Eine Reise durch Rajasthan, Indiens flächenmäßig größten Bundesstaat, ist eine Reise durch eine 5.000-jährige Kulturgeschichte – paradox und faszinierend zugleich. Text: Sebastian Münter

Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen?

Wenn ich eine Gänsehaut bekomme, und das geschieht mir nicht oft, dann liegt das in der Regel am Essen. Gänsehaut, das ist bei mir das einstimmige Votum meiner Sinne, eine glatte Zehn auf dem Teller zu haben. Dabei bin ich wohl nicht der Einzige, dem die kulinarischen Besonderheiten eines fremden Landes immer dort am besten schmecken, wo sie ihren Ursprung haben. Denn nicht nur das Auge, auch jede Emotion isst mit. Wir nehmen Essen mit all unseren Sinnen wahr. Den Geruch. Die Umgebung um uns herum. Die Menschen, mit denen wir unser Essen teilen. Die Gespräche, die wir dabei führen. All das hat Einfluss.

Es ist ein einfacher Tisch. Im Norden Indiens. Irgendwo in Rajasthan. Aber an diesem Tisch sitzt ein Mitglied der königlichen Rathore-Dynastie – ein Nachfahre jener Rajput-Prinzen, die Rajasthan im Mittelalter und der beginnenden Neuzeit als Statthalter der herrschenden Maharanas zur Hochburg eines fürstlichen Indiens machten. Der Tisch steht gut geschützt hinter den dicken Mauern einer jahrhundertealten Festung, einst gebaut, um die Landbevölkerung gegen Feinde zu schützen. Wenn also dieser königliche Nachfahre beginnt, von seinen Ahnen zu berichten, wenn man das Leben dieser Ahnen nicht nur erahnen, sondern selbst im Geist der vergangenen Zeiten residieren und dinieren kann, ja, dann kann aus einer einfachen Linsensuppe schon mal eine glatte Zehn werden. Gänsehaut eben.

Plötzlich herrscht Ruhe in Old Delhi

Der Lärm der Straße, das nervöse Gehupe der Tuk-Tuks, die vielen Menschen, das ganze Gewusel. All das scheint nur noch aus der Ferne durchzudringen. Fast ein wenig unheimlich, sind es doch nur wenige Stufen, die von der quirligen Chandni Chowk Road in Old Delhi hinunter in den Besucherraum des Gurdwara Sis Ganj Sahib führen. Gurdwara, das heißt so viel wie »Tor zum Guru« und bezeichnet einen Tempel der Sikh.

Der Gott Ganesha räumt Hindernisse aus dem Weg

Sebastina Münter

Die unvermittelte Stille in diesem Gurdwara strahlt etwas Erhabenes aus. Definitiv ein Ort der Besinnung. Aber auch ein Ort der gelebten Nächstenliebe. Denn der Sikhismus orientiert sich weniger an der Einhaltung religiöser Dogmen als am alltäglichen Leben. In der Gemeinschaftsküche der Tempelanlage – der »Langar« – sorgen fleißige Glaubensanhänger für eine kostenlose warme Mahlzeit. In riesigen Kesseln wird traditionell Dal zubereitet. Die Geschlechterverteilung scheint offensichtlich. Die Männer bewirtschaften die schweren Kessel über dem offenen Feuer, und die Frauen kümmern sich um die Herstellung des Roti, dem frisch gebackenen Fladenbrot. »Langar«, das ist nicht nur eine Küche, es ist ein Prinzip. Es symbolisiert den selbstlosen Dienst, die Liebe und Brüderlichkeit unter den Sikh.

Ohne Vorwarnung bin ich selbst Teil des Langar. Ich sitze auf dem Boden. In der Hand einen Teigklumpen. Gauri zeigt mir, wie die Roti-Rohlinge gleichmäßig rund und flach werden, bevor sie auf den Rost kommen. Nach meinem kleinen Hilfseinsatz probiere ich ein fertig gebackenes Exemplar.

Mehl. Salz. Wasser. Gänsehaut.

Zum Essen kommen darf jeder, egal, welcher Kaste oder Religion er angehört, egal, wie voll oder leer sein Geldbeutel ist. Und es kommt jeder.

Der Speisesaal ist voll, und vorne warten schon die nächsten Gäste. In diesem Teil des Tempels ist es dahin mit der Besinnlichkeit. Es wird gegessen, es wird geplaudert, es wird gelebt. Eine beeindruckende Szenerie, wenn man bedenkt, was ursprünglich den Anlass zum Bau dieses Tempels gab: Genau an dieser Stelle soll im Jahre 1675 der neunte Sikh-Guru Tegh Bahadur enthauptet worden sein, weil er sich geweigert hatte, zum Islam zu konvertieren.

Im Fort Barli in Barli

Im selben Jahr wurde auch das Fort Barli erbaut. 450 Kilometer weiter südwestlich, mitten in Rajasthan, auf halber Strecke zwischen Jaipur und Udaipur. Die über 340 Jahre alte Festungsanlage steht auf einer Anhöhe mitten im kleinen Dorf Barli mit seinen 4 500 Einwohnern.

