Von der Millionenmetropole Sankt Petersburg ist es nur ein russischer Katzensprung bis nach Weliki Nowgorod, der »Großen Neustadt«, die in Wirklichkeit sehr alt und eher klein ist, doch dafür jede Menge Charme hat. Mit ihren Bauten vom Mittelalter bis zur Sowjetzeit, ihren Alleen und Parks entlang des malerischen Wolchow-Flusses ist die einst so mächtige Hauptstadt der Nowgoroder Republik ein lohnenswertes Ausflugsziel – nicht nur für Moskau- oder Petersburg-Besucher. Die waldig-ländliche Umgebung rund um den nahen Ilmensee mit Klöstern, Fischerdörfern und einem hübschen Open-Air-Museum für bäuerliche Baukunst lässt sich sogar per Linienbus erkunden. Text: Carsten Heinke
Wer schon mal in Deutschland mit dem Zug gereist ist, weiß, wie kompliziert das sein kann. Den richtigen Fahrschein zu bekommen, wird für Nichteingeweihte auch in Russland schnell zum Abenteuer. Wer es besteht, wird dafür belohnt mit sensationell günstigen Preisen und vorbildlichem Service.
Das Erste, was mir positiv auffällt an dem neugestalteten Moskauer Bahnhof in Sankt Petersburg, ist seine Haupthalle. Denn als Wartender finde ich hier außer Läden, Snackbars und Cafés auch genügend öffentliches Mobiliar, auf dem ich sitzen kann, auch ohne etwas zu verzehren.
Tickets gibt es im Gebäude gegenüber. Am Ende einer Schlange stelle ich mich an. Als ich endlich dran bin und eine Fahrt nach Weliki Nowgorod verlange, sagt die Dame hinterm Fensterchen: »Das ist Nahverkehr. Am S-Bahn-Schalter, bitte.«
Mobile Bordbar und Radieschen
Wer hätte das gedacht. Aber klar, im größten Land der Welt, das sich allein von Ost nach West über 9.000 Kilometer und elf Zeitzonen erstreckt, sind 200 Kilometer zwischen zwei Großstädten eben nur ein Katzensprung.
Nicht mal acht Euro kostet eine Fahrt, die dank weniger Stopps nur 2,5 Stunden dauert. Angenehm viel Platz hat man zum Sitzen. Das Personal ist freundlich, die Mitreisenden rücksichtsvoll. Ein Opa, der in Tregubowo zugestiegen ist, bietet mir Radieschen an. An der mobilen Bordbar kaufe ich für umgerechnet ein paar Cent Kaffee und Kekse. Infos zum Fahrtverlauf gibt es per Bordfunk, ebenso in Englisch.
Wo der Superheld der Russen zu Hause war
Mit Sonnenschein und freundlich-provinziell empfängt mich die Stadt, die einmal zu den größten und wichtigsten in Russland zählte. Direkt vor dem strahlend weißen Bahnhof, zwischen roten Blümchen, steht ein gehelmter Kopf von Alexander Newski – nach einer landesweiten TV-Umfrage der populärste aller Russen.
Als Fürst regierte er die Nowgoroder Republik, die sich zwischen dem zwölften und 15. Jahrhundert von Skandinavien bis zum Ural erstreckte. Seinen Ehrennamen Newski erhielt der Herrscher nach seinem Sieg über die Schweden 1240 an der Newa. In Sankt Petersburg, das später dort entstand, wird der Nationalheld und orthodoxe Heilige ganz besonders hoch verehrt.
Neben dem bedeutendsten Kloster ist auch die teuerste und glamouröseste Straße Russlands – der Newski-Prospekt – nach ihm benannt.
Residiert hat Alexander recht bescheiden. Denn die berühmte Nowgoroder Festung war den Erzbischöfen vorbehalten. Ihre dicke, bis zu 15 Meter hohe Ziegelmauer, neun Türme, viele Kirchen und andere Gebäude sind erhalten. Ich will sie sehen.
Museum, Bischofssitz und Freizeitdomizil
»Wo geht’s zum Kreml?« frage ich ein altes Mütterlein mit Kopftuch, Stock und Rieseneinkaufstasche.
»Ach junger Mann, das kann ich dir nicht sagen. Es ist doch alles anders jetzt«,
sagt sie klagend und »übergibt« mich einer zirka 50-jährigen Passantin, die sie Fräulein nennt.
Das nette »Fräulein« begleitet mich spontan bis zum Sophien-Sieges-Platz. Unterwegs erzählt die promovierte Ärztin, wie gerne sie hier lebt. Besonders stolz sei sie darauf, dass Bildung in der Stadt seit jeher hoch geschätzt wird. »Im Mittelalter zählte Nowgorod zu den wenigen Städten in Europa, in denen auch die Kinder einfacher Leute – Jungen wie Mädchen – Lesen und Schreiben lernten«, berichtet sie.
Auf der weiten Fläche vor dem Haus der Räte im Sowjetlook der 1950er tummeln sich Skater, lernen Kinder Fahrradfahren. Wie eine Märchenritterburg ragt vis-à-vis der Kreml in den blauen Himmel.
Allein die Größe fasziniert mich – doch auch das viele Grün, das ihn im Inneren wie rund herum umgibt. Schnell stell ich fest, was die über tausend Jahre alte Sehenswürdigkeit für die Nowgoroder heute ist: ein beliebtes Freizeitdomizil.
Kostenloser Sommerurlaub in der Stadt
Besonders deutlich wird das auf der anderen Seite, die direkt am Fluss Wolchow liegt.
»Was fotografierst du da die alten Steine – geh lieber baden!«,
ruft mir auf dem Weg dorthin eine angeheiterte Blondine zu. Tatsächlich beginnt unmittelbar an der Kremlmauer ein breiter Sandstrand, von Sonnenhungrigen bevölkert.
