Die tschechische Hauptstadt ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert, ganz besonders jedoch in den ersten Monaten des Jahres. Die altehrwürdige Metropole öffnet sich dem, der sich ihr öffnet – und entpuppt sich dabei als fröhliche, jugendliche Stadt. Text: Jan Schnettler
Es summt, es zirpt, es flirrt. Zwischen den rosa Kirschblüten hindurch fällt der blinzelnde Blick auf die rot glänzenden Ziegeldächer der Stadt, frisch geleckt wie nach einem Gewitter. Fanfarenstöße wehen, je nach Windrichtung, durch die klare Luft herbei: Wachablösung auf der Burg, deren Zinnen hier und da aus dem Grün der Baumkronen hervorragen. So fühlt sich der Prager Frühling an, und wer ihn einatmen und fühlen möchte, ist hier, in einem lichten Hain etwas oberhalb der Statue des Dichters Jan Neruda, an der richtigen Stelle: auf dem Prager Hausberg Petřín, im Deutschen durchaus malerisch als Laurenziberg bekannt.
Zu manchen Destinationen reist man, um einmal dort gewesen zu sein: ein paar Fotos schießen, Eindrücke für Anekdoten sammeln, abhaken. Auch eine Stadt, die den Beinamen »die Goldene« trägt, könnte es sich diesbezüglich einfach machen und sich auf all die Sehenswürdigkeiten verlassen, von denen jede einzelne schon die Anreise rechtfertigt. Karlsbrücke, Hradschin, Jüdischer Friedhof, Astronomische Uhr, Goldenes Gässchen, Wenzelsplatz. Und selbstverständlich wälzen sich zu allen Jahreszeiten babylonische Touristenmassen von Fotomotiv zu Fotomotiv, um bestenfalls an der Oberfläche dieser faszinierenden Stadt zu kratzen. Doch: Prag sollte man nicht nur ansehen. Prag muss man erleben, mit allen Sinnen erfahren. Diese laute, hektische Stadt, die so abweisend, schroff und rußverschmiert daherkommen kann und in den düsteren Monaten bisweilen morbider als Budapest und Venedig zusammen wirkt, öffnet sich dem, der sich ihr öffnet. Und zeigt dabei ihr wahres Gesicht: das einer offenherzigen, fröhlichen, jugendlichen Großstadt.
Prag raubt einem den Atem – und imponiert
Prag nimmt einem den Atem – angesichts all der prächtigen Gebäude aus Historismus, Jugendstil, Barock und Gotik, die ohne Kriegsschäden blieben (die wenigen modernen architektonischen Glanzlichter, etwa das Tanzende Haus von Frank Gehry, stehen in der Regel dort, wo Luftangriffe der Alliierten historische Bausubstanz zerstörten).
Prag imponiert – die John-Lennon-Mauer auf der Kleinseite, zu Zeiten des Kommunismus Schauplatz eines ewigen Katz-und-Maus-Spiels zwischen Graffiti-Sprayern, die Friedensbotschaften an die Mauer sprühten, und Polizisten, die diese wieder entfernten, dient noch heute als Symbol für die Aufmüpfigkeit und Unbeugsamkeit der Einheimischen.
Prag verwirrt – wenn man sich etwa in die Schluchten der Rolltreppen hinab in die U-Bahn begibt, die schneller fahren als jedes Pendant westlich der Moldau.
Prag berührt, Prag lässt schmunzeln
Prag bewegt – wenn aus Geschichte im Bruchteil einer Sekunde Gegenwart wird, man etwa im Sog des wilden Nachtlebens plötzlich in eine der vielen Kellerbars mitgerissen wird und dort die »Plastic People of the Universe« auf der Bühne schreddern, schlohweiße Männer mit langen Bärten, einst vom Regime geknechtete Untergrundhelden, von denen der Gründer nach der Samtenen Revolution für Clinton und Havel im Weißen Haus spielen durften. Prag macht nachdenklich – das beeindruckende Denkmal für die Opfer des Kommunismus am Fuße des Laurenzibergs, das Figuren zeigt, die nach und nach Teile ihrer Körper verlieren, ist gleichermaßen plakativ und subtil.
Prag regt zum Lächeln an – wenn man sich dann doch, obwohl man es eben noch albern fand, in die Reihen der Touristen einreiht, um den goldenen Hund auf der Karlsbrücke zu streicheln, weil das eben Glück bringt. Prag überrascht – die Nachbildung des Eiffelturms auf der Spitze des Laurenzibergs beherbergt ein Museum, das das Lebenswerk einer fiktionalen Figur aus einem Theaterstück würdigt.
