Jerusalem ist gleich für drei Weltreligionen ein heiliger Ort, an dem man buchstäblich auf den vergangenen Kulturen wandelt. Jedoch geht es in der Stadt des Herrn mitunter ziemlich weltlich zu. Text: Markus Grenz
Man hat nicht oft das Gefühl, dass man an einem Nabel der Welt steht. Doch hier in Jerusalem, auf diesem wenig imposanten Hügelchen, während eine sanfte Brise an meinen Haaren zaust und die sengende Sonne erträglich macht, kann ich mich gegen meine Gänsehaut nicht wehren – und die liegt nicht am Wind. Auf und am Fuße des Ölbergs scheinen so viele Fäden zusammenzulaufen wie an kaum einem anderen Ort der Welt. Von hier aus soll Jesus in die unter mir liegende Stadt gezogen und schließlich von der Himmelfahrtskuppe aus aufgefahren sein.
Nichts als Busse, die Touristen ausspucken
Im Tal zu meinen Füßen erwarten Juden und Muslime das Jüngste Gericht. Fast schon überstrahlt wird die Landschaft von der gold-galvanisierten Kuppel des Felsendoms, eines der heiligsten Bauwerke des Islam. Im Häusergewimmel dahinter breitet sich das bauchige runde Dach der Grabeskirche Jesu aus. Und zu meiner Linken erstreckt sich mit dem Zionsberg nicht nur der Platz des letzten Abendmahls, sondern die Stelle, die mit ihrem Namen Synonym für das »Gelobte Land« selbst ist. Ein bisschen viel, nicht wahr?
Doch für diese mehr als 3000 Jahre alte Stadt, die 18 Mal zerstört und wieder aufgebaut worden sein soll, gibt es kein »zu viel«. Jerusalem ist selbst ein Superlativ. So super, dass sich ein Reisebus nach dem anderen meinen Berg hinauf quält und Massen von Bibeltouristen und Neugierigen ausspuckt. Um mich herum wuselt es wie bei einer Kreuzigung zu Kaiser Herodes Zeiten. Die obligatorischen Japaner mit ihren blitzenden Spiegelreflex-Kameras stehen sich für den besten Schnappschuss gegenseitig im Weg, verzweifelte Fremdenführer rufen ihre Herden zusammen, amerikanische Touristen lassen sich von den Souvenir-Verkäufern Postkarten andrehen. Und immer wieder kommen neue Busse.
Die Heiligen sorgen in Jerusalem für volle Kassen
Das ist auch kein großes Wunder unter den vielen Jerusalems, hier beginnt der christliche Pilgerpfad in die Heilige Stadt. Und Heilige lassen die Kasse klingen. Quellen berichten, dass schon im 16. Jahrhundert die verarmten Juden und Christen vom Pilgergewerbe lebten: Wer die heiligen Stätten »besitzt«, der kann mit festen Einnahmen rechnen, das ist bis heute nicht anders. Im Rekordjahr 2013 kamen allein im Dezember rund 200000 Besucher nach Jerusalem, drei Viertel aller Israel-Touristen. Bei »nur« 9500 Hotelzimmern – in den kommenden Jahren sollen sie um mehr als 4000 wachsen – haben sich so einige eine Bleibe außerhalb der Stadt suchen müssen.
Viele von ihnen sind auf demselben Pilgerpfad gewandelt, auf dem auch ich jetzt gehe. Wobei »Pfad« für die schmale Betonstraße Hügel abwärts viel zu romantisch ausgedrückt ist. Mein Ziel liegt weiter unten: das Löwentor in der Altstadt Jerusalems. Von hier aus hat die israelische Armee im Sechstagekrieg 1967 die Altstadt von den Jordaniern zurückerobert.