Heute braucht sie keinen Widersachern mehr zu trotzen. Die größte Gefahr der überwiegend von der Landwirtschaft lebenden Dorfbewohner ist die Trockenzeit. Heute dient das Fort aus einer anderen Zeit willkommenen Gästen zum Schutz. Hinter den dicken Mauern reihen sich einige der Gemächer um einen kleinen, aber geschichtsträchtigen Innenhof. Die besondere Bauweise mit ihren schmalen, verwinkelten Treppenaufgängen erinnert noch an die ursprüngliche Schutzfunktion. So waren potenzielle Angreifer durch die engen Gänge gezwungen, einzeln vorzudringen, und damit angreifbarer.

Dass diese Strategie nicht immer aufging, erfahre ich vom Hausherrn selbst. Einer seiner Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großväter habe bei dem Versuch, die Festung zu verteidigen, sein Leben lassen müssen und sei, betont er – ohne Kopf – durch eben jenes Fenster in die Tiefe gestürzt, neben dem wir gerade sitzen. Wie gut, dass wir schon beim Kaffee sind. Aber auch heute noch dient das ständige Auf und Ab der Gänge und Treppen einem guten Zweck. Die Luft im Gebäude kann zirkulieren und bildet im Zusammenspiel mit dem Wasserreservoir im Innenhof eine natürliche Klimaanlage.

Ganz schön gepfeffert

Als wir wieder auf die belebte Straße treten, entscheiden wir uns, dem wirren Verkehr zu entkommen. Aber wie entkommt man mitten in Delhi einem wabernden Ungeheuer, das seine langen Tentakel auch noch in die letzte verwinkelte Gasse steckt? Ganz einfach: Man wird ein Teil von ihm. Die latente Angst, als Fußgänger jederzeit von einem anderen Auto-, Riksha- oder Tuk-Tuk-Fahrer über den Haufen gefahren zu werden, weicht auf dem Rücksitz der Riksha augenblicklich einem angenehmen Wohlbehagen.

Der Straßenverkehr in Indien fordert allen Mut

Sebastian Münter

Obwohl das Ungeheuer immer noch genauso laut und ungezähmt um sich schlägt, nehme ich in diesem Moment nur den seichten warmen Fahrtwind wahr. Wie Abertausende kleine Zahnräder eines perfekt geölten Uhrwerks greift alles ineinander. Diese Perfektion im Chaos muss man einfach erleben! Ziel der Fahrt ist der Gewürzmarkt Khari Baoli am westlichen Ende der Chandni Chowk Road. Den Markt selbst gibt es schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts.

Schon bei meiner Ankunft am Indira Gandhi International Airport war mir klar: Auf dieser Reise geht es um die Sinne. Der Duft gebratener Reiswaffeln hing allgegenwärtig in der Luft. Doch hier, mitten in einem Meer aus Kurkuma, Kardamom, Koriander, Fenchelsamen und Pfeffer in allen erdenklichen Formen und Farben, wird meine feine Nase auf die Probe gestellt. Und weil man Gewürze selten pur isst, gibt es an der Ecke unglaublich frische, mit Gemüse und Panir gefüllte Parathas. Heiß und fettig, aber mit Gänsehautgarantie.

Pink City beeindruckt

Jaipur, die Hauptstadt Rajasthans, ist eine Stadt der Tempel. Über 5.000 sollen es sein, verrät Sanjesh, unser Guide. Als wir an einem Baum stehen bleiben, weil es gerade nicht weitergeht, bricht er einen kleinen Zweig ab. Er ist ein sprudelnder Wissensquell, der uns an jeder Ecke teilhaben lässt: »Das ist Margosa, man kann sich seine Wirkstoffe zunutze machen, zum Beispiel wenn man diesen Zweig zerkaut, wirkt der bittere Pflanzensaft antibakteriell – quasi wie eine Naturzahnbürste.« Und es hat noch einen Vorteil.

»Alles, was man danach isst, schmeckt sehr lecker!«,

ergänzt er mit einem Lachen. Von Sanjesh erfahre ich auch, dass einige ursprünglich aus dem Hindi stammenden Worte über den Einfluss und Gebrauch der englischen Sprache im 19. Jahrhundert bis in unsere Breitengerade gereist sind. Pyjama und Bungalow sind solche Reisewörter. Ob auch ursprünglich deutsche Worte sich in anderer Richtung auf den Weg gemacht haben, weiß ich nicht. Eines kann ich aber schon jetzt versichern: »Helmpflicht«, »Schulterblick« und »Rettungsgasse« sind definitiv zu Hause geblieben.

