Das Ostkap Neuseelands ist menschenleer. Einzig ein klappriger alter Mitsubishi fährt die windige Küstenstraße entlang; zur Linken der tiefe Abgrund und das weite Meer, zur Rechten undurchdringbare Wälder. Noch wissen die beiden jungen Abenteurer nicht, was ihnen am Ende der Welt unmittelbar bevorsteht. Oder ist es der Anfang der Welt – schließlich geht hier die Sonne zuerst auf? Text: Marie Tysiak

»Die Thunfischdose ist nicht dicht. Es stinkt schon wieder«, brülle ich meinem Freund Tobi, meinem Partner in allem, über die laute Materia-Musik entgegen. Er wendet den Blick von der Straße ab und guckt mich an. »Ich mag unsere Konstruktion trotzdem«, sagt er laut mit einem Grinsen, aber ich sehe leichte Besorgnis in seinen Augen. Und vielleicht auch etwas schlechtes Gewissen. Gut so. Ist ja schließlich auch seine Schuld, finde ich.

Dabei hat er sich vorhin beim Tanken noch so gefreut über seinen Erfolg. Auf der Zapfsäule standen $ 40,04. Da neuseeländisches Bargeld bei der Zehn-Cent-Münze startet, zahlt er nur $ 40 und hat damit das beste Preis-Leistungs-Verhältnis erzielt. Als er selbstgefällig grinsend, natürlich nachdem er stolz berichtet und sich seinen Glückwunsch von mir abgeholt hat, zum Bezahlen in das kleine Holzhaus ging, fragte ich mich, ob ich mir Sorgen machen sollte.

Okay, er ist Mathematiker, aber trotzdem. Sind wir vielleicht schon zu lange weg von zu Hause? Könnten wir vielleicht wieder etwas Sinn und Ernsthaftigkeit vertragen, wenn wir schon solche Emotionen beim Tanken erleben? Tanken war sonst immer etwas Lästiges gewesen, wo man Preise vergleicht, um möglichst effizient sein liebes Automobil zu befüllen. Jetzt ist es zu einer Art Spiel geworden. Und uns ist schnurz, was der Liter kostet, wir sind froh, wenn wir Benzin finden!

Dieser Spaß am kleinen Alltäglichen ist doch Luxus. Daheim ist mein Alltag so voll, dass ich mich manchmal schon morgens im Bett darauf freue, abends wieder dort liegen zu können. Auf Reisen ist das nie so. Ich stehe gerne auf. Jeder Tag bringt etwas Neues. Orte, Begegnungen, Erlebnisse. Nicht immer sind die Tage spektakulär, aber wenigstens macht selbst das Tanken Spaß. Nein, eigentlich muss ich mir keine Sorgen machen, dachte ich, als Tobi, immer noch stolz grinsend, zurückkam und wir weiterfuhren.

Eine windige Straße führt um das Ostkap Neuseelands.

Marie Tysiak

Auf Reisen neige ich zudem zu höherer Risikobereitschaft.

Nicht dass ich sonst ein Schisser bin, ganz im Gegenteil. Aber dieses Auto zum Beispiel. Wir haben es letzte Woche in Auckland gekauft. Unter Umständen, bei denen meine Eltern garantiert die Hände vors Gesicht geschlagen hätten und schreiend davon gelaufen wären. Die Verkaufsanzeige bestand aus einem kleinen, handschriftlich gekritzelten Notizzettel, der in zwei Sätzen drei Rechtschreibfehler enthielt. Als ich anrief, bot der Mann mit starkem neuseeländischen Akzent an, gleich vorbeizukommen. Er müsse noch heute verkaufen. Charly, wie er sich vorstellte, kam zwei Stunden zu spät zum Treffpunkt, hatte eine leichte Alkoholfahne, und seine blondierte und vollbusige Frau Hailey sah aus, wie ich mir eine Barkeeperin in einer Trucker-Kneipe vorstelle. Wir wollten den weißen Mitsubishi Mirage Probe fahren – nur sprang der leicht rostige Wagen nicht an.

