Die amerikanische Küche hat mehr zu bieten als Burger, Fries und Cola. Der US-Bundesstaat Washington beeindruckt mit spektakulärer Natur und klotzt mit kulinarischen Highlights. Wir waren auf Futtertour.

Text: Bianca Klement

»Man setzt das Messer vorne an der Spitze an und ruckelt es dann in die kleine Öffnung«, sagt Angela Shen mit breitem Grinsen, als sie die beinahe handtellergroße Auster vor sich hält. Die große Muschel ist noch tropfnass, denn Angela hat sie gerade erst von dem Strand geerntet. Die Küste und deren Meeresbuchten vor dem US-Bundesstaat sind ein Eldorado für Schalentierliebhaber. 70 Prozent aller amerikanischen Austern, Muscheln und Miesmuscheln werden hier geerntet, denn die Lebensbedingungen sind optimal. Der Pazifik brandet kühl an die felsige Küste. Dazu wird es in Washington in der Regel auch im Sommer nicht zu heiß und das Schmelzwasser von den Bergen sorgt für extra Abkühlung. Das gefällt den Austern.

Austern mit Eis auf einem Teller

Foto: Margaret Jaszowska

Auf »Tides to Table«-Tour

Angela Shen hat aus dem Hunger nach Austern ein Geschäft gemacht und führt im Rahmen ihrer »Tides to Table«-Touren regelmäßig kleine Gruppen an die Küste zum Sammeln und Essen der Austern. Sie demonstriert voller Enthusiasmus, wie sich die harten Schalen der Muscheln öffnen lassen. Freiwillig lassen sich die Austern nicht verspeisen. Sekunden nachdem sie die Messerspitze angesetzt hat, führt sie die Klinge um die Auster herum, dreht sie einmal, um die Muschel von der Schale zu lösen, und – zack ist sie offen. Angela strahlt. »Jetzt kommt das Beste«, sagt sie triumphierend, tröpfelt etwas frische Zitrone über das Meerestier und schlürft genüsslich den Inhalt aus der harten Schale.

»Tides to Table«-Touren mit Angela Shen

»Tides to Table«-Touren mit Angela Shen I Foto: Bianca Klement

Austern, soweit das Auge reicht

Fest entschlossen, weitere Austern zu ernten, stapft Angela in ihren Gummistiefeln weiter über den Strand. Es gibt kaum einen Zentimeter, der nicht mit den Schalentieren bedeckt ist. Beim Austernsammeln kommt es auf das Timing an. Der ideale Zeitpunkt ist Ebbe, wenn sich das Wasser zurückzieht und die Schalentiere freigibt. Am besten begibt man sich bis zur Wasserkante und wählt Exemplare, die noch vom kühlen Nass bedeckt sind. Denn je kälter das Wasser, desto frischer die Auster. Die besten Monate, um auf die Pirsch zu gehen, sind zwischen Oktober und April. In den Sommermonaten sollte man genau schauen, wo die Muscheln geerntet wurden. Ist das Wasser nämlich zu warm, freuen sich Bakterien über den Nährboden. Zudem laichen die Schalentiere in den Sommermonaten.

Wer Austern liebt, für den muss Washington das reinste Schlaraffenland sein. Denn für nur 16 US-Dollar kann man eine Jahreslizenz zum Schalentierfischen erwerben. Mit der Lizenz darf man 18 Austern und 40 Muscheln pro Tag sammeln – jeden Tag, das gesamte Jahr über! »Die Austern, die während des Sammelns schon am Strand in deinem Magen landen, zählt keiner mit«, ruft Angela und bückt sich nach dem nächsten Exemplar. Dann setzt sie sich auf ihren Sammeleimer und öffnet binnen Sekunden eine weitere Auster.