Die Stadt trägt den Beinamen »Pink City«. Sämtliche Gebäude der Altstadt erstrahlen in einem einheitlichen Rosa. Es ist die Farbe der Gastlichkeit in Rajasthan. Den Anstrich erhielt die Stadt im Jahr 1876 anlässlich des Besuchs des Kronprinzen Albert Eduard, dem späteren König von Großbritannien und Kaiser von Indien. Auch der Hawa Mahal, der »Palast der Winde«, ist in dieser Farbe gehalten.

Palast der Winde in Jaipur

Sebastian Münter

Der Hawa Mahal ist das bekannteste Wahrzeichen der Stadt

Eigentlich gar kein Palast, sondern nur ein Fassadenteil des riesigen Stadtpalastes, ist er das berühmteste Wahrzeichen Jaipurs. Die imposante Konstruktion diente den Damen des Hofes, da sie sich nicht unter das einfache Volk begeben durften, als Beobachtungsposten, vor allem bei den großen Prozessionen, die am Palast vorbeizogen. Durch die raffinierte Bauweise war es den Hofdamen nicht nur möglich, alles zu sehen, zu hören und zu riechen, ohne entdeckt zu werden. Es wehte auch immer ein frischer Wind durch die Mauern des Palastes.

Es ist noch dunkel draußen, als ich frühmorgens erwache. Noch ziemlich verschlafen und orientierungslos kann ich das Geräusch nicht zuordnen. Aber wenige Augenblicke später werde ich wacher und höre es deutlich. In der Ferne ruft ein Muezzin mit seiner sanften, monotonen Stimme in einem immer wiederkehrenden Singsang zum Gebet. Ich habe so etwas noch nie gehört. Ja, schon, vielleicht doch. Aber hier? In dieser königlichen Stadtresidenz mitten in der Altstadt von Jaipur, hier versetzt es mich schlagartig in 1001 Nacht. Und da kommt sie auch schon wieder. Noch vor dem Frühstück fangen meine Unterarme zu kribbeln an. So bleibe ich von den Klängen verzaubert noch ein bisschen liegen und genieße den Morgen.

In Indien Zugfahren bedeutet Ankommen – im Hier und Jetzt

Die Strecke von Barli bis zum Bahnhof im benachbarten Bijainagar ist eigentlich nur sieben Kilometer lang. Aber obwohl die Straße frei ist, brauchen wir doch fast eine halbe Stunde mit dem Auto. Am Bahnhof herrscht buntes Treiben. Sobald ein Zug einfährt, tummeln sich neben den ein- und aussteigenden Passagieren emsige Verkäufer an den Fenstern der Waggons und versorgen die Reisenden vor allem mit frischen Snacks, heißem Chai und kaltem Wasser.

Es ist ein reges, scheinbar regelloses Treiben. Die Menschen queren die Gleise, geradezu desinteressiert an den ein- und abfahrenden Zügen. Auf der gegenüberliegenden Seite brennt ein Feuer auf dem Gleis, was aber niemanden zu stören scheint. Diese unglaubliche Gelassenheit setzt sich fort, als ich den Zug Richtung Udaipur besteige. Und sie überträgt sich vollends auf mich, als ich mich nach einigem Zögern in eine der offenen Türen des Zuges setze. Die Beine baumeln heraus. Ich lehne mich an. Mein Blick schweift über die karge, vorbeiziehende Landschaft.

Und selbst als der Zug an Fahrt gewinnt, bleibe ich in der Türöffnung sitzen. Unbeschreiblich. In diesem Moment komme ich an in diesem faszinierenden Land. Bei 120 km/h im Fahrtwind.

Zu guter Letzt: Udaipur

Ganz ruhig liegt er vor uns. In der Abenddämmerung wirkt der Pichola-See viel anmutiger als bei der Anreise am Tag. Schon Roger Moore hat ihn durchschwommen, wenn auch in einem Krokodil-U-Boot. Am östlichen Ufer des Sees erstrahlt der Stadtpalast von Udaipur in vollem Glanz.

Stadtpalast von Udaipur

Sebastian Münter

Die öffentlich zugänglichen Bereiche des Palastes, das Palastmuseum, konnten wir am Tage noch besichtigen. Der aktuelle Maharana von Udaipur residiert im nicht öffentlichen Teil. In mittlerweile 76. Generation. Es ist vermutlich die älteste, ununterbrochen herrschende Dynastie der Welt.

Das mit dem Herrschen ist vielleicht überholt. Wurde der Maharana früher noch an seinem Geburtstag in Silber und Gold aufgewogen und das Ergebnis an die Bedürftigen verteilt, so verdingt sich der heutige Maharana im Tourismus und dient auf diese Weise seinen Untertanen. Das gesellschaftliche Ansehen allerdings ist nach wie vor von königlichem Glanz. Mit dem Boot gleiten wir seicht dem Sonnenuntergang entgegen. Flughunde ziehen vorbei, von der Dämmerung geweckt. Es beginnt zu kribbeln. Zum wievielten Mal? – Mindestens!

Informationen zu dieser Reportage finden Sie im Rajasthan-Reiseguide