Das wäre der Zeitpunkt gewesen, wo jeder Mensch mit ein wenig Vernunft auf Nimmerwiedersehen gesagt hätte. Wir nicht. Wollten wir doch unbedingt heute ein Auto. Wir hatten einfach keine Lust mehr auf die Stadt. Seit ein paar Tagen waren wir in der Metropole und hatten uns das Neuseeland-Abenteuer anders vorgestellt. Es regnete ununterbrochen, wir mussten uns um unsere Arbeitserlaubnis kümmern, was schwieriger war als gedacht. Zudem wohnten wir in einem teuren Hotel, weil alles andere ausgebucht war. Jobs waren rar und , wie wir fanden, dazu noch unterbezahlt.

So kam es, dass wir, obwohl der Verkäufer des Autos mehr als dubios und das Auto mehr als ein bisschen überholungsbedürftig war, kickstarteten und eine Probefahrt machten. Es fuhr, es bot genug Platz für eine Doppelmatratze, und es war spottbillig. Wir bekamen noch eine neue Batterie eingebaut – Charly war eine Art Automechaniker –, bevor wir auf einem angesengten Rechnungsbogen einen Vertrag aufsetzten. Zack, nach zwei Stunden hatten wir unseren ersten eigenen Autoschlüssel in der Hand (der eher aussah, als sei er von einem Fahrradschloss, so klein und schlicht).

Zwei Fremdkörper in der Natur Neuseelands, beide aus demselben Jahrgang.

Marie Tysiak

Und jetzt haben wir keinen Tankdeckel mehr.

Den hat Tobi vor lauter Euphorie nach seinem großen $ 40,04-Tankerfolg auf dem Autodach liegenlassen. Nicht mal die Tankklappe hat er geschlossen! Als wir drei Stunden später Halt machten, sahen wir sein Missgeschick. Der Tankdeckel ist natürlich weg – irgendwo zwischen Whakatane und Te Kaha muss er am Straßenrand liegen. Unmöglich auffindbar. Wir wurden kreativ: Wir bereiteten Thunfisch-Sandwiches zu, unseren Lieblingssnack, und die leere Dose zum Halten darüber passt wie angegossen auf die Tanköffnung. Ein wenig Ducktape (der beste Campingbegleiter), fertig! Wir sind stolz auf unser Werk und setzen den Roadtrip sogleich fort. Bei Kilometerstand 150 ab Thunfischdosen-Einsatz steigt uns der Benzingeruch in die Nase.

Ich gebe zu, ein wenig sauer bin ich schon auf ihn. Wir befinden uns am Ostkap Neuseelands, einem der am dünnsten besiedelten Gegenden des Landes. Die zerklüfteten Küstenabschnitte sind übersät mit großem Treibholz, das über die Jahre skurrile Formen angenommen hat. Eine steile und stark kurvige Straße führt am Abhang entlang, kurz dahinter ragen schroffe Berge empor. Die wenigen Dörfer entlang der Küste bestehen selten aus mehr als einer Kirche und wenigen Wohnhäusern. Wir lieben diese verlassenen Orte, wo man jede Menschenseele grüßen muss, weil es sonst unhöflich erscheint. Wo man keine Touristen trifft.

Wir ertappen uns oft dabei, wie wir negativ über »den Touristen« sprechen, gerade wenn es ein Landsmann ist. Wahrscheinlich wollen wir in der Illusion leben, keine Touristen, sondern Reisende zu sein, die etwas Besonderes, etwas Einzigartiges erleben. Aber mal ehrlich, wir sind auch nur stinknormale Abenteuertouristen auf Entdeckungstour. Aber an solch verlassenen Orten trifft man eben keine Selfie-Stick-Asiaten oder Happy-Hour-Fußballmannschaften.

Treibholz säumt die Küste entlang des Ostkaps in Neuseeland.

Marie Tysiak

Hier wohnen hauptsächlich Maoris

So viele wie in keinem anderen Teil des Landes. Ihre traditionellen Versammlungshäuser sind mit Kriegerfiguren geschmückt und wirken exotisch in der sonst sehr westlich geprägten Kultur des Landes. Sie sind die Ureinwohner, wobei das umstritten ist. Zwar kamen sie vor den Europäern mit Kanus aus Polynesien über den rauen Pazifik. Vor ihnen soll es aber schon ein rothaariges Volk gegeben haben, das die Inseln am Ende der Welt besiedelte. In jedem Fall waren es die Maoris, die seit dem 13. Jahrhundert das hügelige, grüne Land erfolgreich vor Angreifern, auch untereinander, verteidigten und zu ihrer Heimat machten, von dem mysteriösen Rothaarvolk bleiben nur Legenden und dubiose Funde.

