und mir damit Frostbeulen ersparte. Oder bei den Cree an der Hudson Bay, wo ich in eine traditionelle Sweat Lodge eingeladen wurde – und ebenfalls laut beten und teilen musste. Was neu und fremd für mich war – und heilsam. Im Blackfoot Crossing Historical Park in Alberta glaubte ich nachts »Spirits« gesehen zu haben. Am nächsten Morgen erzählte mir die Familie meines Gastgebers ganz selbstverständlich ihre eigenen Erlebnisse mit den Geistern ihrer Verstorbenen – und plötzlich war da mehr als nur Gastfreundschaft. Es war Vertrauen und Einvernehmen, das uns auf eine neue Ebene brachte. Und bei den Anishinaabe in Ontario bekam ich auf einem PowWow den Namen »Tanzt verkehrt herum« – weil ich mich im heiligen Kreis in die falsche Richtung bewegte und offenbar auch sonst keine »bella figura« machte.
Ich habe von den indigenen Menschen viel gelernt – über Respekt, über Spiritualität, über Lebensfreude und einen Humor, der oft leise daherkommt, aber punktgenau trifft. Angesichts der schmerzhaften Vergangenheit grenzt diese Herzlichkeit, diese Gastfreundschaft an ein Wunder.
4. The Right to Roam – die Freiheit, einfach loszugehen
Wandern in Kanada fühlt sich an wie tiefes Durchatmen. Keine Zäune, keine Verbotsschilder – nur Raum, Horizont und Stille. Möglich macht das ein Grundprinzip: das »Right to Roam«, also das Recht, sich frei in der Natur zu bewegen. Rund 89 Prozent des Landes sind sogenanntes Crown Land – einst Besitz der britischen Krone, heute öffentlich zugänglich und von den Provinzen verwaltet. Wer sich rücksichtsvoll verhält, darf hier wandern, paddeln, zelten – oft ganz ohne Genehmigung.

Berge im Torngat Nationalpark in Labrador im Ostern Kanadas I Foto: Barrett & MacKay Photo
Natürlich gibt’s Ausnahmen. Traditionell indigene Gebiete verlangen Respekt – und oft auch eine ausdrückliche Erlaubnis. National- und Provinzparks haben klare Regeln, aber keine Schrankenmentalität. Und wer angeln oder jagen will, braucht ein Permit – völlig okay.
Für mich ist diese Freiheit mehr als ein Privileg. Sie ist ein Statement. Eine Einladung, loszugehen. Ohne Drehkreuz, ohne Ticket – einfach einzutauchen, Schritt für Schritt.
5. Die leise Nation
Zu schön, um wahr zu sein? Klar, auch Kanada ist kein Paradies. Es hat seine eigenen Probleme, wie jede moderne Demokratie. Und mit Pierre Poilievre, dem Oppositionsführer der Konservativen, erlebt auch Kanada gerade ein Comeback rechter Rhetorik – mit Slogans, die an Donald Trump erinnern.
Aber die Frage bleibt: Warum wirkt Kanada so anders – und dabei so verdammt unglaublich?
Vielleicht liegt es an der Art, wie dieses Land entstand. Kanada hatte lange keine Geschichte, nur eine Vergangenheit. Kein großer Krieg, keine große Schlacht, nichts, was eine Nation formte, wie in den USA. Dort kamen zuerst die Siedler, dann das Gesetz. In Kanada war es anders – hier entstand das Land durch Verhandlungen und Kompromisse. Manche Kolonien mussten regelrecht in die Konföderation gebettelt werden. Und so wurde Kanada immer wieder vor dem Auseinanderfallen bewahrt.
Während in den USA Konflikte lautstark ausgetragen und Meinungen mit jeder Menge Lärm verkauft werden, setzt Kanada auf Konsens, Kollektivgefühl und kulturelle Bescheidenheit. Und noch etwas: Kanadier haben ein Problem mit Nationalhelden. Bis heute konnte sich das Land nur auf den 22-jährigen, krebskranken Terry Fox einigen, der auf einem Bein durch ganz Kanada lief, um Geld für die Krebsforschung zu sammeln. Da ist es fast schon passend, dass Kanada ein ulkiges Nagetier mit nacktem Schwanz als Nationaltier gewählt hat und nicht den kraftvollen Weißkopfseeadler, der für Freiheit, Mut und Stärke steht. Das sagt einiges aus, oder?

Foto: Ksenia Makagonova
Freundlichkeit statt Unmut
Kanadier sind bekannt für ihre Höflichkeit – und sagen ständig »sorry«. Das wird gern belächelt, ist aber mehr als ein Lächeln im Vorbeigehen; es ist ein kulturelles Prinzip. Wer das für übertrieben hält, sollte einmal bei Kanada in den sozialen Medien vorbeischauen. Dort bestätigen unzählige Reisende das, was ich selbst erfahren habe.
Ich erinnere mich gut: Als ich in Halifax auf dem Flughafen festsaß, weil mein Anschlussflug nach stundenlanger Verspätung um Mitternacht ersatzlos gestrichen wurde, geschah – nichts. Kein Schimpfen, kein wütendes »Das ist doch eine Unverschämtheit!«, keine erboste Suche nach den Verantwortlichen. Die beiden Damen am Counter entschuldigten sich mit einem höflichen »Sorry«, meine kanadischen Mitreisenden versicherten ihnen, dass sie ihr Bestes getan hätten – und zeigten Mitgefühl (»So sorry for you!«). Danach wurde, ohne Aufregung, bis weit nach Mitternacht nach Lösungen gesucht – und schließlich auch gefunden. In aller Ruhe.
Ich bezweifle, dass das gleiche Szenario an einem deutschen Flughafen ebenso gelassen verlaufen wäre.

Foto: Ole Helmhausen
Über den Autor
Ole Helmhausen lebt seit 30 Jahren in Montréal und berichtet als freier Reisejournalist über Gesellschaft, Kultur und Alltag in Nordamerika. Sein Blick gilt weniger den Klischees als den Zwischentönen – der Höflichkeit im Alltag, der Offenheit am Lagerfeuer, der Kraft leiser Töne in einer oft lauten Welt. Für den SPIEGEL schreibt er über ein Kanada, das sich nicht so leicht googeln lässt.