Prag irritiert – manche Bausünden, etwa die brutalistische Neue Bühne des Nationaltheaters an der Nationalstraße, sind an sozialistischer Klobigkeit kaum zu überbieten und tragen doch zur Schlüssigkeit des Gesamtensembles bei.
Prag regt auf – wenn die Terrassenpreise am Altstädter Ring mal wieder nicht mit denen auf der ausgehängten Karte übereinstimmen und das liebenswert grimmige Schlitzohr von Kellner sowieso keine Lust auf Bedienen hat.
Prag schärft den Blick – wenn sich etwa die vermeintlichen Reliefs an der Fassade des Schwarzenberg-Palais als aufgemalte optische Täuschungen entpuppen. Prag gönnt sich eine mystische Aura, ohne unnahbar erscheinen zu wollen – indem es Rabbi Löw und seinem berüchtigten Golem einen großen Stellenwert in der Alltagskultur einräumt.
Die Stadt ist ein Taumel, der mitreißt
Prag huldigt der Gegenwart, ohne seine Vergangenheit zu verraten; die Größen der Historie, von Rilke bis Kafka, sind zurückhaltend allgegenwärtig, ein Musikfestival heißt tatsächlich »Prager Frühling« und es kann auch schon mal passieren, dass die Teynkirche vorübergehend nicht zugänglich ist, weil Archäologen die Gebeine von Tycho Brahe exhumieren, um nachzuschauen, ob der Astronom vor 400 Jahren nicht vielleicht doch ermordet wurde. Prag flutet die Reize – hier ein Biss in einen saftigen Knödel mit Sauerkraut und Pilsener, dort ein Slalom-Parcours durch Porträtmaler und Schmuckverkäufer, dort wieder ein unachtsamer Tritt in einen Pferdeapfel. Prag strotzt nur so vor Leben, Lebendigkeit und Kraft. Prag ist ein Taumel, der mitreißt.
Das Zentrum dieses Taumels, um das sich alles dreht, ist in den sonnigen Monaten der Altstädter Ring. Stets wuselig, stets proppenvoll mit Menschen, die sich vor dem Jan-Hus-Denkmal tummeln, gesäumt von altehrwürdigen Häusern, von denen jedes seine eigene Geschichte zu erzählen hat. Ruhig geht es hier so gut wie nie zu; doch auch wer Ruhe sucht, wird sie in Prag finden. In den Gärten am Hang des Laurenzibergs, in den Parkanlagen auf dem Felsenberg Vyšehrad, im »Prager Venedig« auf der Moldau-Halbinsel Kampa, zu mancher Tageszeit sogar in den Zügen der Straßenbahnlinie 22, die auf ihrer Fahrt besonders viele Sehenswürdigkeiten streift. Einen Besuch wert ist diese pulsierende Stadt zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter; ganz besonders jedoch dann, wenn sie nach den Wintermonaten zu neuer Blüte reift.
Tipps zur Anreise und Übernachtung
Anreise. Am besten mit der Deutschen Bahn über Dresden (günstige Europa-Spezial-Tickets sind verfügbar) oder mit dem Flugzeug ab Berlin-Tegel, Braunschweig, Köln/Bonn, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Leipzig, München oder Stuttgart nach Prag.
Weitere Informationen. Tschechische Tourismuszentrale, Informationszentrum (touristische Beratung, kostenloser Prospektservice): Czech Tourism, Wilhelmstraße 44, 10117 Berlin, Tel.: 030 204 4770
Literaturtipps. Duncan J. D. Smith: Nur in Prag: Ein Reiseführer zu sonderbaren Orten, geheimen Plätzen und versteckten Sehenswürdigkeiten, Brandstädter Verlag, S. 243, 19,90 Euro. Für Reisende, die die vergessenen Plätze und skurrilen Sehenswürdigkeiten der tschechischen Hauptstadt erkunden wollen Detlev Arens: Prag: Literarische Streifzüge, Artemis & Winkler Verla, S. 198, 19,90 Euro. Für Literaturinteressierte, die in Prag auf den Spuren großer Autoren von Kafka bis Kundera wandeln wollen.
Hotels. Zeitgenössisches Design in einem Kloster aus dem 14. Jahrhundert: Mandarin Oriental. DZ ab € 275 pro Nacht ohne Frühstück. Nebovidska 459/1, Mala Strana, 118 00, Prag 1. Wunderschönes Hotel mit hervorragender Küche am Ufer der Moldau mit Blick auf die Karlsbrücke: Four Seasons Prague. DZ ab € 275 pro Nacht inkl. Frühstück. Veleslavínova 2a/1098, Prag 1,