Alle Versuche der Europäer, das Land zu betreten, wurden erfolgreich von den kriegerischen Maori-Stämmen abgewehrt. Erst Ende des 18. Jahrhunderts schaffte es kein anderer als James Cook, vor der Nordinsel zu ankern, und er begann, die Inseln zu kartografieren und zu erkunden. Es folgten viele blutige Auseinandersetzungen, und schließlich unterwarfen sich die Maoris den englischen Seefahrern, die »Dank« ihrer Schusswaffen überlegen waren.

Heute ist Neuseeland unabhängig, politisch allerdings eng mit Großbritannien verbunden. Auch sind die Maoris heute klar in der Minderheit – gerade mal jeder siebte Neuseeländer hat Maori-Vorfahren. Nur am Ostkap sind sie in der Mehrheit. Aufwendige Schnitzereien schmücken die Kirchtürme, letzte Nacht haben wir gegenüber von  einem Friedhof mit Totempfählen genächtigt, und vor einem Einkaufsladen wartete geduldig ein angebundenes Pferd auf seinen Besitzer.

Am Ostkap in Neuseeland zieren Maori-Figuren den Eingang zu einem Versammlungshaus.

Marie Tysiak

Die Chance, dass wir hier einen neuen Tankdeckel erstehen werden, ist gering, sozusagen ein Glücksfall. Eigentlich ist es ja auch egal – die letzten drei Stunden ging es ja auch ohne Tankdeckel, denke ich mir. Was soll groß passieren? Ich halte meinen Kopf aus dem offenen Fenster in den Fahrtwind. Den Gedanken, dass ich mal gehört habe, dass so Benzin verdunstet und erhöhte Brandgefahr besteht, übertöne ich einfach mit dem lauten Wind.

»Siehst du, was ich sehe?«

Tobi zeigt grinsend nach vorne. Aus meinen Gedanken gerissen, blicke ich nach vorne. Ein blaues Schild steht am Straßenrand, darauf ein verblasstes Symbol, das allerdings noch eindeutig zu erkennen ist: eine Zapfsäule! Darunter die Aufschrift »10 km«. Perfekt! Eine Viertelstunde steil bergauf, den Blick übers weite, raue Meer, über das sich Wolken in allen Grautönen aneinander vorbei schieben. Dann biegt die Straße ins Landesinnere und gibt den Blick auf ein paar heruntergekommene Holzhäuser frei. Wir kommen vor einer orange-schwarzen und ebenfalls in die Jahre gekommenen Tanksäule zum Stehen. Ein großer Mann mit schwarzer Baseballkappe steht gebeugt neben einem Pick-up-Truck, an dem er etwas zu reparieren scheint. Sonst ist niemand zu sehen.

Im Holzhaus der Tankstelle sitzt eine gelangweilt wirkende Frau in den Vierzigern kaugummikauend hinter der Kasse. Ich erkläre ihr mein Problem, woraufhin sie nicht weniger desinteressiert »Jake! There is somebody for you here!« aus dem Fenster ruft. Jake scheint sie nicht gehört zu haben, also ruft sie erneut. Die Tür geht auf, und der große Mann mit der schwarzen Kappe kommt herein. Seine Hände und sein T-Shirt sind voller Motorölflecken. Auf seinem rechten Arm prankt stolz ein großes Ta Moko, ein Stammestattoo der Maoris. Er guckt mich mit einem schüchternen Lächeln an.

Ich schätze ihn auf Ende dreißig, vielleicht ein Familienvater. Ein großer Ring funkelt an seiner rechten Hand. Ich erkläre ihm unser Problem und merke, wie er schmunzelt. Sein Schmunzeln wird zum verhaltenen Lachen, als ich ihm unsere Thunfisch-Konstruktion zeige. Das Ducktape ist mittlerweile von Benzin durchtränkt und an den Seiten abgelöst. Nachdem er die Tanköffnung von Thunfischdose und den Resten des Sicherheits-Tapes befreit hat, schätzt er die Tankdeckelgröße ab, verschwindet und kommt mit einem alten Tankdeckel wieder. Er probiert – leider ist der Tankdeckel zu klein. Wortlos geht er wieder hinein. Wir setzen uns derweil auf die Bordsteinkante, ständen wir ja sonst nur nutzlos herum, und warten (nicht weniger nutzlos).