Ich betrete eine andere Welt. Über Kopfsteinpflaster wandele ich durch das islamische Viertel. Dicht an dicht wachsen die Quader der Häuser und Mauern entlang der Gässchen in die Höhe, alle gehauen aus dem ockerbraunen Jerusalemstein. Brotverkäufer schieben ihre wuchtigen Karren vor sich her, Rollerfahrer umkurven im Slalom die Pilger, Shops bieten vom siebenarmigen Messingleuchter, »Menora«, über das »garantiert« handgeschnitzte Holzkreuz bis zum »Original-Jerusalem-Zertifikat« alles an, was das gläubige Herz begehrt. Eine Dame in fast biblischem Alter schleppt sich ab mit ihren Einkäufen. In der Altstadt kommt irgendwie alles zusammen, Handel und Arbeit, Religion, Tourismus und ganz normales Wohnen – das alles in einer Kulisse, die anmutet wie ein begehbares Freilichtmuseum. Ein Schmelztiegel auf rund drei Quadratkilometern.
Im Zentrum der Gläubigen: die Klagemauer
»Dieses Konzentrierte ist genau das Spannende«, ruft mir mein Begleiter Alon Ben Nun zu, während er einem wild hupenden Moped ausweicht. Obwohl die Unesco die Altstadt 1981 unter Schutz gestellt hat, ist das Leben hier authentisch geblieben. Es gibt eine lebendige Nachbarschaft, und auf den Märkten kaufen die Leute für den täglichen Bedarf ein. Alon hat hier schon viele Blicke hinter die Kulissen geworfen.
Als Architekt kuratiert er seit sechs Jahren das »Open House Festival«, bei dem mehr und mehr ausländische Touristen ihre Blicke in die Privatgemächer der »Yerushalmi« werfen. In der hochsensiblen Altstadt, geteilt in ein jüdisches, ein muslimisches, ein christliches und ein armenisches Viertel, muss er aber dicke Bretter bohren. Religion mag oft keine »neugierigen Nasen«, und in Jerusalem sind Orthodoxie und Ultraorthodoxie fast allzeit präsent.
Jüdische Glaube ist dauerpräsent
Auf Schritt und Tritt begegnet man etwa den jüdischen Gläubigen im schwarzen Gehrock und der, je nach religiöser Ausrichtung, perfekt abgestimmten Kombination aus Filzhut (»Kneitsch« oder »Fedora«), Pelzmütze (»Schtreimel« oder »Spodek«),) Bartschnitt, Schläfenlocken (»Pajess«) und Gehrock (»Rekl«). Oft sind sie unterwegs zur 18 Meter hohen monumentalen Klagemauer, lesen und rezitieren mit wackelndem Kopf oder Körper an der ehemaligen Westmauer des Zweiten Tempels in und aus der Thora oder stecken kleine Zettelchen mit ihren Wünschen in die Ritzen der gewaltigen Steinquader. Ein Briefkasten Gottes.
Alon ist der heiße Draht zum Schöpfer und das Drumherum suspekt. Er gehört zu der säkularisierten Schicht seiner Gesellschaft.
»Jerusalem wird mehr und mehr zur orthodoxen Stadt«, erklärt er. Wie viele seiner Freunde ist er ins weltliche Tel Aviv gezogen.
Aufgegeben hat er die Heilige Stadt indes längst nicht, allein schon aus Berufsinteresse. »Man kann doch Architektur nicht in einem Museum zeigen«, ist er vom Konzept der »Open Houses« überzeugt: »Denn in Jerusalem wandelt man auf den vergangenen Kulturen«, sagt er und meint dies durchaus wörtlich. Seit der Zeit des legendären Zweiten Tempels vor rund 2500 Jahren ist die Stadt bis zu 20 Meter in die Höhe gewachsen. Neue Herrscher haben immer wieder die alten Bauten verschüttet und ihre Stadt darüber gebaut. Brücken sind nun Straßen, in vielen Gebäuden gibt es Gewölbe, die weit unter der Erde liegen. Wir folgen mittlerweile den Spuren eines Mannes, dessen Taten definitiv nicht »verschüttet« wurden: dem Leidensweg Christi.
