Wer eine Radreise durch Indien unternimmt, wird diese so schnell nicht vergessen. Besonders intensiv ist eine Fahrt durch den Bundesstaat Rajasthan. Hier mischen sich kulturelle Höhepunkte mit der freundlichen Lebensart der Inder. Der Subkontinent ist bunt, schrill, altmodisch, modern und steckt voller Überraschungen.
Text: Thorsten Brönner
Der Moment, dem ich seit Monaten entgegenfiebere, beginnt mit einem Sonnenstrahl. Er fällt golden durch die Scheibe meines Schlafwagens der Indian Railways. Die ganze Nacht über sind wir vom wuseligen Neu-Delhi auf das Land hinaus gerattert. Jetzt erstrahlt das Grün von Rajasthan und die herbeigesehnte Reise beginnt. 22. November. Die Morgensonne malt Konturen auf Sträucher und Bäume, hinter denen die Berge des Aravalligebirges emporsteigen.

Udaipur in Rajasthan I Foto: Thorsten Brönner
Unser indischer Guide Harish Kumar hetzt durch die Waggons und drängt alle neun Radler der Reisegruppe, an der nächsten Station Udaipur auszusteigen. Die Stadt im Süden Rajasthans glitzert als eine der Perlen Indiens. Am Ufer des Pichhola-Sees tauchen wir in eine Bollywoodkulisse ein. Die Augen springen von einem Detail zum nächsten, die Kamera klickt unaufhörlich. Elf Paläste umringen den See, Hügel tragen weitere Prachtbauten.
Udaipur, einst Zentrum des Mewar-Reichs, beherbergt noch heute den adeligen Maharana in seinem Stadtpalast. »Venedig des Ostens« und »Stadt des Sonnenaufgangs« – diese Beinamen schmücken Udaipur zu Recht.
Nach einer Bootsfahrt und Palastbesichtigung entern wir unsere Bikes. Drei Frauen und sechs Männer starten die Tour. Harish Kumar navigiert uns vom Pichhola-See ins wimmelnde Stadtzentrum. Ein Bienenschwarm aus Autos, Mopeds, Radfahrern und Fußgängern umschwirrt uns. Wir halten einfach drauflos, lassen den Verkehr um uns herum fließen. Die Stimmung knistert: winken, bremsen, schauen und warten auf die Nachzügler.

Foto: Thorsten Brönner
Auf die Fahrräder und los ins Getümmel!
Nördlich des Zentrums bettet sich ein zweiter See in die Landschaft, der Fateh Sagar. Wir rollen am Ufer entlang, vorbei an Pferdegespannen und Haltern von Dromedaren, die auf Kundschaft lauern. Mein Blick wandert zum See, zu den Palmen und den Bergen des Aravalligebirges, unserem nächsten Ziel. Der Abschied von Udaipur wird schwerfallen, doch die Vorfreude auf neue Abenteuer kribbelt. Jeder Tag verspricht Überraschungen, mal durch Bauwerke, mal durch Menschen, mal durch die Natur.
Anderentags stoppt unser roter Reisebus an einer Straßenkreuzung in Iswal. In dem Gefährt überbrückt unsere Gruppe Passagen zwischen den Reisehöhepunkten. Heute stehen gleich mehrere an. Während die Begleitcrew die Räder am Straßenrand aufreiht, nutzen wir die Gelegenheit, die Radflaschen mit Wasser aufzufüllen. Bei der Abfahrt hängt Morgendunst über der trockenen Landschaft. Dieser lichtet sich nach wenigen Kilometern. Die Asphaltstraße zieht sich in mehreren Geländestufen hinauf ins Aravalligebirge. Es gibt immer etwas zu sehen: Mopeds, teils mit einer ganzen Familie beladen, winkende Fußgänger, Tiere, die die Fahrbahn kreuzen. Flüsse, Seen und kleine Wälder säumen die malerische Landschaft.

Foto: Thorsten Brönner
Die Route schlängelt sich durch kleine Felder. Bauern ziehen mit ihren Ochsengespannen den Pflug durch die trockene Erde. Neugierige Affen turnen in den Bäumen herum. In jede Etappe baut der Guide Harish Kumar Stopps in den Dörfern ein. Die Crew im Bus fährt vor und bestellt an einem Marktstand Chai-Tee. Wir sind stets mitten im Geschehen. Nach und nach kommen mehr Passanten hinzu und fragen nach dem Woher und dem Wohin? Und irgendwann kommt immer die Bitte, ob sie ein Foto von uns machen können. »Klar!«
Highlight unterwegs: Die Festung Kumbhalgarh
Nachmittags beziehen wir am Rand der Stadt Kumbhalgarh die Unterkunft für die nächste Nacht. Harish gönnt uns eine Stunde zum Frischmachen. Dann fahren wir mit Tuk Tuks einem weiteren Höhepunkt entgegen – der Festung Kumbhalgarh. Sie diente dem Rana von Mewar als Bollwerk gegen den vordringenden Islam und zum Schutz vor verfeindeten Rajputen-Staaten. Die Anlage wird von einer 36 Kilometer langen, zwölf Meter hohen und acht Meter breiten Mauer geschützt. Derart behütet ragen darin 360 Tempel auf. Zusammen mit anderen Bergfestungen in der Region zählt das Areal zum Unesco-Welterbe. Nur einmal nahmen Feinde das Bollwerk ein – wegen Wassermangels.