Ein großer Wagen mit Anhänger kommt den Berg hinauf, hält vor der Zapfsäule. Ein Mann steigt aus. Eine markante Erscheinung, über zwei Meter groß mit schwarzen Locken. Wie viele Maoris ist er übermäßig kräftig gebaut, in seinen schweren Stiefeln läuft er breitbeinig wie ein Cowboy. Ich sehe Tobis ehrfürchtigen Blick und denke an die Gewichte, die wir im Baumarkt teuer gekauft haben und die er noch kein einziges Mal verwendet hat. Der Riese befüllt sein Auto (macht seinen Tankdeckel wieder drauf!), nickt uns zu und geht ins Holzhaus. Würde ich ihm nachts begegnen, würde ich wahrscheinlich schreiend davonlaufen! Jake kommt wieder heraus mit einem runden Plastikdeckel. Er schraubt ihn auf unser Auto – passt! Es sei der Deckel von einem Wassertank, meint er auf unser Fragen. »I guess you need it more than me now!«

Wir wollen uns mit einem Bier bedanken. Er winkt lässig mit einer Handbewegung ab (vielleicht hätten wir nicht erwähnen sollen, dass es ungekühlt ist). »I am happy to help!« Der schwarz gelockte Riese kommt aus dem Holzhaus und grüßt Jake, ebenfalls mit Nicken. Dann blickt er uns an. »Where are you from?«, fragt er neugierig mit rauer Stimme. Wir antworten ihm, und er scheint kurz nachzudenken.

»That‘s far! Did you hike Mount Hikurangi?«

Als Tobi verneint, wird er plötzlich aufgeregt. »No? You came all this way and you did not go up? It is the best thing in New Zealand!« Er winkt uns zu sich rüber, setzt sich auf seinen Anhänger und beginnt zu erzählen.

Meet the Locals: Jake und Luke aus Neuseeland nehmen das Leben gelassen.

Marie Tysiak

Der Mount Hikurangi, den er als bestes Erlebnis des Landes bezeichnet, ist der höchste Berg der Nordinsel, der nicht vulkanischen Ursprungs ist. Für die Maori ist der 1.754-Meter-Gigant heilig, denn oben auf seinem Gipfel ruht die Seele des Kanus des legendären Helden Maui, der in vielen Legenden der Maoris vorkommt. Ihm zu Ehren gibt es in der Nähe des Gipfels eine alte heilige Stätte aus Totempfählen. Wer vom Gipfel den Sonnenaufgang genießt, ist in der Sommerzeit der erste Mensch der Erde, der die Sonne des neuen Tages erblickt!

Wir hängen an den Lippen des schwarz gelockten Riesens

Dank seines Lispelns wirkt er nun weniger furchterregend. Auch Jake hat sich auf den Anhänger gesetzt, die zwei Männer scheinen sich zu kennen (kein Wunder bei der Einwohnerstärke). Der Riese, der sich als »Luke The War Horse« vorgestellt hat, wohnt nicht weit entfernt von dem Startpunkt der Gipfelbesteigung. Der Berg sei erst seit diesem Jahr freigegeben und der Sonnenaufgang von dort oben das Schönste, was er je gesehen habe! Er lädt uns ein, bei ihm zu übernachten, um dann am nächsten Morgen den Berg zu erklimmen. »Not far before the summit, there is a small hut. You can sleep there and walk the last thirty minutes before sunrise.«

Mit einem musternden Blick schaut er an Tobi und mir herab. »All in all, you will probably take two hours to the hut. Plus half an hour for the summit. You can even hike up there tonight«, fügt er mit einem Blick auf die Uhr hinzu. Es ist vier Uhr am Nachmittag, die Wolken ziehen dunkel und regenreich an uns vorbei. »If I was you, I would‘nt miss this«, sagt er mit Lispeln und Grinsen.

