Die Niederlande müssen sich seit jeher mit Deichen vor Meer und Flüssen schützen. Dabei lieben sie nichts mehr als das Wasser – sei es in verträumten Häfen, in besucherfreundlichen Nationalparks oder am Strand. Richtig interessant aber wird es  erst aus der ungewohnten Perspektive eines Flugzeuges oder in den Katakomben eines Technikmuseums, das zugleich als Schutzwall dient. Text: Ralf Johnen

Solange das Wasser sich normal verhält, lassen die Niederländer es scheinbar unbefangen herein. Das sehen wir mit eigenen Augen, als wir auf den Deltawerken stehen, einem mächtigen Sperrwerk, das die Insel Schouwen-Duiveland mit dem Festland der Provinz Zeeland verbindet.

Deltawerke in Holland

Ralf Johnen

Mit beachtlicher Kraft drängen die Fluten der Nordsee auch heute in die Oosterschelde, so wie das bis 1978 nach Lust und Laune machen konnten. Es ist der normale Rhythmus der Gezeiten, dem wir an diesem sonnigen Frühlingstag beiwohnen. Auf dem Sturmwehr ist es fast windstill. Die Luft riecht nach Salz und allein das Geschrei der Möwen bricht die Ruhe.

Trotz des denkbar unaufgeregten Szenarios macht die Umgebung einen unwirklichen Eindruck

Nach der Flutkatastrophe 1953 hat der Kampf gegen das Wasser eine neue Dimension erreicht, den die Niederländer mit Bravour angenommen haben. Das Ergebnis ist diese Festung mit dem vollständigen Namen Deltawerke Neeltje Jans. Sie kann bei Bedarf geschlossen werden, wobei sie das Ökosystem dank ihrer Durchlässigkeit kaum beeinträchtigt. Ganz nebenbei besitzt das Sperrwerk die Funktion einer Brücke, wodurch es zu einer wichtigen Verkehrsachse geworden ist.

Zierikzee mit Windmühle

Ralf Johnen

Nur ein paar Kilometer weiter befindet sich ein Zeugnis dessen, wie sich die Niederländer schon in frühen Jahren das Wasser zunutze gemacht hat. Zierikzee war bereits im 15. Jahrhundert eine prosperierende Stadt. Damals war Schouwen-Duiveland nur auf dem Wasserweg erreichbar und die Fischerei- und Handelsflotten der kleinen Nation sind von hier aus in die Weltmeere aufgebrochen. Später, im 17. Jahrhundert, wurde das heute beschauliche Städtchen zu einem bedeutenden Standort der legendären Niederländischen Ostindien-Kompagnie (VOC), über die wir heute nachlesen können, dass sie der erste global agierende Konzern gewesen sei.

Zierikzee

Ralf Johnen

Das kolonialistisch geprägte Unternehmen besaß ein Monopol auf den Asienhandel. Die erwirtschafteten Reichtümer waren so enorm, dass die Niederländer vom Goldenen Jahrhundert sprechen. Als wir durch Zierikzee schlendern, sehen wir was sie damit meinen: Im Zentrum ziehen Patrizierhäuser mit aufwändig gestalteten Portalen die Blicke auf sich. Die Prunkbauten sind nicht weit von der Lebensader der Stadt entfernt, dem gut geschützten Hafen. Ein paar Straßenzüge weiter reihen sich Wohnhäuser aneinander, etwas bescheidener, aber mit hübschen Giebeln ausgestattet. Zierikzee war so reich, dass die Stadt 1454 beschloss, sich eine Kirche mit einem 130 Meter hohen Turm zu leisten. Das Sint-Lievens-Münster allerdings wurde nie fertiggestellt. Ihr Turm muss sich mit einer Höhe von 62 Metern begnügen. Genug, um bei klarer Sicht bis nach Rotterdam zu blicken.

Zierikzee ist ganz schön schick

Das Gesamtensemble schmeichelt heute unseren Augen, die sich gemeinhin mit viel sachlicheren Anblicken zufrieden geben müssen. Mehr noch als ein ästhetisches Statement, war der Reichtum Zierikzees Ausdruck eines typisch niederländischen Wesenszuges: Wir müssen aus unserem kleinen Land das Beste machen. Jeder Quadratmeter zählt. Und damit das gelingt, müssen wir das Wasser unter Kontrolle haben und es uns im besten Fall zu Nutzen machen.