Die Festung Kumbhalgarh in Rajasthan I Foto: Thorsten Brönner
Staunend wie ein Kleinkind folge ich dem Guide vom Tempelareal ins Herz der Anlage. Während die unteren Teile bereits im Schatten liegen, erstrahlen die höher gelegenen Bastionen im weichen Licht der Abendsonne. Auf dem Hauptturm haben sich rund 30 Inder versammelt. Gleich versinkt die Sonne über den bewaldeten Gipfeln des Aravalligebirges. Der Horizont flammt orange auf, die Sonne verfärbt sich zu einem roten Ball. Auf dem Weg zum Haupttor des Forts bin ich der letzte Tourist. Zwei Ordner mahnen zum Weitergehen.
Ich kann mich schwer von diesem magischen Ort losreißen.
Die Reise rauscht dahin. Am fünften Tag radeln wir durch die Snake Mountains nach Pushkar, einem bedeutenden Wallfahrtsort für Hindus. Auf der einen Seite der Stadt laufen die Berge aus, gegenüber beginnt die Wüste Thar. Man nennt sie auch die Große Indische Wüste. Sie reicht im Westen bis Pakistan. Am Ufer des Sees im Herzen der Stadt pulsiert das Pushkar Festival, das sich nach der Vollmondphase richtet. Wir schlendern über eine Nebenstraße. Überall Sand, überall neue Eindrücke – geschmückte Pferde, Zelte, Karussells und Buden. Doch trotz der ständigen Ablenkung heißt es wachsam bleiben: Dromedargespanne halten unbeirrt ihren Kurs.

Foto: Thorsten Brönner
Rund um Pushkar und den heiligen See
Indische Musik lockt uns weiter. Die Nacht senkt sich über das Festival und hüllt alles in eine mystische Atmosphäre. Nach einem Besuch im wichtigsten Brahma-Tempel der Welt erreichen wir den heiligen Pushkar-See. Er ist umgeben von 52 Ghats (Badestellen). Drei aus unserer Reisegruppe bekommen eine Privatzeremonie. Ein Einheimischer rezitiert auf Englisch Phrasen, die von langem Leben, Glück für mich und meine Familie sprechen. Ich wiederhole die Worte wie ein Papagei, ohne ihren genauen Sinn zu verstehen. Der Mann malt mit Farbpulver ein Symbol auf meine Stirn und bittet, Salz und Rosenblätter in den See zu streuen.
Nach einer Nacht im Wüstencamp brechen wir bei dunstigem Licht zur längsten Etappe auf. Meine Fahrradreifen schlingern im Sand. Er bleibt am Stadtrand zurück. Der Landstrich lechzt unter der extremen Trockenheit. Im Sommer brennt die Sonne mit bis zu 45 Grad. Heute, am 25. November, haben wir angenehme 26 Grad, begleitet von einem leichten Gegenwind. Kühe, Wasserbüffel und Hunde streunen auf der Straße umher. Wir kommen an einer Baustelle vorbei. Junge Frauen wie Männer, teils mit Kind im Arm, arbeiten im Straßenbau. Radler aus dem fernen Europa sind eine willkommene Arbeitspause. Unsere Radlerkarawane zieht von Dorf zu Dorf, gefühlt von einem Marktstand mit Chai-Tee zum nächsten.

Foto: Thorsten Brönner
100 Kilometer geschafft
Nachmittags dürfen wir den Arbeitern eines Marmorbetriebs zusehen. Aus der Region stammen die Marmorsteine des Taj Mahal – jenem Wahrzeichen Indiens, das wir im Reisefinale besichtigen wollen. Jeden Tag kommen wir ihm auf unserem Nordostkurs ein Stück näher. Nachmittags stoppt Harish plötzlich mitten im Nirgendwo der indischen Provinz. »Super! Ihr habt hundert Kilometer geschafft. Hier endet die Fahrt für heute.« Unser Busfahrer hält am Straßenrand und kocht in einem Topf Chai-Tee. Mit einem Lächeln erzählt er mir:
»Als Fahrer in Indien braucht man drei Dinge. Erstens gute Bremsen, zweitens laute Hupe, drittens viel Glück.«
Jeder Tag in Rajasthan überrascht mit neuen Eindrücken. In Jaipur, der »Pink City«, legen wir einen radfreien Tag ein. Morgens geht es hinauf zum Fort Amber, einem typischen Beispiel der hinduistischen Baukunst. Es thront oberhalb des Maota-Sees und nimmt einen ganzen Hügel ein. Hinter den massiven sandfarbenen Mauern verbirgt sich ein prunkvoller Palast.