Wir überlegen nicht lange. Luke malt die Wegbeschreibung mit einem Bleistift aus seiner Hosentasche auf seinen Anhänger, ich fotografiere sie ab (ich bot ihm zweimal ein Stück Papier an, das er ablehnte). Dann bedanken und verabschieden wir uns bei dem schüchternen Jake und dem lispelnden Luke – und fahren wieder in Richtung unseres Tankdeckels, denn der Aufstieg beginnt knapp 70 Kilometer in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Auf der Fahrt werden wir ganz aufgeregt. Unsere erste Wanderung über Nacht!

Wir diskutieren, was wir mitnehmen müssen, und einigen uns auf das Nötigste. Bettdecken. Essen (wir haben nicht viel mehr als ein paar Thunfischdosen und Toast übrig). Zahnbürsten. Ganz wichtig Wasser. Hinter der dritten Brücke biegen wir links ins Landesinnere ab, wie Luke es uns beschrieben hat. Mittlerweile hat sich der Himmel in ein düsteres Dunkelgrau verfärbt. Die Straße wird holpriger, irgendwann besteht sie nur noch aus Schlaglöchern, und wir fahren im Schritttempo über instabil wirkende Brücken und Pfade.

Die Zufahrt zum Startpunkt des Wanderweges auf den Mount Hikurangi gestaltet sich schwieriger als gedacht.

Marie Tysiak

Das Ende des Weges, ein kleiner Parkplatz (mit einem geparkten Auto – sind wohl andere auch unterwegs auf den Gipfel?) und ein grünes, noch ganz neues Hinweisschild für die mutigen Wanderer. Während Tobi unsere Tasche packt, werfe ich einen Blick auf die Hinweistafel. Mir wird etwas mulmig. Der 12,5 Kilometer lange Track wird als „»ausgesprochen schwer und gefährlich« eingestuft, die Strecke zur Hütte soll vier bis sieben Stunden dauern, die verbleibende Gipfelbesteigung in der Nacht nochmals zwei Stunden. Wir können nicht, wie vorgeschrieben, uns vorher anmelden oder unsere Familien über unsere Pläne informieren, denn hier draußen gibt es keinen Handyempfang. Auch wird davor gewarnt, bei Regen oder Dunkelheit zu wandern. In der Ferne donnert es leicht, und mittlerweile ist es nach fünf Uhr, das gibt uns gerade einmal vier weitere Stunden Licht.

Wir stehen vor dem Schild und gehen in uns. Ist es vernünftig? Wir würden alle Warnungen missachten. Jetzt können wir noch umkehren.

Es gibt diesen Spruch, der mir in solchen Momenten oft einfällt. »Life begins where your comfort zone ends.« Dabei frage ich mich jedes Mal, ob ich wirklich nur meine Komfortzone verlasse oder mich wahrlich in Gefahr begebe. Oder ob ich einfach manchmal ein kleiner Schisser bin. »Es gibt kein Zurück mehr«, sagt Tobi und zieht sich seine Wanderschuhe alias Vans-Schnürschuhe an. Ich tue es ihm gleich und ersetze meine Gummi-Flip-Flops durch Nike Free. Wir stapfen laut singend los, immer den roten Pfeilern nach.

Schaf in Neuseeland

Martin Schmidli

Drei Stunden später

bricht die Dämmerung ein. Wir sind pitschnass vom Dauerregen, der irgendwann zwischen der zehnten Schafsherde und Tobis Knieschmerzen einsetzte. Die roten Markierungen sehen wir nicht mehr, dafür aber die kleine Hütte am Abhang über uns. Wir schlagen uns jetzt kreuz und quer durchs grüne Gestrüpp und Moos, unsere Schuhe sind seit langer Zeit durchnässt. Aber der Ausblick entschädigt für einiges – schwarze Wolkengestüme bleiben an den schroffen Gipfeln der umliegenden Berge hängen, hüllen sie ein und geben sie Minuten später wieder frei. Dichter, grüner Wald bedeckt die Hügel, die Landschaft wirkt wie ein Mosaik aus Grüntönen. Dazu das Grollen im Himmel und das Blöken von Abertausenden Schafe, die überall auf den Hügeln grasen.

Mit dem letzten Tageslicht erreichen wir die schlichte Holzhütte, aus deren Schornstein Rauch aufsteigt. Mit einem lauten Knarzen öffne ich die Tür – und blicke in einen dunklen Raum. Zwei überraschte Gesichter blicken mir entgegen. Die Insassen des geparkten Autos.

