Nach Grönland, ausgerechnet … und noch dazu im Winter? Rohes Robbenfleisch auf dem Teller fürchten die einen. Bitterkalt und ständig dunkel unken die anderen. So oder so ähnlich denken immer noch viele. Wenn es um die größte Insel der Welt, den weißen Riesen Grönland, geht, überschlagen sich häufig die Vorurteile. Höchste Zeit also, ein paar Dinge klarzustellen und den in der Tat kalten Winter Grönlands als faszinierende Reisezeit zu entdecken. Text: Norbert Eisele-Hein
Filigran bastelt Jeppe Ejvind Nielsen noch an seiner Nachspeise. Aus weißer Schokolade formt er trollähnliche Figuren, die ihre Gliedmaßen aus dem künstlichen Sand aus Honig und Vanilleeis in den Desserthimmel seiner Crème brûlée recken. Der gebürtige Däne lebt seit 2001 in Ilulissat, der mit knapp 5.000 Einwohnern drittgrößten Stadt Grönlands.
Nach seiner Ausbildung beim mehrfach zum besten Restaurant der Welt prämierten NOMA in Kopenhagen hat er im Arctic Hotel, dem einzigen 4-Sterne-Hotel Grönlands, seinen eigenen Gourmettempel »Ulo« geschaffen. Zum Heilbutt-Tartar wird selbst gebackenes Brot mit Gletscherwasser aus dem Fjord von Ilulissat und moussierend-perlender Champagner gereicht. Pochiertem Stachelrochen folgt ein Consommé aus grönländischen Krabben, selbstverständlich Wildfang, nicht von einer Farm stammend.
Die Pfälzer Cuvée vom VDP-Weingut Knipser zu diesem ersten Hauptgang versetzt uns bereits in Verzückung. Der Moschusochse auf Kohlrabi und Pilzen mit Graupenrisotto zerfällt auf der Zunge. Auch der 2007er Babera d’Alba aus dem Piemont ist genau darauf abgestimmt.
Wolkenkratzer aus Eisbergen in Ilulissat
Und dann dieser Blick aus dem Fenster, auf die gefrorenen Wolkenkratzer von Ilulissat. Mittenrein in den frostigen Kosmos der Disko-Bucht. Auf unendliche Reihen gewaltiger Eisberge, von denen einer seinerzeit den Untergang der Titanic besiegelt haben soll. Bereits 2004 wurde diese bläulich-schimmernde Wunderwelt zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt. Also von wegen rohe Robbe … Grönland ist längst ein Fine-Dining-Ziel für Kenner, hat aber auch für aktive Urlauber spannende Programme zu bieten.
Der Klassiker: Eine Hundeschlittentour zum Langleinenfischen. Bei unserer Ankunft im schmucklosen Container-Style-Flughafen in Kangerlussuaq zeigte das Thermometer erschreckende minus 38 Grad. Schon auf den gerade mal 150 Metern vom Flugzeug zum Terminal froren uns ruck, zuck die Nasenlöcher zu und die Wimpern aneinander. Wir sind also gewarnt.
Doch Niklas, der Inuit, weiß damit umzugehen. Er rüstet uns für eine Hundeschlittentour mit Kombinationen aus Robbenfell aus. Darunter Funktionswäsche, mehrere Lagen natürlich, und eine Daunenjacke. Die Füße stecken in mehrfach isolierten Monster-Boots. Solches Schuhwerk gibt es zu Hause in keinem Wintersportladen. In das empfindliche Gesicht schmieren wir eine dicke Schicht purer Fettcreme.
Niklas zeigt, wie es geht: Tube lautstark ausquetschen und ab dafür – fühlt sich an, als würde man sich eine Packung Frischkäse in das Gesicht klatschen. Gewöhnungsbedürftig – und auch nicht ganz geruchsneutral, aber nur so bleibt die Nase aktiv, und die Wimpern können weiterhin klimpern.
Mit 12 Hundestärken durch minus 38 Grad kalte Pampa
Er prüft noch mal die Leinen seines Gespanns, und schon rauschen seine zwölf Hunde lauthals bellend den Hang hinauf. Auf Grönland werden die Hunde nicht nacheinander angeleint, sondern nebeneinander. Mit Volldampf geht es über Kuppen und vom Wind geschaffene Unebenheiten.
Nicht selten hebt der komplette Schlitten ab. Zum Glück federt das Gepäck, das als Sitzplatz dient, den Aufprall etwas ab. Die zwölf Hundestärken sorgen für beachtenswerte Geschwindigkeiten. Wir sind gut beraten, uns ordentlich am Gepäcknetz festzukrallen. Nach unzähligen Hügelketten und bald 15 Kilometern Eispiste schlittern wir über den mehrere Kilometer breiten, aber dennoch beinhart zugefrorenen Ilulissat-Fjord.