Die Grabeskirche kommt unspektakulärer daher als wir dachten
Unbemerkt sind wir auf den berühmtesten Weg des Christentums gelangt, auf die »Straße der Schmerzen«, die Via Dolorosa. Es wird gesungen, geschwatzt, laut gebetet, und die Fremdenführer aus der Region haben auch nicht immer gerade ein dezentes Organ. Je weiter wir fortschreiten, desto mehr Gruppen aus aller Herren Länder passieren wir. Schon sind wir an dem ersten der insgesamt 14 Stationen, einem Minarett am Ort der ehemaligen Festung des Pontius Pilatus, vorbei. Die Altstadt ist eng, hinter vielen unscheinbaren Mauern verbergen sich Kirchen und Kapellen, Kloster und Basilika. »Penible« Historiker halten eine andere Route des Erlösers bis zum Ort der Kreuzigung und dem Grab für viel wahrscheinlicher. Doch das spielt auf dem Marsch im Namen des Herrn überhaupt keine Rolle. Durch das immer dichter werdende Gedränge steuern wir dem Höhepunkt zu: der Grabeskirche.
Die kommt auf den ersten Blick erheblich unspektakulärer als erwartet daher, denn die ganze architektonische Pracht mit den vielen verwinkelten Anbauten und Kuppeln ist auf dem engen Gelände gar nicht richtig zu erfassen. Vor der rund 20 Meter hohen Fassade eines der größten Heiligtümer des Christentums tummeln sich neben den mir vertrauten Gläubigen aus dem Westen langbärtige Anhänger der orthodoxen östlichen Kirchen, Kopten in ihren weißen Gewändern oder schnatternde Inder. Was für die Europäer Lourdes, Santiago de Compostela oder Rom, ist für die Gläubigen im Osten der ursprüngliche Aphroditetempel im Herzen der Jerusalemer Altstadt.
Der Andrang ist riesig
Dass dies Herz auch hinter den dicken Steinmauern heftig pocht, wird mir schnell klar, als ich in die Kirche eintrete. »Das ist kein Wallfahrtsort, sondern ein Bahnhof«, denke ich mir, als ich mich an den Massen vorbeiquetsche und eine Wendeltreppe hinaufsteige, auf nach Golgatha (»Schädelstätte«), dem Felsen der Kreuzigung.
In Reih und Glied stehen hier die Pilger im Halbdunkel auf der Ampore an und warten unter den Augen der silbrig funkelnden lebensgroßen Jesus-Figur am Kreuz. Sie wollen unter den hohen Kreuzigungsaltar kriechen, um zu beten und vor allem den darunter liegenden Golgotha-Felsen durch ein kleines Löchlein zu berühren. Rechts und links von diesem Objekt der Begierde kann man den wohl berühmtesten Felsen der Menschheit schon unter Plexiglas betrachten. Eine rüstige amerikanische Rentnerin, die gerade eben noch schnell eine schlanke Kerze entzündet hat, kann sich kaum fassen. »Dass ich das noch erleben darf«, stammelt sie und weiß gar nicht, was sie mit ihrer kleinen Digitalkamera zuerst fotografieren soll.
Ich kann so viel »Best of Christentum« auf einem Haufen auch nicht gleich verarbeiten und schnappe mir einen Reiseführer, der von hier oben seine Gruppe im Auge behält. Tatsächlich gingen die meisten Gelehrten davon aus, dass die wichtigste Kirche der Christenheit, zumindest der im Osten, direkt auf dem Ort der Kreuzigung und der benachbarten Grabeshöhle liege.
Wohl schon bevor die erste Basilika auf den Trümmern des Aphroditetempels im 4. Jahrhundert gebaut wurde, hatte man einen Teil der Felsen abgetragen. Doch, wie so oft in dieser Stadt, wurde zerstört, aufgebaut, angebaut und gestritten. Um die heutzutage verwirrende Ansammlung von sieben Kapellen, zwei Klöstern, dem zentralen Schrein mit dem Jesus-Grab und zahlreichen Altären, Ampeln und Ikonen ringen gleich sechs Kirchen, die Griechisch-Orthodoxen, die Armenier, Äthiopier, Kopten, Römischen Katholiken und noch dazu die Assyrischen Jakobiten. »Was es alles gibt«, schießt es mir durch den Kopf.