Das Feuer im Kamin ist bereits entzündet, und der Raum empfängt uns mit wohliger Wärme. Ein großer Holztisch und einige Etagenbetten füllen nahezu den gesamten dunklen Raum, der nur durch wenige Kerzen und das Feuer erleuchtet wird. In einer Ecke befindet sich der Kamin, vor ihm auf einer Bank sitzen ein lockiger Mann und eine blonde, große Frau, beide in Joggingoutfit, und wärmen ihre Hände an einer Tasse Tee, ihre Wanderschuhe stehen vor der Kaminöffnung zum Trocknen. Ob wir ihre Romantik auf der einsamen Wanderhütte zerstören? Vielleicht fragen sie sich umgekehrt gerade Ähnliches.

shutterstock.com/travellife18

Die Frau bricht das Schweigen und stellt sich vor.

Sie heißt Anna, kommt aus der Schweiz. Der Mann, John aus England, tut es ihr gleich. Auch wir stellen uns brav vor. (In solchen Momenten würde ich manchmal gerne mal jemand anderes sein, zum Beispiel einfach mal Svetlana aus Sibirien für einen Tag.) Die beiden scheinen entspannt und aufgeschlossen – und auf jeden Fall abenteuerbegeistert. »Diese Besteigung ist eine der gefährlichsten in Neuseeland«, erzählt Anna, als wir uns schon lange neben ihnen niedergelassen haben, eine weitere Thunfischdose verzehren und unsere Sachen ebenso vorm Kamin zum Trocknen hängen. Als sie unsere erschrockenen Blicke sieht, nickt sie in Richtung Tisch. »Lest euch mal das Gästebuch durch!«

Tun wir. Hätten wir aber besser nicht gemacht. »Impossible to climb the summit!« »Had to turn arround.« »No visibility.« »There are no markers for the last 400 Meters.« »It‘s basically rock climbing in the dark.« Oh Mann, Luke The War Horse, hättest du uns das nicht verraten können?

»Ihr wollt aber schon auf den Gipfel, oder?«, fragt sie und guckt uns durchdringend an. »Also wir gehen auf jeden Fall«, fügt sie hinzu. »Wir kommen mit!«, antworte ich bestimmt. »Und zur Not können wir immer noch umkehren.« Laut dem Gästebuch braucht man mindestens zwei Stunden bis zum Gipfel. Da die Sonne bereits um fünf Uhr aufgeht, müssen wir demnach um undankbare halb drei morgens spätestens los. Zeit zum Schlafengehen.

Es fühlt sich an, als sei kaum Zeit vergangen, als der Wecker mich schroff aus meinem unruhigen Schlaf klingelt. Ich mache alles automatisch, fühle mich dabei wie ein Roboter. Aufstehen. Socken anziehen. Zähne putzen. Wasser und Frühstück einpacken. Schuhe schnüren. Noch mal pinkeln gehen im Dunkeln vor der Hütte. Powerbank fürs Handy, immerhin ist es meine einzige Taschenlampe. Und noch ein Extra-Akku für die Kamera. Ach ja, die Kamera natürlich auch! Vier dick eingepackte Gestalten verlassen kurz darauf die Hütte – und werden sofort von der Stockfinsternis verschluckt. John macht seine Taschenlampe an. »Ready?«, fragt er. Ich fühle mich nicht »ready« – was mache ich hier eigentlich? Ist das Abenteuerlust oder Suizid? Niemand weiß, dass wir auf diesem krassen Berg sind.

Aber ich bin weiterhin wie der Roboter

As er unser »Okay« hat, stapft er voran. Ich mit meiner Superausrüstung aus Handytaschenlampe und Sportschuhen bleibe Vorletzte, hinter mir sichert Anna ab. Tobi ist nicht viel besser dran mit einer kleinen Taschenlampe und seinen Vans-Schnürschuhen. Die erste Stunde geht es steil bergauf. Es ist sauanstrengend. Am liebsten möchte ich mich meiner langen Klamotten entledigen, aber ich weiß, dass es arschkalt sein muss. John findet die Marker problemlos mit seiner Spezial-Camping-Taschenlampe. Ich bin immer noch im Robotermodus und folge einfach Tobi vor mir, während ich John um seine Wanderboots beneide. Am Horizont sieht man, wie sich der Himmel leicht aufhält.

