Ungestüme Naturgewalten haben Guatemala ebenso geprägt wie tausendjährige Kulturen und spanische Eroberer. Eine Reise zu seinen alten und neuen Hauptstädten. Text: Carsten Heinke
Doña Leonor hatte eine tolle Aussicht. Denn die Tochter der Maya-Prinzessin Xicoténcatl und des spanischen Eroberers Pedro de Alvarado wohnte mitten in Antigua in Guatemala. An der Kathedrale San José am Fuße des Volcán de Agua stand ihr Palast mit grünem Innenhof. Zerstört und wieder aufgebaut, steht er noch immer da. Das mondäne Renaissance-Haus von anno 1543 ist heute ein Hotel, der Blick daraus kaum weniger spektakulär als damals.
Frische Morgenluft strömt in das Gästezimmer des Palacio de Doña Leonor. Unten in der Calle Oriente prasselt Autoreifengummi über Kopfsteinpflaster. Handwerker und Händler öffnen ihre Läden. Antigua, die Stadt im Schatten der Vulkane, ist erwacht. Der Agua, umhüllt von dicken, weißen Wolken, schläft hingegen. »Zum Glück«, sagt Olga Slowing, die Fremdenführerin. Schon lange sei der nahe Feuerberg nicht mehr aktiv gewesen. »Im Unterschied zu seinem Nachbarn«, ergänzt die Guatemaltekin.
Der letzte Ausbruch des Fuego, der zusammen mit dem Acatenango einen Zwillingsvulkan bildet, forderte erst im vergangenen Jahr mehr als hundert Menschenleben. Mit über 30 tätigen Vulkanen gehört das auf dem pazifischen Feuerring gelegene Guatemala zu den geologisch aktivsten Ländern der Erde.
»Die Konquistadoren hatten davon keine Ahnung«, sagt Olga. Ihre eigenen Vorfahren, Deutsche und Weißrussen, waren im 19. Jahrhundert eingewandert, um Kaffee anzubauen. Zwei Versuche der Spanier, in dieser Region ein Verwaltungszentrum zu errichten, scheiterten an den Naturgewalten. Auch Antigua, das sie 1543 gründeten und zur Hauptstadt ihrer mittelamerikanischen Kolonien machten, wackelte des Öfteren tüchtig.
Alte und neue Narben
Zuweilen richteten die Erdbeben große Schäden an. Immerhin bestand der Ort 230 Jahre, bevor eines ihn fast komplett zerstörte. Die Wunden heilten langsam. Und beständig kamen weitere hinzu, die letzten bei dem großen Beben von 1979. Dennoch ist die von Kaffeeplantagen umgebene Kleinstadt ein Kleinod des Kolonialbarocks – mit vielen Narben.
Von der Kathedrale San José, in der die Asche des Guatemala-Unterwerfers und Doña Leonors Vater bestattet sein soll, blieben nur die wunderschöne Frontfassade und das Skelett des hohen Kirchenschiffes übrig. Strahlend weißer Kalk übertüncht die Außenwände. Doch die Risse darin kann er nicht verbergen. Wo der Putz fehlt, zeigt sich bröselndes Gestein. Das marode Mauerwerk hat Antiguas Leiden konserviert.
Dieses Schicksal teilen mehr als 30 Kirchen und viele andere historische Gebäude. Das bekannteste ist der Torbogen Arco de Santa Catalina, das schönste die Klosterkirche La Merced, das interessanteste der Konvent der Kapuzinerinnen.
Die Besonderheit des 1736 errichteten Klosters ist sein »Turm der Zurückgezogenheit«. Dieser ungewöhnliche Nonnenwohnbereich besteht aus einem Gebäude mit kreisförmigem Innenhof, begrenzt von 18 kleinen Zellen. Jede davon verfügte über eine eigene Toilette, die dank eines unterirdischen Kanals mit Wasserspülung ausgestattet war.
Ballspiel zwischen Pyramiden
Verblüffende Technologien und hochentwickelte Wissenschaft halfen schon den alten Mayas, wahre Wunder zu vollbringen. Eines davon ist Tikal. Anderthalb Autostunden nordöstlich von Flores, versteckt im tropischen Regenwald, liegt die Ruinenstadt, seit fast eintausend Jahren unbewohnt. Sie ist das bedeutendste Kulturdenkmal Guatemalas und wohl die schönste aller klassischen Mayametropolen.
Ihr Zentrum ist der Große Platz mit zwei 40 und 47 Meter hohen Stufenpyramiden und den Gräbern des Herrschers Ah Cacao und seiner Frau, Nord- und Süd-Akropolis und einem Ballspielplatz. Der Mannschaftskampf, bei dem eine Kautschukgummikugel in ein rundes »Tor« befördert werden musste, gehört zu den Vorläufern moderner Ballspiele, war im klassischen Mayareich jedoch eher ein kultisches Ritual als ein Freizeitvergnügen. Um die Götter zu besänftigen, endete das Match nicht selten mit einem Menschenopfer.
Noch sehr, sehr viele Bauwerke der Mayas werden im Dschungel vermutet
Mehr als 3.000 Bauwerke oder deren Überreste gruben Archäologen bislang in Tikal aus. 10.000 weitere, so schätzen sie, hält der Dschungel noch versteckt. Beherrscht wird das einstige Herz des mächtigen antiken Imperiums heute nur von der Natur. Viele Mauern sind von großen Wurzeln fest umklammert. Äste strecken sich wie Arme aus, um die alten Steine zu umschlingen. In den Tempeln leben Affen, Nasenbären, Jaguare.
Noch früher als Tikal besiedelten die Mayas die Ermita-Hochebene. Nach Antiguas Zerstörung entstand dort die neue Hauptstadt – Guatemala-Stadt. Von der ersten Mayasiedlung, die es dort bereits vor 2.800 Jahren gab, waren schon zu diesem Zeitpunkt nur Ruinen übrig.
Heute zählt der »Hügel der Vorfahren« neben dem Nationalmuseum zu den wenig sehenswerten Orten der guatemaltekischen Hauptstadt. Das Spannendste an ihr ist das klitzekleine Restaurant der Maya-Frau »Señora Pu«. Die kochende Anthropologin will die Kultur ihrer Ahnen vermitteln.
»Das Essen ist ein guter Weg dazu«, findet die 50-Jährige. Aus Mais und Bohnen, Kürbis, Chili, Rindfleisch und Kakao, den Rezepten ihrer Oma und etwas Kreativität zaubert sie – direkt vor ihren Gästen – moderne Maya-Küche, die so raffiniert und köstlich ist, dass mittlerweile sogar Einheimische zu ihr kommen.
Tipps für eine Reise nach Guatemala
Anreise. Flüge ab Deutschland gibt es z. B. bei Iberia mit Zwischenstopps in Madrid sowie bei American Airlines und Delta Airlines mit Zwischenstopps in den USA.
Hotel. Das Fünf-Sterne-Hotel Palacio de Doña Leonor befindet sich in einem kolonialen Stadtpalast aus dem 16. Jahrhundert direkt im Herzen der Altstadt von Antigua.
Infos. Das Fremdenverkehrsamt Visit Centroamerica bietet Reisetipps in Spanisch und Englisch.