Fort Amber in Jaipur I Foto: Thorsten Brönner
Jaipur, die »Pinke Stadt«
Die Geschichte des Fort Amber reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück, als Raja Man Singh I., ein Feldherr des Mogulkaisers Akbar, den Bau in Auftrag gab. Heute tragen bunt bemalte Elefanten Touristen den Hügel hinauf, schnaufend unter der Anstrengung. Wir erklimmen die breiten Treppen zu Fuß und staunen über die hügelige Landschaft, die reich verzierten Fassaden und die weitläufigen Innenhöfe. Von hier aus sind es 60 Kilometer bis zu einem ganz anderen Reisehöhepunkt – dem Sariska-Nationalpark.
Morgens um 6.30 Uhr verlassen wir bei kühlen 16 Grad mit zwei kleinen Jeeps das Resort Sariska Tiger Heaven. Alle haben Jacken an und Wolldecken übergeworfen. Erste Antilopen zeigen sich außerhalb des Parks. Gestern trieb uns bei einem Nachmittagsspaziergang Leopardengebrüll zurück ins Resort. Heute beginnt der sichere Game Drive.

Elefanten am Fort Amber in Jaipur I Foto: Thorsten Brönner
Die Fahrer ziehen im Nationalpark ihre Kreise. Wir erspähen viele Tiere: Nilgauantilope, Axishirsch, Buntstorch, Stelzenläufer und Blauer Pfau – der Wappenvogel Indiens.
Im Park streifen 100 Leoparden und 31 Tiger umher. Einen wollen wir aufspüren.
Funknachrichten führen uns zu einem Mopedfahrer. Der in Tarnfarben gekleidete Mann hat einen der getrackten Tiger im Unterholz aufgespürt. Unbewaffnet steigt er von seinem Gefährt und läuft in die Büsche hinein. Der Guide im Fahrzeug sagt: »Die Tiger sind streng geschützt. Es ist hier noch nie etwas passiert.« Ich frage mich, ob das Wildtier das auch weiß. Andere Jeeps treffen ein, Regen fällt.
15 Minuten angespanntes Warten. Dann plötzlich prescht ein riesiger Königstiger hervor, überquert den Weg und verschwindet wieder wie eine Geistererscheinung. Ich bin so überrascht, und das Ganze geht so schnell, dass ich kein einziges Foto schießen kann. Aber Wahnsinn – wir haben einen Königstiger gesehen. Seit fünf Tagen im Park die erste Sichtung. Es ist ST-21 »YUVRAJ«, ein fünf Jahre altes Männchen.
Unterwegs mit dem Fahrrad im Tigergebiet in Rajasthan
Tiger fressen alles, was sie bekommen: Antilopen, Wildschweine, Rinder, Ziegen, Hunde, Affen, manchmal Menschen. Nach drei Stunden im Park fahren wir zurück zum Resort und bereiten uns auf die Etappe vor. Harish ist ein Guide, dem wir seit acht Tagen blind vertrauen. Doch als er sagt, wir radeln gleich durch das Tigergebiet, kommen uns ernste Zweifel. Im Jeep mag die Begegnung mit dem bis zu 300 Kilogramm schweren Raubtier ja ein Abenteuer sein – aber auf dem Rad wünscht man sich andere Tierbegegnungen.

Foto: Thorsten Brönner
In einer langen Kolonne folgen wir Harish in den Park. Wieder spähen alle nervös in die Büsche. Schilder mahnen, wegen der Tiger langsam zu fahren. Die Gruppe wünscht sich in diesem Moment schnellere Räder. Zum Glück stehen nur Hirsche, Indische Languren und Wildschweine am Weg. Die Einheimischen füttern die Tiere mit Bananen und Toast. Das sei gut für das Karma. Dann sind wir wieder draußen aus dem Park. Puh!
Auch in den nächsten Tagen verspricht das Reiseprogramm viele Höhepunkte. Das Vogelreservat in Bharatpur, der Königspalast von Fatehpur Sikri, dazu das Rote Fort von Agra. Wir werden weiter durch die Dörfer ziehen, Chai-Tee kosten und die Ruhe auf dem Land genießen. Das Finale ziert der Taj Mahal – das schönste Bauwerk der Welt!

Autor Thorsten Brönner vor dem Taj Mahal
Mehr Infos zu Fahrradfahren in Rajasthan
Anreise. Neu-Delhi erreicht man aus Mitteleuropa gut per Flugzeug. Für die Einreise benötigen Urlauber ein Visum. Anschließend wird man zum ersten Hotel gebracht. Während der Reise dient ein großer Bus als Transportmittel zu den Radtouren.
Veranstalter. Die beschriebene zwölftägige Reise »Indien – Mit dem MTB zu Maharajas und Palästen« wird von Hauser Exkursionen angeboten; Gruppengröße 4 bis 16 Personen. Neben einem Guide reisen zwei Helfer und ein Fahrer mit. Die Gäste übernachten in Hotels und genießen Vollpension. Preis ab 2.395 Euro.
Reisezeit. In den Sommermonaten kann es in Indien extrem heiß werden. Danach kommt der Monsunregen. Ein guter Reisemonat ist der November. Auch über Weihnachten oder Anfang März kann man Rajasthan mit dem Fahrrad bereisen. Am Ende des Jahres ist es aber kühler und die Sicht teils schlechter.

Foto: Thorsten Brönner