Der Mount Hikurangi am Ostkap Neuseelands ist zwar keine 2000 Meter hoch, dafür stellt sich seine Besteigung auf andere Weise als schwierig heraus.

Marie Tysiak

Die Silhouetten um uns herum zeigen uns, dass wir den letzten Kilometer um den Berggipfel herumgewandert sind, um ihn jetzt von der anderen Seite zu besteigen. Er sieht beeindruckend aus, kahl, und man kann – je mehr Licht der Himmel spendet – seine Schroffheit erahnen. John führt unseren Trupp weiter. Hier muss es mal einen Steinrutsch gegeben haben, denn unzählige kleine und große Steine liegen unter uns, und wie der Strom eines Flusses reißen sie uns immer wieder hinunter, bevor unsere Beine knietief hineinsinken, unsere Schuhe mit kleinen Steinen füllen und wir unseren Hintermann immer wieder vor kleinen Steinlawinen warnen müssen. Es ist steil, wir laufen auf allen vieren.

»I don‘t see any marker anymore! I think we have reached the last 400 meters solid rock«, ruft John von vorne. Im mittlerweile starken Wind kann ich seinen genauen Wortlaut nur erahnen. Er hat recht – nach der Steinrutsche kommt der Rock-Climbing-Teil, steil die Wand hoch, bis ich einen Kamm erreiche. Mittlerweile ist es so hell geworden, dass wir unsere Taschenlampen nicht mehr brauchen. Die Sonne wird bald aufgehen. Ich blicke zurück. John müsste irgendwo vor mir sein, Tobi und Anna habe ich irgendwann auf der Steinrutsche überholt. Tobi kommt die Felsen hoch, vorsichtig setzt er jeden seiner Schritte. Er ist ein Sicherheitstyp, und ich sehe in seinen Augen, dass diese Portion Action nicht seinen Sicherheitsstandards entspricht.

Mit einem letzten Ruck zieht er sich auf den Kamm neben mich. »Puhhhh!«, stößt er erleichtert aus. Unter uns kriechen die ersten Wolken hinauf, Anna ist nicht mehr zu sehen. »Wir haben es fast geschafft!«, ermuntere ich ihn und zeige nach rechts, wo wir auf dem Kamm noch ein Stück gehen müssen. Dort oben ist der Gipfel, und ich kann bereits John sehen, der auf uns wartet. Tobi schaut den Bergkamm skeptisch an. »Da rüber? Niemals! Lieber bleibe ich hier!«

Wolken kriechen den Berghang des Mount Hikurangi in Neuseeland hinauf.

Marie Tysiak

Ich weiß, warum er den Kamm so fürchtet.

Rechts und links fällt er steil einige Meter ab – genug für jemanden mit Höhenangst wie Tobi. Ich weiß, dass es ihn ärgern wird, wenn ich alleine hochgehe, aber hier finde ich es ungemütlich, und jetzt haben wir es schon so weit geschafft. »Du schaffst das, Tobi!«, ermutige ich ihn (selber nicht mehr ganz überzeugt von unserer Sicherheit). »Zur Not können wir auf allen vieren krabbeln!«, und so mache ich es dann auch. Ein wenig mehr gutes Zureden, und Tobi folgt mir, Anna hat uns mittlerweile eingeholt und bildet den Schluss.

Manche Momente würde ich gerne von der Vogelperspektive aus der Ferne betrachten – so wie diesen. Sekunden vor Sonnenaufgang, die Welt erwacht, es klettern, ja kriechen, drei Gestalten hoch über den Wolken über einen schmalen, rauen Bergkamm, die Welt ihnen zu Füßen. Gerade als ich John auf der Kuppe erreiche und wieder aufrecht stehen kann, kommt die Sonne über den Horizont geklettert. Der erste Sonnenstrahl erreicht mein Gesicht – und erhellt mich mit mehr als nur mit ein paar elektromagnetischen Strahlen. Es ist wie eine Erkenntnis.