Heute sorgen Niklas und weitere Inuit-Jäger ganz traditionell für das Abendessen. Zuerst bohren und hacken sie ein Loch in die meterdicke Eisschicht. Über eine uralte Kurbel lassen sie 200 Meter Angelschnur in die Tiefe gleiten. Alle halbe Meter hängt ein fetter Haken mit einem ranzigen Stück Robbenspeck dran. Schon eine gute Stunde später wird die sogenannte »longline« eingeholt. Arktische Rochen, Heilbutt, Catfish, Flundern zappeln daran. Kaum im Freien werden die Fische ausgenommen, bei gut 30 Grad unter null sind sie im Nu schockgefrostet. Die Atemwolken der lauthals sich freuenden Inuit explodieren förmlich in der tief stehenden Sonne.
Nordlichter zaubern eine farbenprächtige Lightshow
Wir bleiben in ihrer schlichten Blockhütte am Fjordrand. Heilbutt und Tiefkühlgemüse dampfen über dem Gaskocher. Serviert wird das Abendessen in einem einfachen Napf und wird mit einem kruden Holzlöffel rausgeschaufelt. Okay – deutlich einfacher angerichtet als im Ulo. Zugegeben, die Teebeutel können Jeppes Weinkeller nicht wirklich ersetzen, aber gepfiffen aufs Tafelsilber. Wir erleben erneut ein Festmahl, denn frischer kann Fisch nicht schmecken. Die Zimmertemperaturen steigen aufgrund des Kanonenofens und der Gaskocher auf über 20 Grad Celsius. Die Inuit sitzen alle im T-Shirt auf ihren Stockbetten. Die Hosen aus Eisbärenfell und die Jacken aus Robbe oder Anoraks mit Hundefellfütterung hängen von der Decke.
Die Schlittenhunde bleiben draußen, rollen sich bei grausamen 48 Grad unter null einfach ein. Die Hunde sind übrigens – so goldig sie auch aussehen – keine Schoßhündchen. Streicheleinheiten von Fremden sind sie nicht gewöhnt.
Darum Vorsicht walten lassen: Abrupte Annäherungsversuche werden mit Zähnefletschen quittiert. Wir packen noch mal eine Fettschicht ins Gesicht und prüfen den Sitz der Sturmmasken. Schon stehen wir wie die Orgelpfeifen im Freien.
Wir beobachten gelbe, blaue und neongrüne Lichtkaskaden bei ihrem spukigen Ritt über das Firmament. Die Aurora borealis, so der wissenschaftliche Begriff für das Nordlicht, wird auch als Sonnenwind bezeichnet. Er entsteht, wenn elektrisch geladene Teilchen der Magnetosphäre auf Sauerstoff – und Stickstoff atome der oberen Erdatmosphäre treffen. Ein komplexer physikalischer Vorgang, der lange nicht erklärt werden konnte und einst Goldgräber im hohen Norden scharenweise in den Wahnsinn getrieben hat.
Jedenfalls schlägt dieses grönländische Abendprogramm jeden Hollywood-Sci-Fi-Blockbuster mit Leichtigkeit. Fotografen, aufgepasst: Wer bei diesen Temperaturen seinem Kamerabody zu nahe kommt, bleibt schnell mal mit der Nase am Metall kleben … und sorgt damit für schallendes Gelächter bei den Inuit. Der Schmerz lässt schon bald wieder nach – aber die rote Laterne an der Nasenspitze trägt man mitunter als Souvenir nach Hause.
Schifffahrt in Ilulissat muss pausieren – alles zugefroren
Zurück in Ilulissat, müssen wir feststellen, dass der ganze Hafen eingefroren ist. Die selbst für Grönland ungewöhnlich tiefen Temperaturen legen die komplette Schifffahrt lahm.
Somit wird nichts aus der Walbeobachtungstour auf dem Wasser. Doch die Alternative ist nicht minder reizvoll. Wir steigen um auf den Helikopter und fliegen zur Disko-Insel. Ilulissat bedeutet im Inuktitut, der Sprache der Inuit, »Eisberg« – aus gutem Grund. Der Tiefblick auf die teils fußballfeldgroßen und hochhaushohen Eisberge erzeugt Gänsehaut. Bei diesem Flug wäre jedes noch so packende Boardprogramm überflüssig. Alle Augenpaare sind fest auf die kleinen Fenster gerichtet, um diese einzigartige Eiswelt mit ihren tausendfachen Farbnuancen von Weiß und Blau zu sehen.
Wir landen in der 900-Seelen-Siedlung Qeqertarsuaq an der Küste von Disko.
Die ehemals holländische Walfangstation gewährt auch heute noch einen hautnahen Einblick in das Leben der einheimischen Fischer und Jäger. Gleich hinter dem Supermarkt der Pilersuisoq-Kette bieten Robbenjäger in einem behelfsmäßig zusammengenagelten Verschlag frisches Robbenfleisch an. Ein Jäger mit geschulterter Flinte verkauft dem Wirt des nahen Restaurants »Arthur« einen frisch erlegten, in der Eiswüste perfekt getarnten, schneeweißen Polarhasen.