Austern am Strand bei Seattle

Austern am Strand bei Seattle I Foto: Bianca Klement

Meeresfrüchte-Dinner direkt am Strand

Angela hat sich auf Outdoor-Foodevents spezialisiert. Dazu gehören Ausflüge in die dichten Wälder im Umland von Seattle: Pilze sammeln – sogar Morcheln -, Gourmet- Kajaktouren und Meeresfrüchte-Erntetrips, bei denen Muscheln und Austern identifiziert, gesammelt und verspeist werden. Nach dem Sammeln bereitet sie direkt am Strand ein mehrgängiges Menü unter freiem Himmel zu. Natürlich mit Muscheln, aber auch mit fangfrischem Lachs, der ebenfalls eine typische Spezialität der Region ist. Angelas Kommentar:

»Wieso in ein Restaurant gehen, wenn man hier am Strand essen kann?!«

Hood Canal: Der Hotspot der Austern- und Muschelbänke

Am Hood Canal, etwa 20 Minuten außerhalb von Seattle, befinden sich die bekanntesten Austern- und Muschelbänke des Staats. Doch exquisite Schalentiere sind nicht die einzigen Delikatessen, mit denen der Bundesstaat im Norden der USA lockt. Die Hauptstadt Seattle ist eine wahre Fundgrube kulinarischer Köstlichkeiten. Hier trifft der größte Ozean unseres Planeten auf immergrüne Wälder mit gigantischen Urwaldriesen, schneebedeckten Bergen, reißenden Flüssen und duftenden Lavendelfeldern.

Und mittendrin: Seattle. The Emerald City, die Smaragdstadt, ist in der Tat ein Juwel mit einer spektakulären Kulisse. Umrahmt von Bergen wacht im Süden der schneebedeckte Mount Rainier und im Norden der gigantische Mount Baker. Bei der Fahrt ins Stadtzentrum zieht die markante Space Needle, die wie ein UFO über der Skyline schwebt, den Blick magisch an.

Skyline von Seattle mit dem Mount Washington

Skyline von Seattle mit dem Mount Washington I Foto: Bianca Klement

Seattle kann mehr

Wer an Seattle denkt, denkt vielleicht zuerst an »Grey’s Anatomy«, Kurt Cobain, Amazon oder, klar, Starbucks. Aber schon nach wenigen Minuten merkt man: Diese Stadt kann mehr. Die Metropole versprüht einen lässigen Vintage- Vibe und alle Foodies bekommen auf dem Pike Place Market einen exzellenten ersten Eindruck. Seit über einhundert Jahren wird hier sieben Tage die Woche mit Fisch, Gemüse, Fleisch und Honig gehandelt. Etwa 160 verschiedene Manufakturen verkaufen hier ihre Gewürze, Hot Sauce, oder selbst gemachte Käsekuchen, Kekse und Torten locken zum Verzehr. 

Auf eine Fischsuppe bei Chowder

In den zahlreichen Restaurants, Cafés und Imbissbuden bekommt man kantonesische Hom Bow, duftenden Chai-Tee nach original indischem Familienrezept, mexikanische Burritos oder französisches Baguette. Die authentische philippinische Küche im Oriental Mart Lunch Counter ist preisgekrönt und in dritter Generation familiengeführt. Ein Stopp bei dem gefeierten Pike Place Chowder ist Pflichtprogramm, auch wenn man sich dazu in die nervig lange Schlange von anderen Touristen einreihen muss. Die cremige, würzige Fischsuppe mit Lachs oder Muscheln ist es aber wert.

Chowder im Pike Place auf dem Pike Markt

Chowder im Pike Place Chowder I Foto: Trina Barnes/Shutterstock.com

Besten Wein bei Goose Ridge Vineyards

Da darf guter Wein natürlich nicht fehlen. Zum Glück muss man in Washington nie lange nach einer guten Flasche Wein suchen. Mehr als 1.050 Weingüter sind in dem Bundesstaat gelistet – in den USA hat nur Kalifornien mehr. Eine Entdeckung heißt Goose Ridge Vineyards. Von fruchtigem Cider über trockenen Cabernet bis zu Eiswein hat das Weingut alles im Repertoire. Vor allem der Pinot Gris überzeugt mit einem fruchtigen Bouquet und einer angenehm leichten Säure – perfekt für einen Sommertag.