Ich bin Tausende Kilometer von zu Hause gereist, Stunden hier hochgeklettert. Aber es ist nicht dieser Sonnenaufgang, der mich erfüllt. Es ist der Weg hier hoch, der mich stolz und erfahrener macht. »It is about the journey, not the destination.« Jetzt habe ich es verstanden. In diesem Moment habe ich das Gefühl, nichts kann mir im Leben passieren. Immerhin habe ich diesen Berg überlebt! Und jetzt? Weitere Berge des Lebens erklimmen (okay, vielleicht mit Wanderschuhen)! Wenn es schwer wird, mich an diesen ersten erinnern. Denn es werden sicher weitere harte Anstiege im Leben kommen. Aber am Ende wird alles gut.

Ein schmaler Bergkamm führt hinauf zum Gipfel. Wandern ist eine der beliebtesten Aktivitäten in Neuseeland.

Marie Tysiak

Böse Überraschung?

»So!«, Tobi lässt sich neben mich fallen. »Soll ich euch mal was verraten? Das ist nicht der Gipfel. Es hätte sicher noch weitere Marker gegeben, mit denen wir uns nicht in solche Lebensgefahr gebracht hätten. Der Gipfel ist da vorne!«, sagt er und zeigt auf einen Fels, der nicht weit vor uns in ähnlicher Höhe, aber durch eine tiefe Schlucht in unerreichbarer Ferne aus den Wolken ragt – und auf dem eindeutig eine Gipfelmarkierung steht! Alle vier lachen wir laut los! (»It’s about the journey, not the destination«, oder wie war das?).

Als Tobi sich wieder beruhigt hat, greift er nach dem Rucksack. »So, jetzt erst mal Frühstück! Haben wir uns verdient«, und er holt eine Thunfischdose, unseren einzigen verbliebenen Proviant, aus dem Rucksack. Ich lache erneut los – es kommt mir alles so skurril vor hier oben. Und mit einer Thunfischdose hat schließlich alles angefangen. »Mir graut es vor dem Abstieg!«, schmatzt Tobi. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange – und weiß, dass alles gut wird. Lieber genieße ich das Panorama vor mir und freue mich darauf, was das Leben uns noch bescheren wird – wenn wir es nur zulassen.

Wieso steht das Gipfelkreuz nur dort hinten? Mount Hikurangi in Neuseeland.

Marie Tysiak

Anmerkung: Das Auto fuhr uns zuverlässig, bis wir es am Ende unserer Reise zum Kaufpreis von 600 Euro verkauften. Arbeiten mussten wir nicht.

 

Anreise. Von Frankfurt a. M. oder München via Singapur nach Auckland oder Christchurch. Oft bieten sich Gabelflüge an, die in Auckland auf der Nordinsel ankommen und von Christchurch auf der Südinsel abgehen. Die beiden Hauptinseln sind mit einer Autofähre verbunden, die im Voraus gebucht werden sollte. Neuseeland lässt sich gut mit dem Auto bereisen. Das Ostkap liegt auf der Nordinsel und kann individuell oder mit einer Reisegruppe besucht werden.

www.singaporeair.com/de, www.interislander.co.nz

Aktiv. Zu den Hauptaktivitäten in Neuseeland zählt Wandern. Ausgebaute und ausgeschilderte Wanderwege locken Einheimische wie Touristen ins Grüne. Die acht besten mehrtägigen Trekking-Routen des Landes, die »Great Walks«, können individuell oder geführt gewandert werden. www.newzealand.com/de/walking-and-hiking/

Informationen über das Ostkap und den Mount Hikurangi (auch geführte Wanderungen) bietet New Zealand Tourism.

Mount Hikurangi Trekking. Startpunkt in Pakihiroa, zweieinhalb Stunden nördlich von Gisborne. 1. Etappe Parkplatz zur Hütte: 10 Kilometer (3-6 Stunden). 2. Etappe: Hütte zum Gipfel: 2,5 Kilometer (2-3 Stunden). 3. Etappe: Rückweg. Zwei-Tages-Wanderung.

Unterkunft. Das Ostkap ist ideal von Gisborne zu erreichen. Nördlich der Stadt liegt der Surferstrand Wainui Beach. The Blackhouse bietet Luxus-Bungalows mit Panoramablick auf den Strand. www.blackhousewainui.co.nz

Weitere informationen. www.newzealand.com/de

Den reisenExclusiv-Guide Neuseeland finden Sie hier.