Die individuelle Mobilität ist das große Privileg unserer Zeit. Bis vor wenigen Jahren schien es gar so, als würde das Fliegen von Jahr zu Jahr preiswerter. Das Freizeitkontingent wuchs rasant und die Grenzen zwischen den Nationalstaaten wurden so weit zurückgebaut, dass der Mensch immer weniger Hindernisse empfand, sobald er mit Rucksack oder Rollkoffer unterwegs war. Text: Ralf Johnen
Diese Unbekümmertheit scheint inzwischen eine Ewigkeit her. Das Reizwort vom Übertourismus, die Sorge um das Klima, die hedonistische Verschwendung von Ressourcen und die Verschmutzung der Ozeane beeinträchtigen die Freude am Reisen zunehmend. Auch werden plötzlich wieder Grenzzäune errichtet – und eine neue Generation von Despoten lässt mit finsteren Grimassen die Rückkehr zum Nationalstaat als realistische Möglichkeit erscheinen.
Dennoch bleibt das Reisen allgegenwärtig. Beim erstbesten Blick auf Instagram absorbieren wir binnen weniger Minuten so viele Eindrücke aus der Ferne, wie wir es grade brauchen oder ertragen möchten. Oft sehen wir junge Frauen, die sich einsam in einer attraktiven Landschaft räkeln oder versonnen in die Ferne blicken, als wartete der Planet sehnsüchtig darauf, endlich von uns entdeckt zu werden.
Das Phänomen Reisen verändert sich
So genügen schon wenige Gedanken zu der Einsicht, dass über das Reisen keineswegs alles gesagt ist und es nicht allein Pionieren wie Joseph Conrad, Martha Gellhorn oder Bruce Chatwin vorbehalten war, darüber zu schreiben. Allerdings ändern sich die Erfahrungen, die wir unterwegs machen, auf drastische Weise. Ein Phänomen, das der Journalist Philipp Laage aus vielen Blickwinkeln ergründet.
Der 1987 geborene Autor hat schon einiges gesehen: erst als Backpacker, später als Extremsportler oder Abenteurer, und schließlich als Reisejournalist. Nicht selten hat er alle Rollen gleichzeitig eingenommen. Doch er hat mindestens ebenso viel gelesen, die Edelfedern der Reiseliteratur, als gedanklichen Unterbau aber auch die Soziologen und Philosophen, die sich mit der Mobilität als Phänomen auseinandersetzen.
Exzellente Voraussetzungen, um sich in seinem Debüt »Vom Glück zu Reisen« mit der Frage zu befassen, was Landschaften, Begegnungen, Fortbewegung und Veränderung mit uns anstellen. Wie wirken wir auf uns selbst, wenn wir plötzlich auf einen See in Tansania und nicht mehr nur auf einen Bildschirm blicken? Wie empfinden wir Neugier, Anstrengung, Glück und manchmal auch Liebeskummer, wenn wir alleine in der Fremde weilen?
Auch als Reiseprofi nicht vor Fehlern gefeit
Auf 300 kurzweiligen Seiten analysiert Phillip Laage die Implikationen, die radikal billige Airlines und rasant wachsende Kreuzfahrtflotten auf unser Buchungsverhalten haben. Er untersucht die zentrale Bedeutung, die das Reisen bei der Selbstinszenierung vor allem der jüngeren Generationen auf Instagram und Facebook einnimmt.
Und er verschweigt nicht, wie enttäuschend die klassischen Sehenswürdigkeiten einer Stadt oder eines Landes wirken können, jetzt da der Umbau unseres Planeten zu einem Themenpark in vollem Gange ist.
Abenteuer sucht der Autor lieber andernorts: In der Demokratischen Republik Kongo etwa, wo er beim Grenzübertritt korrupten Beamten ins Auge blickt, um nach langen Entbehrungen aus gebotener Ferne einen Berggorilla beobachten zu können. Auch als Profi ist er bei seinen Expeditionen nicht vor Fehlern gefeit: spektakulär in Georgien, wo Laage seinen Bergführer bequatscht, trotz Gewittergefahr einen nächtlichen Aufstieg zu wagen, was er bei Blitz und Donner mit Todesangst bezahlt. Oder ganz unaufgeregt an einem finnischen See, dessen isolierte Lage ihn völlig unerwartet in eine tiefe Depression stürzt.
Fazit: unterhaltsame und erhellende Lektüre
Insgesamt 16 Phänomene nimmt Laage unter die Lupe, wobei er die Kernfragen des modernen Reisens jeweils in einer eigenen Erfahrung spiegelt. Ein ehrgeiziges Konzept, bei dem sich der Leser mal auf den Wirtschaftsseiten einer Zeitung und dann wieder in einer philosophischen Schrift wähnt, manchmal – wegen der Fußnoten – auch bei der Lektüre einer Masterarbeit und, in den besten Passagen, immer wieder als Leser eines intimen Tagebuchs. Das Ergebnis ist ebenso unterhaltsam wie erhellend. Es animiert dazu, die eigenen Gewohnheiten zu überdenken. Nur in seltenen Fällen wirkt die Verschmelzung der Genres überambitioniert.
Zusätzliches Vergnügen bereitet das Hardcover-Buch durch die geschmackvoll reduzierte Aufmachung von Johannes Klaus. Der Reiseblogger hat gemeinsam mit seiner Partnerin Marianna Hillmer den Sprung ins Print-Geschäft gewagt und mit den ersten Publikationen des Reisedepeschen-Verlags bewiesen, dass das gedruckte Wort ebenso lebendig ist, wie die Geschichte des Reisens nach einer Fortschreibung schreit.
Philipp Laage, »Vom Glück zu reisen«, Reisedepeschen Verlag 2019, 300 Seiten, 22 Euro.