Wasserstraße in Zierikzee

Ralf Johnen

Ohne den Schutz der Deltawerke wäre das nicht gewährleistet: Während des letzten Januarwochenendes 1953 war Zierikzee ebenso wie Teile der Provinzen Zeeland, Zuid-Holland und Noord-Brabant überflutet. 1975 Menschen ertranken, davon 24 in Zierikzee. Doch nicht nur sie ließen ihr Leben: Mit Ausnahme einer Kastanie, die neben der tempelartigen Kirche steht, mussten alle Bäume dran glauben. Ein stilles Mahnmal, das sich erst bemerkbar macht, wenn man sich die Frage stellt, warum die anderen Bäume der Stadt fast gleich hoch sind.

Der Lieblingsort der NRWler: Renesse

Nach diesen nostalgischen Stunden übernachten wir in Renesse, dem Gegenentwurf zu den malerischen Städtchen des ausklingenden Mittelalters, wo zuweilen halb Nordrhein-Westfalen seine Ferien zu verbringen scheint. Auch der oft so rummelige Touristenort ist nach einer längeren Schlechtwetterperiode nur spärlich bevölkert. In der lauen Abendluft bahnen wir uns über den riesigen Campingplatz den Weg zum Meer. Wir erreichen die Kuppe der Dünenkette kurz bevor die Sonne träge ins Meer senkt.

Renesse in Holland

Ralf Johnen

Die Strandpavillons sind an Tagen wie diesem, die eher unerwartet schön geworden sind, längst dicht um diese Zeit. So teilen wir das weitläufige Revier, wo Wasser und Land aufeinandertreffen, nur mit wenigen anderen Besuchern. Die sonst so temperamentvolle Nordsee zeigt an diesem keinerlei Regung. Doch ihr Anblick lädt vor der Kulisse eines melodramatischen Farbspektrums zu schwelgerischen Minuten ein.

Ab nach Flevoland

Damit ist es nächsten Tag nach dem Frühstück vorbei. Wir bahnen uns quer durch das Land unseren Weg nach Flevoland. Unterwegs auf der Autobahn sehen wir, was aus der Seefahrernation von einst geworden ist: ein extrem gut organisiertes Land, wo sich erst Gewächshäuser und von Kanälen durchzogene Weidelandschaften abwechseln, ehe wir den Hafen von Rotterdam mit seiner endlosen Kette von Raffinerien erreichen, nur um schließlich in einer künstlich geschaffenen Provinz anzukommen, deren Skyline aus einem Bataillon Windrädern besteht.

Flevoland von oben

Ralf Johnen

Unser Ziel ist Lelystad, wo wir den Flugplatz ansteuern, um uns kurz darauf an Bord einer einmotorigen Cessna zu begeben. Ein Rundflug über die Polderlandschaft soll unseren Blickwinkel auf das Land zusätzlich erweitern. Flevoland wurde zwischen 1930 und 1968 von Menschenhand geschaffen und 1986 zur Provinz erklärt. Um weitere wertvolle Flächen zu erhalten, musste die Niederlande sie dem Meer abringen.

Die Niederlande von oben? WOW!

Kurz nach dem Start fliegen wir über Felder mit endlosen geraden Linien, wobei sich Straßen, Kanäle, Deiche und Baumreihen abwechseln. Ein anfangs irritierender Anblick, denn die geometrischen Formen wirken fremd nach der windschiefen Welt, die wir gestern in Augenschein genommen haben. Bald erreichen wir das Ijsselmeer, wo sich die Ingenieure gerade mal wieder austoben: sie bauen hier seit 2016 die Marker Wadden, ein künstliches Naturschutzgebiet mit Yachthafen für Segler.

Blokzijl

Ralf Johnen

Nach einer langgezogenen Kurve weist der Pilot des Sportflugzeuges auf den Ort Urk. Das Städtchen blickt auf eine dramatische Geschichte zurück: früher war Urk eine Insel, aus deren Hafen stolze Fischer in die Weltmeere aufbrechen konnten. Doch nach der Vollendung des Afsluitdijk 1932 war es damit vorbei. Die ehemalige Zuiderzee wurde zum Ijsselmeer, wo nunmehr Süßwasserfische beheimatet sind. Später wurde das Eiland eingedeicht und trockengelegt. Eine surreale Vorstellung.