Besuch im Volkskundemuseum der Inuit
Nur das frische Blut am Einschussloch sorgt für einen sichtbaren Kontrast im diffusen Tageslicht. Helikopter-Airport, Container-Terminal im Hafen, ein paar Dutzend Autos, Geldautomaten – Qeqertarsuaq wirkt durchaus modern. Die gefrorene Wäsche wackelt vor den kunterbunten Fischerhäusern im Wind und sorgt für einen idyllischen Eindruck. Doch die Inuit waren bis vor 60 Jahren noch Jäger, lebten in der Steinzeit. Wohnten den Sommer über in Erdhöhlen und im Winter in Iglus und kleideten sich ausschließlich mit Fellen, die sie mit Knochenwerkzeugen bearbeiteten.
Einen guten Einblick in die Kulturgeschichte der Inuit vermittelt auch das kleine, liebevoll arrangierte Volkskundemuseum im Ort. Eines ist klar, trotz neuester Mobiltelefone und Satellitenschüsseln auf dem Dach: Der abrupte Übergang in die Moderne verläuft nicht ohne Verwerfungen. Gestern noch täglicher Kampf ums Überleben, heute Postbeamter von 9 bis 17 Uhr, da sind Identitätskrisen nicht verwunderlich.
Mit dem Schneemobil sausen wir Richtung Inselgebirge
Die Temperaturen sind in den letzten Tagen zwar auf minus 25 Grad Celsius gestiegen, aber bei 50 bis 60 Stundenkilometern ist der Chill-Faktor mörderisch. Wenn zwischen Helm und Robbenanzug nur ein kleines Polarlüftchen durchzieht, fühlt sich das an wie ein Hammerschlag. Der Fahrtwind ist imstande, Bartstoppeln einzeln zu entwurzeln. Zum Glück sind die Griffe beheizt, denn sonst würden uns im Nu die Finger abfrieren.
Von der Passhöhe reicht der Blick über die Disko-Bucht auf das entfernte Festland und die unendliche Weite des Inland-Eisschilds, der wie eine ätherische Lösung am Horizont schwebt. Das größte Eisplateau der Welt wird bis zu 3.500 Meter dick und so schwer, dass sich die Landmasse darunter 800 Meter gesenkt hat. Darin sind circa zehn Prozent der Süßwasserreserven der Erde gebunden. Ein Abschmelzen hätte einen Anstieg des Meeresspiegels um sechseinhalb Meter zu bedeuten. Und die Eisdecke schmilzt derzeit jährlich um 240 Kubikkilometer, das ist ein Vielfaches von einst.
In der »Arktisk Station« werden die Grönlandwale erforscht
Auf dem Rückweg besuchen wir die »Arktisk Station«, eine über 100 Jahre alte Forschungsstation der Universität Kopenhagen.
Dort treffen wir auf Outi Tervo, einen renommierten finnischen Wal-Experten, der die inzwischen stark bedrohten Grönlandwale erforscht.
»Die gigantischen Säuger kommen bereits im frühen März in die Gewässer der Disko. Der Hafen ist zwar fest in der Hand einer meterdicken Eisschicht … das heißt, wir können die Wale leider nicht sehen, aber wir können ihren Gesängen lauschen«
erklärt er uns aufmunternd. So stapfen wir zu einem alten Rettungs- und Beobachtungsturm etwas oberhalb des Küstensaums. Outi und sein Team haben dort eine »Wal-Abhörstation« eingerichtet und Unterwassermikrofone in der Bucht installiert.
Aufmerksam beobachten wir die gefrorene Bucht, wo direkt hinter den pastellfarbenen Häuschen monumentale Eisberge aufragen. Im nachmittäglich-arktischen Zwielicht lauschen wir mit Kopfhörern den sphärischen Klängen der Grönlandwale. Auch dieses bizarre Konzerterlebnis gibt es so garantiert nur auf Grönland. Ja, der frostige Außenposten im Polarmeer ist auch im Winter eine Reise wert. Aber es müssen warme Klamotten ins Gepäck. Sehr warme.
Tipps für eine Reise nach Ilulissat
Anreise. Ilulissat liegt 250 Kilometer nördlich des Polarkreises in der Disko-Bucht an der Westküste Grönlands und ist von Deutschland aus am besten über Kopenhagen mit Air Greenland zu erreichen.
Von dort mit Boot oder Hubschrauber zur Insel Disko.
Veranstalter vor Ort. World of Greenland organisiert Hundeschlitten, Schneemobile, Iglu-Übernachtungen, Tourenpakete mit Inlandsflügen und vor allem auch die passende Bekleidung.
Nützliche Reisetipps bietet die offizielle Website des Fremdenverkehrsamt Grönlands. Die reisen-EXCLUSIV-Tipps zu einer Reise nach Grönland findet ihr hier.