Die Fremdenführer dringen kaum durch mit ihrer Stimme
Ähnliche Gedanken kommen mir, als ich eingekeilt zwischen Hunderten von Pilgern warte, die man rund um den knapp sechs Meter hohen »Kiosk« im türkischen Rokokostil hinter Polizeiabsperrungen gepfercht hat. Denn am zentralen Heiligtum, dem Jesus-Grab im Erdgeschoss, geht es manchmal so rau zu wie beim Kampf des Teufels um die arme Seele.
Vor den Absperrungen wird gedrängelt und diskutiert, die Fremdenführer rufen mit kräftigen Stimmen ihre Gruppen zusammen oder halten gegen den Lärm noch lauter ihre Vorträge. Am direkten Kapelleneingang prügelt sich fast ein besonders rabiates Exemplar der Gattung Tourguide mit einem Mönch, der ihn zu einem dezenteren Auftreten ermahnt. Eher Circus Maximus als fromme Kontemplation. Durch das Geräusche-Tohuwabohu höre ich es aber auch schon klingeln, das Eingangsglöckchen gibt mir mein Zeichen. Ich darf ins Heiligste eintauchen.
Unter den vielen Lämpchen der mächtigen Leuchter trete ich durch den niedrigen Türbogen ein in den Kiosk, pardon, in den heiligen Schrein. Mein Blick fällt auf ein Stück Marmor, das als Altar dient. In ihm ruht ein Stück des Steins, den Osterengel-Hände vom Grab gerollt haben sollen. Doch das ist noch nicht das Ziel, das Heilige Grab ist wie eine russische Matroschka, die letzte Zwiebelschale muss ich noch hinter mir lassen. An der niedrigen Tür zur noch winzigeren Innenkapelle stoße ich mir fast den Kopf. Eine Marmorplatte liegt an der Stelle, an der Jesu Leichnam zur Ruhe gebettet worden sein soll. Ich bin an der 14. und letzten Station des Kreuzweges angelangt. Um mich herum ist es ganz still geworden.
Es muss zügig weitergegangen werden
Lang ist die Zeit nicht, die dem Besucher im Bauch der Grabeskirche gewährt wird. Zu viele Pilger stehen schon wieder und warten, in zu kurzen Abständen läutet ihnen das Himmelsglöckchen zum Eintritt. Als ich mich durch das Gedränge in Richtung Ausgang schiebe, fällt mir der penetrante Weihrauchgeruch auf, der in der Luft liegt. Vollbärtige Armenier in langen schwarzen Gewändern »desinfizieren« so ihre Heiligtümer von so viel Weltlichkeit.
Ich flüchte vor dem beißenden Qualm und mache noch einen Abstecher in die nebenan liegende Hauptkirche der Griechisch-Orthodoxen. Die will ich keinesfalls auslassen, denn exakt unter der kleinen Kuppel baumelt eine Marmorschale mit einer umflochtenen Halbkugel: Auf zahlreichen historischen Weltkarten ist genau hier der Mittelpunkt der Erde verzeichnet – und wann hat man sonst schon die Gelegenheit, an einem Nabel der Welt zu stehen?
Anreise. Von April bis Ende Oktober fliegt die El Al sechs Mal die Woche von München und Frankfurt a. M. nach Jerusalem. Air Berlin fliegt von Berlin sowie von Düsseldorf nach Jerusalem. www.elal.co.il, www.airberlin.de
Info. Travelmarketing Romberg, Schwarzbachstraße 32, 40822 Mettmann, Tel.: 02104 9 52 41 29, E-Mail: t.gigla@travelmarketing.de, www.travelmarketing.de. Allgemeine Infos zu Israel: Staatliches Israelisches Verkehrsbüro, Friedrichstraße 95, 10117 Berlin, Tel.: 030 20 39 970, E-Mail: info@goisrael.de, www.goisrael.de
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