Ähnlich ist es Blokzijl ergangen, einem einst geschäftigen Umschlagplatz für Torf, dessen Hafen bis heute von Häusern eingerahmt wird, die vom enormen Reichtum des Goldenen Jahrhunderts zeugen. Nur von den Weiten des Meeres ist jenseits der Hafeneinfahrt nichts zu sehen. Viel mehr bahnt sich hier ein Gewässer von der Breite eines Flusses seinen Weg. Dahinter: das „Neue Land“, wie die Niederländer ihre Polder nennen. Den Touristen ist es einerlei: sie sitzen in der Sonne und schauen den schaukelnden Segelbooten zu.

Blokzijl

Ralf Johnen

Während wir »koffie« und »appelgebak« genießen, staunen wir nicht schlecht über das Ausmaß und die Konsequenz, mit der die Niederländer das Wasser überall dort ausgesperrt haben, wo es ihnen im Wege war, nur um sich zu einer Nation zu mausern, die zwar klein sein mag, die aber doch in vielen Disziplinen zur Weltspitze gehört.

Allerdings ist das Wasser keineswegs überall unwillkommen

Das erleben wir im Nationalpark Weerribben-Wieden, der sich ganz in der Nähe von Flevoland ausbreitet. Hier besteigen wir ein Kanu, in dem wir das wunderbare Areal erkunden. Erst passieren wir großzügige Häuser, deren Bewohner ohne Automobil auskommen müssen, denn dessen Benutzung ist hier nicht gestattet. Bald jedoch bahnen wir uns unseren Weg durch weitläufige Schilffelder.

Kanu paddeln in Holland

Ralf Johnen

Bis ins 20. Jahrhundert wurde hier jener Torf abgebaut, der in Blokzijl verschifft wurde. Hierdurch konnte sich das Wasser entgegen der sonst gültigen Regeln immer weiter ausbreiten. Entstanden ist dabei einer der schönsten Rückzugsräume Mitteleuropas. Im Boot hören wir lediglich die Geräusche der Paddel und den Gesang der Vögel. Manchmal macht sich auch ein Kuckuck bemerkbar. Verkehrslärm und andere Zivilisationsgeräusche vernehmen wir nicht.

Aussicht aus dem Kanu in Holland

Ralf Johnen

Sehnsüchtig blicken wir auf die kleinen Hütten, die an den Ufern stehen. Später werden wir hier übernachten. Uns wurde bereits der Sternenhimmel angepriesen, der hier so hell wie sonst nur auf den Wattenmeerinseln leuchtet. Außerdem, so lernen wir, können wir im Morgengrauen ins Kanu steigen und in völliger Einsamkeit dabei zuschauen, wie sich der Nebel langsam lichtet. Völlig unbeeinträchtigt von Ebbe und Flut – und fern von den Städten aus dem Goldenen Jahrhundert. Schließlich gehört es zu diesem höchst effektiven und durchorganisierten Land, dass die Bewohner das Wasser nicht nur bekämpfen. Nein, sie lieben es auch.

Fakten, Fakten, Fakten

26 Prozent der Niederlande liegen unterhalb des Meeresspiegels. Weitere 29 Prozent sind anfällig für Überschwemmungen.

Die hier beschriebenen Programmpunkte lassen sich mit dem Auto bequem von Freitag bis Sonntag absolvieren.

Deltapark Neeltje Jans, Eiland Neeltje Jans, Faelweg 5, Vrouwenpolder, Tel. 0031 111 655 655, , Eintritt ab 21,50/16 Euro.

Mehr Infos: Nationalpark Weerribben-Wieden, Kanuvermietung bei De Kluft ab 18 Euro, Hütten für 4 bis 6 Personen ab 312 Euro/3 Nächte.

Rundflug über Flevoland mit Vlieg Experience, 3 Personen 45 Minuten ab 215 Euro.

Übernachtung Renesse: Arc Hotel Zeeland, Vroonweg 35, Renesse,  Tel. 0031 111 462510,

Allgemeine Informationen gibt es hier.