Perfekte Anbaumöglichkeiten rund um die Kleinstadt Woodinville

Wein aus Washington ist für die meisten Restaurants und Hotels selbstverständlich. Regionale Ressourcen zu nutzen, ist schließlich nicht nur effizient und nachhaltig, es stärkt auch die Gemeinschaft. Rund um die Kleinstadt Woodinville bestehen optimale Bedingungen für den Anbau und die Produktion zahlreicher Delikatessen – nicht nur für Lavendel und Trauben. Vor einigen Jahren beschloss Josh Frei von der Woodinville-Lavendelfarm, den ertragreichen Boden auch für die Trüffelzucht zu nutzen.

Die Wachstumsbedingungen für die Knollenpilze sind im Umland von Seattle ideal, auch wenn die kommerzielle Zucht von Trüffeln noch Neuland ist.

»Trüffel werden noch gar nicht so lange kultiviert, erst seit den 1990er-Jahren«,

erklärt Josh. »Die Pilze wachsen nur unter ganz bestimmten Bäumen. Ich habe eine Haselnussplantage und die Bäume sind mit Trüffelsporen inokuliert. Ich baue Burgunder-Herbsttrüffel an.« Wer Trüffel züchten will, braucht Geduld. Abgesehen davon, dass die richtigen Bodenbedingungen und der richtige Baum vorhanden sein müssen, dauert es zwischen drei bis sieben Jahre, bis der Haselnussbaum weit genug entwickelt ist, dass die Trüffel an seinen Wurzeln befruchtet werden können. »Wir sind jetzt im vierten Jahr und hoffen, dass wir schon bald unsere ersten Trüffel ernten können«, sagt Josh.

Ein Eisbad mit Blick auf die Lavendelfelder

Ein Eisbad mit Blick auf die Lavendelfelder I Foto: Bianca Klement

Barking Frog: Eggs Benedict mit Krabbenfleisch 

So ein Omelett mit Trüffel würde dem Frühstück im Barking Frog auch gut stehen. Seit zwei Jahren führt hier Chefkoch Dylan Herrick die Küche. Hochgelobt sind seine Beignets. Und schon nach dem ersten Bissen ist klar -allein für die Hefeteilchen lohnt sich die Fahrt nach Woodinville. Das luftig weiche Gebäck wird warm serviert und duftet herrlich. Der Geschmack erinnert an Schmalzgebäck, nur viel fluffiger. Dazu gibt es eine Frischkäsecreme mit Granatapfel und eine mit Heidelbeeren. Doch Achtung! Unbedingt Platz lassen im Bauch für die Crab Eggs Benedict – statt mit Räucherlachs werden hier auf Wunsch die pochierten Eier mit Dungeness-Krabbenfleisch serviert. »Die Crab Eggs Benedict sind bei uns sehr beliebt, aber saisonal«, sagt Chefkoch Dylan Herrick, der Wert auf regionale Produkte legt.

»Die Dungeness-Taschenkrebse sind hier in den kalten pazifischen Gewässern heimisch. Auch die anderen Zutaten, wie Eier oder Kräuter, kommen direkt aus der Umgebung. Insgesamt planen wir unsere Speisekarte danach, was gerade Saison hat. Aber wir machen mehr als das. Wir fahren hinaus zu den Farmen und schauen uns genau an, wie angebaut wird.«

Dylan hat genaue Vorstellungen davon, was in seiner Küche verarbeitet wird. Nachhaltigkeit, kurze Transportwege und saisonal ausgerichtete Rezepte sind ihm ebenso wichtig wie eine enge Zusammenarbeit mit den lokalen Farmern und Fischern. »Ich habe so eine tiefere und bessere Beziehung zu den Lebensmitteln und auch zu der Region«, sagt er.

Egg's Benedict im Barking Frog in Washington State

Crab Eggs Benedict im Barking Frog in Washington State I Foto: Bianca Klement

Das Naturidyll Lake Washington

Durch den riesigen Lake Washington im Osten und den Puget Sound mit seinen zahlreichen Buchten und Kanälen im Westen hat man in Seattle immer das Gefühl, auf einer Insel zu sein. Tatsächlich sind echte Inseln gar nicht fern. Nordwestlich der Metropole liegen die San Juan Islands, eine Inselgruppe aus 172 kleinen und größeren Inseln, die insbesondere für ihre spektakuläre Natur und Artenvielfalt berühmt sind. Hier kann man mit Glück Orcas und Delfine sichten oder Weißkopfseeadler entlang der schroffen Küsten gleiten sehen.

