Der Białowieża-Nationalpark im Grenzgebiet zu Belarus ist einer der letzten Urwälder Europas. Zwischen seinen Jahrhunderte alten Bäumen leben Wisente, Wildpferde, Elche und Wölfe. Text: Carsten Heinke

Märchenkönige tragen rote Mäntel und Pelz aus Hermelin. Dieser hier hat sich in leuchtend grünen Samt aus Moos gehüllt. Erhaben reckt er seine Krone in den Himmel tief im Osten Polens. Denn seine Majestät ist eine Eiche. Mit gut 30 Metern Höhe und vier Metern Bauchumfang zählt »August der Starke« zu den mächtigsten Bäumen am Weg der Königseichen bei Pogorzelce. Im polnischen Nationalpark Belowescher Heide (Białowieża-Nationalpark) gibt es jedoch etliche, die ihn überragen. Die höchsten Eichen des Urwaldes, der sich tief nach Belarus hinein erstreckt, schaffen es auf bis zu 50 Meter.

»Augusts« kahle Äste sind verwachsen, faltig und vernarbt wie die Glieder eines greisen Menschen. Und ebenso wie dieser benutzt sie der bejahrte Baum mit Stolz und Würde. 1670, als der spätere Kurfürst Sachsens und Polen-König geboren wurde, war der hölzerne Hüne, der heute dessen Namen trägt, bereits ein Bäumchen. Nun ist er ein Denkmal – wie seine 23 Alterskameraden auf diesem Rundweg.

Königseichen-Äste

Carsten Heinke

Ein Wald – ein Organismus

Die Tage dieser Riesen sind gezählt. Meistens sterben sie im Stehen und genauso langsam, wie sie wuchsen. So lange auch nur an den letzten Zweigen Knospen sprießen, steckt darin Leben – genau genommen sogar noch nach dem Tod. Denn jeder Baumleichnam bietet Nachbar-Organismen Raum und Nahrung. Pilze und Insekten machen mit der Zeit das tote Holz dem Boden gleich und schaffen damit Platz für Nachwuchs. Der Wanderer genießt das Bild der Linien, das der an diesem Wintertag fast nackte Wald aus unzähligen Holzstrukturen zeichnet. Dazwischen flimmern neongrüne Flecken; dick bemooste Rinden alter Eichen, Buchen, Eschen, Linden.

Sumpfwiesen in Polen

Carsten Heinke

Je länger man auf eine Stelle schaut, umso deutlicher wird das System des Wirrwarrs, seine Ästhetik, seine Harmonie. Die Natur ist nicht nur Malerin. Sie ist auch eine Meisterin der Grafik. Sümpfe, feuchtes Laub und Gras dämpfen jeden Tritt und jedes Knacken. Es ist völlig still am Wochenende. Werktags hatte man selbst noch in jüngster Zeit die Kettensägen kreischen hören. Denn obwohl größtenteils als länderübergreifender Nationalpark, Weltnaturerbe und Biosphärenreservat streng geschützt, war der Lebensraum von Wisent, Wildpferd, Elch und Wolf sowie hunderter anderer Tier- und Pflanzenarten durch Rodungen gefährdet. Eine Klage des Europäischen Gerichtshofes wurde letztlich respektiert und die Abholzung gestoppt.

Tannen tauchen aus dem Nebel auf. Mit ihren schwer herabhängenden Nadelzweigen erinnern sie an löchrige Gardinen. Der Blick hindurch bringt eine Überraschung: Auf einer Lichtung, keine hundert Meter weit, steht eine Gruppe dunkelbrauner, dampfender Gestalten. Wisente! Vor Kraft strotzend, wenden sie die Hörnerhäupter. Aus den Nüstern steigen Atemwolken. Der Wanderer erwischt sich bei der Suche nach dem nächsten Baum, auf den er klettern könnte – kämen sie jetzt auf ihn zu gerannt. Doch die großen, wunderschönen Tiere trollen sich – ganz gemächlich – in die entgegengesetzte Richtung.

Zwei Wisente im Białowieża-Nationalpark in Polen

Carsten Heinke

Stimmen der Natur

Die friedlichen, scheuen Wildbüffel, die einst fast den ganzen Kontinent bewohnten, sind die größten Landsäuger Europas und Wappentiere des polnisch-weißrussischen Urwalds. Nachdem sie in freier Natur bereits ausgestorben waren, züchtete man mit den allerletzten zwölf in Gefangenschaft gehaltenen Tieren eine neue Population und wilderte sie in den 1950er-Jahren in der alten Heimat aus. Die Jagd, die diese Art beinahe völlig vernichtet hatte, trug zugleich zu deren Rettung bei. Denn als Exklusiv-Trophäen von Herrschenden schützte man die Wisente der Belowescher Heide noch lange, als sie anderswo schon ausgerottet waren.
Die Ruhe ist fast feierlich. Zaghaft zirpen ein paar Meisen. Sacht und rücksichtsvoll, als wollte er nicht stören, klopft ein Specht an einen hohlen Stamm. Es wär so schön, wenn diese Stimmen der Natur die einzigen Geräusche blieben im Wald der Könige, wo Wisente und Eichen die wahren Herrscher sind.

Aussichtsturm im Białowieża-Nationalpark

Carsten Heinke

Tipps für eine Reise in den Białowieża-Nationalpark

Anreise. Mit dem Auto über Warschau bis Białowieża (inklusive Mautstrecke) oder per Flug bis Warschau, von dort weiter per Zug oder Linienbus über Białystok und Hajnówka bis Białowieża.

Übernachten und Essen. 1903 wurde eigens für den russischen Zaren Nikolai II, der zum Jagen in die Belowescher Heide kam, der Bahnhof »Białowieża Towarowa« gebaut. Restauriert und zeitgetreu ausgestattet, stehen die stilvollen historischen Räume Gästen heute als Feinschmeckerrestaurant Carska zur Verfügung. In umgebauten Zugwaggons kann man übernachten. Oder sich in einer echt russischen Sauna mit Birkenreisig hauen lassen.

Zarenbahnhof Bialowieza

Carsten Heinke

Wandern. Touren planen kann man im Besucherzentrum des Dorfes Białowieża (Park Pałacowy 11, Tel. 085 681 29 01, Mo.–So. 9.00–16.00 Uhr). Es ist 1,5 Autostunden von Białystok entfernt. Es gibt viele Routen unterschiedlicher Länge und zu speziellen Themen. Geführte Touren mit Guides der Polnischen Gesellschaft für Touristik und Landeskunde (PTTK) sind möglich und im strengen Schutzgebiet sogar erforderlich. Vorsicht an der grünen Grenze zu Weißrussland! Illegale Übertritte, wenn auch nur zum Spaß, werden streng geahndet.

Sehenswürdigkeiten und Museen. Wissen rund um den Nationalpark vermittelt in Białowieża auch das Museum auf dem Palasthügel (16. April–15. Okt. Mo.–Fr. 9.00–16.30, Sa./So. 9.00–17.00 Uhr, Nebensaison Di.–So. 9.00–16.00 Uhr). Einst stand hier ein kleines Jagdschloss der russischen Zarenfamilie. Reste davon beinhaltet das heutige Gebäude.

Tiergehege. Im Rezerwat Pokazowy Żubrów am Ortsrand von Białowieża lassen sich Urwaldbewohner wie Wisente, Wildpferde, Elche, Hirsche und Wölfe aus nächster Nähe beobachten (16. April–15. Okt. tgl. 9.00–17.00, Nebensaison Di.–So. 8.00–16.00 Uhr).

Reiseauskünfte gibt es beim Polnischen Fremdenverkehrsamt.