Dass gleich daneben der Fährterminal liegt und auch sonst reger Schiffsverkehr auf dem Wolchow herrscht, scheint die vielen Schwimmer und Planscher ebensowenig zu stören wie das offizielle Badeverbot. »Wir machen das schon immer und hatten mit dem Wasser niemals ein Problem«, sagt Nikolai, ein schokoladenbraun gebrannter Mann in den Vierzigern. Für ihn und seine Familie ist die Zeit am Stadtflussstrand soetwas wie ein kostenloser Urlaub.
Bis zu meinem Hotel sind es eigentlich nur wenige Stationen mit dem Bus. Allerdings bin ich im falschen und mache so ganz unfreiwillig eine Rundfahrt durch die Wohngebiete. Zwischen renovierten Blocks aus Zeiten der Sowjetunion sorgen jede Menge Bäume, Wiesen und liebevoll gepflegte Blumenbeete für eine angenehme Atmosphäre – genauso wie die Menschen, denen ich begegne, nachdem ich mich entschlossen habe, zum Hotel zu laufen.
Quarkige Käschen und Salat aus Algen
Unterwegs ein kurzer Stopp im Supermarkt. Als ich ihn betrete, fällt mir ein, dass man in der Sowjetunion überhaupt keine Selbstbedienung kannte. In den meisten sowjetischen Läden musste man sogar zuerst bezahlen, bevor man die Ware ausgehändigt bekam. Längst kauft man in Russland ganz genauso ein wie anderswo. Nur die Warensortimente sind ein bisschen anders.
In diesem Laden etwa liegen bei den Knabbersachen neben Zedernsaat und Nüssen vor allem Sonnenblumenkerne. Ihr massenhafter Verzehr war ursprünglich eine Domäne der Ukrainer, hat sich jedoch im ganzen Sowjetreich verbreitet und darf sich heute durchaus auch als russische Essgewohnheit betrachten.
Ungeübte wie ich brauchen geraume Zeit, bis sie mit Zähnen und Zunge das »Vogelfutter« von den schwarzen Schalen befreit haben, denn es wird quasi beim Essen im Mund geschält. Verblüffend ist die Geschwindigkeit, mit der das routinierte Kerneknacker tun. Schön sieht es trotzdem nicht aus, denn was nicht gegessen wird, lässt man – ganz nach Vogelart – lässig aus dem Schnabel fallen.
Wer es lieber salzig mag, wählt außer Chips getrocknete Fischchen in diversen Größen und Verpackungen. Sehr beliebt zum Bier ist auch frittierte Schweineschwarte – abgepackt in kleinen Tüten. Muss nicht sein.
Zu meinen Favoriten aus dem Kühlregal gehört neben schokoladig-fruchtigen Milchriegeln mit der Produktbezeichnung »Tworozhny syrok« (quarkiges Käschen) lecker angemachter Salat aus Braunalgen-Seetang. Seine Name »Morskaja Kapusta« bedeutet zwar Meerkohl, hat aber mit diesem nichts zu tun.
Mit einem vollen Picknickbeutel marschiere ich zurück zum Fluss. Auf der Kremlbrücke spielt ein Mann Akkordeon und singt.
Eigentlich wollte ich noch Pläne schmieden. Doch die fröhliche Gelassenheit steckt an. So tu ich das, was ringsum alle tun – und lasse es mir einfach gutgehen.
Mit der Schwalbe nach Weliki Nowgorod
Einreise nach Russland. mit Reisepass, Krankenversicherungsnachweis und Visum, das am besten spätestens vier Wochen vor der Reise zu beantragen ist (je kurzfristiger, desto teurer), Infos sowie Visaantrag finden Sie hier.
Anreise. Flüge nach Sankt Petersburg Pulkowo zum Beispiel mit Lufthansa von Düsseldorf, Frankfurt und München oder mit Air Baltic (über Riga) von Berlin-Tegel, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Hamburg, München oder Wien.Ebenfalls ab Wien fliegt Austrian Airlines, ab Zürich Swiss.Rossija, die zweitgrößte Airline Russlands, fliegt von Berlin-Schönefeld, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Hamburg, München, Salzburg und Wien.
Weiter geht es mit der Eisenbahn. Der komfortable Nahverkehrszug »Lastotschka« (Schwalbe) verkehrt täglich zwischen dem Moskauer Bahnhof (Moskowski Voksal) und Weliki Nowgorod. Die einfache Fahrt dauert 2,5 Stunden und kostet knapp acht Euro.
Hotels. Fünf-Sterne-Hotels gibt es nicht in Weliki Nowgorod. Das einzige Vier-Sterne-Haus ist das Park Inn by Radisson (ab ca. 70 Euro). Eine gute Adresse in einem hübschen historischen Gebäude im Stadtzentrum ist das Rachmaninow (3 Sterne). Einzelzimmer gibt es hier ab 32, Doppelzimmer ab 47 Euro inklusive Frühstück.
Das unscheinbare Sadko (3 Sterne) nicht weit vom Kreml bietet einfache, helle und saubere Zimmer, freundlichen Service und gutes Frühstück, unter anderem mit frischem »Meeressalat« (Seetang) und warmem Quarkkuchen.
Restaurants. Essen und Trinken in bzw. auf einem historischen Segelschiff kann man – direkt gegenüber des Kreml – im Gastrokomplex »Fregat Flagman«. Serviert wird russische, europäische und asiatische Küche. In den Restaurants »Na Kormje« und »Barzha« ist montags bis freitags von 12 bis 15 Uhr Happy Hour mit 15 Prozent Discount auf alle Menüs.
Allgemeine Auskünfte finden sich hier.