San Juan Island: Der Rückzugsort für die Großstädter

San Juan Island ist die zweitgrößte Insel und ein beliebtes Feriendomizil für viele Großstädter. Wer nicht mit dem Boot kommt, erreicht von Seattle aus den Hafen von Friday Harbor in nicht einmal 45 Minuten mit dem Wasserflugzeug. Mit Auto und Fähre ist man knapp vier Stunden unterwegs. Es lohnt sich, hierherzukommen. Die Atmosphäre auf der Insel ist easy-going. Die Natur eine Augenweide. Und ja, schließlich sind wir hier kulinarisch unterwegs, auch das Servierte auf den Tellern lohnt sich. Oder das frisch Gezapfte mit Blick auf den Hafen.

Port of Friday Harbour in Westcott Bay

Foto: Bianca Klement

Etwas abgelegen, hinter grünen Feldern, befindet sich die Salzmanufaktur von Brady Ryan. Seit zwölf Jahren stellt er aus Meerwasser sein »San Juan Island Sea Salt« her. Aber Achtung: Salz ist nicht gleich Salz! Wie sind die Kristalle beschaffen? Wie feucht ist es? Welche Mineralien schmeckt man? Ein erstklassiges Salz herzustellen ist eine Kunst. Insgesamt hat Brady mit seinem Team schon mehr als 40 verschiedene Salze kreiert. Darunter Trüffel-Salz, Kelp-Salz oder mit Teriyaki-Geschmack. Insgesamt 20.000 Pfund Gourmetsalz stellt die Inselmanufaktur im Jahr her. Eine von Bradys Leidenschaften ist es, Salz zu räuchern. In einem kleinen Laden mitten in Friday Harbor verkaufen Brady und seine Frau ihre Salzkreationen. Verkaufsschlager ist das fluffig leichte Popcorn-Salz.

Westcott Bay Shellfish Co.: die Austernfarm von San Juan

Und um noch einmal auf den Anfang der Geschichte zurückzukommen: Im Norden von San Juan, am Rand des Nationalparks, liegt Westcott Bay Shellfish Co., die einzige Austernfarm der Insel. Idyllisch gelegen mit Blick auf Kanada. Seit über zehn Jahren züchtet Erik Anderson hier die großen Pazifischen Austern und die kleineren Olympia-Austern. Mit großem Erfolg, denn seine Schalentiere sind heiß begehrt. Exzellente Qualität eben. Als überall auf der Welt während der Coronapandemie Restaurants und Zulieferer schließen mussten, blühte Eriks Austernfarm auf. »Wir hatten ohnehin schon einen Außenbereich, und wir haben sehr viel Platz. Dazu können die Yachten und Boote direkt an unseren Steg fahren und Austern abholen«, sagt Erik.

Austern nähe Seattle in der Westcott Bay Shellfish & Co

Foto: Bianca Klement

Bei der Westcott Bay Shellfish Co. kann man ganzjährig Muscheln kaufen und im Restaurant essen. Die Gerichte sind erstklassig. Doch anders als in vielen Großstädten ist Eriks Austernrestaurant kein elitärer Gourmettempel, sondern ein Ort, an dem sich Familien und Freunde treffen, um gemeinsam leckere Muschelgerichte zu genießen. Für den Preis eines Burgermenüs bekommt man hier ein Dutzend frische Austern in Spitzenqualität. Für Gourmets ein echter amerikanischer Traum.

Mehr Infos zu Austern in Seattle

To Do. Pilze sammeln, Austern ernten oder am Strand ein erstklassiges Menü genießen. Touren mit Angela Shen buchbar unter: www.savorthewildtours.com

Wer wenig Zeit, aber große Lust auf all die Köstlichkeiten hat, die Washington zu bieten hat, sollte Taste Washington besuchen. Bei dem zweitägigen Event im März kann man die Weine von über 200 verschiedenen lokalen Weingütern probieren sowie Gourmetkreationen der besten Restaurants und Manufakturen kosten. Ticketpreis liegt zwischen € 100 und € 150.

Hier gibt es mehr Infos zu Seattle, außerdem haben dir hier zusammengestellt, was du in Seattle gesehen haben musst.