Ästhetik, Kultur und Kulinarik – Paris ist ein Gesamtkunstwerk. Unzählige Kreative arbeiten an diesem Lebensgefühl, meist im Verborgenen. Zu bestimmten Anlässen lassen sie Besucher in ihre Ateliers. Daniela David hat sich zur Werkstatt-Visite nach Paris aufgemacht und Geheimtipps mitgebracht. Hier sind ihre Tipps in Sachen Kunsthandwerk in Paris.
Kunsthandwerk in Paris: Weben, flicken und gestalten für die Nation
Eine Tonne Geschichte füllt den Raum, angefressen von Motten. Akribisch bessert Fabienne Wadoux Löcher in einem monumentalen Teppich aus. Das wertvolle Stück mit prächtigem Blumendekor stammt aus der Kathedrale von Notre-Dame und hatte auf wundersamerweise die Brandkatastrophe vom April 2019 überstanden.
»Bis zur geplanten Wiedereröffnung von Notre-Dame Ende 2024 müssen wir den Teppich fertig haben«,
sagt die Restauratorin und zieht geübt den nächsten Wollfaden ein. In Anbetracht seiner Ausmaße von 180 Quadratmetern scheint das ein sehr ambitioniertes Ziel.
Höchst konzentriert wirkt die Arbeitsatmosphäre, die in den Werkstätten von Le Mobilier national im 13. Arrondissement in Paris herrscht. In dieser weltweit einmaligen Institution werden nicht nur Möbelstücke mit geballter Fachkompetenz erhalten, sondern auch neu kreiert. Ob ein moderner Konferenztisch für den Ministerrat, ein neuer Stuhl für die Nationalbibliothek oder ein praktisches Gefängnisbett: Kreative Geister entwickeln im öffentlichen Auftrag das französische Kunsthandwerk weiter. Und das seit dem 17. Jahrhundert.
Selbst neue Wandteppiche entstehen. An einem riesigen Hochwebstuhl arbeiten zwei Frauen nach zeitgenössischen Entwürfen an einem »Gobelin von heute«, der wie ein modernes Gemälde aussieht. Drei bis fünf Jahre weben sie an dem knallbunten Teppich von sechs mal drei Meter Größe. Auf den ersten Blick wirkt ihre Tätigkeit monoton. Doch die modernen Weberinnen versichern. »Es stimuliert!«
Savoir-faire und Savoir-vivre
Der Herzschlag eines jeden Designliebhabers beschleunigt sich beim Betreten der nationalen Möbelsammlung. In einer gigantischen Halle stehen säuberlich in Regalen aufgereiht Sessel, Fauteuils, Kommoden, Lampen. »Ob das Büro des Präsidenten der Republik im Élysée-Palast oder die französischen Botschaften in fernen Ländern, 650 nationale Institutionen weltweit werden mit Möbeln aus unserer Sammlung bestückt«, erklärt Pierre Houdellieu von Le Mobilier national. Höchst selten wird der Blick in diesen Schaukasten französischen Kunsthandwerks ermöglicht.
Da steht Napoleons Thronsessel. Der Präsidenten-Schreibtisch von Valéry Giscard d’Estaing. Ein Designerstuhl von Philippe Starck. Keines der mehr als 100.000 Stücke der nationalen Sammlung darf jemals veräußert werden. Wie könnte man auch ein Stück seiner Seele verkaufen?
Federleichtes Design
Natürlich ist Paris auch für seine Kreativität in der Welt der Mode bekannt. Aus filigranen Federn gestaltet Janaïna Milheiro fantasievolle Kreationen. Darunter ätherisch leichte Oberteile, die superb transparent die Fantasie beflügeln. Da wundert es nicht, dass die Haute Couture schon an die Ateliertür der Federkünstlerin klopfte.
Inzwischen fertigt Janaïna auserlesene Federmodelle mit floralen bis hin zu abstrakten Mustern für Luxusmarken wie Dior, Valentino oder Guerlain. »Seit mehr als zehn Jahren entwickle ich meine Technik weiter, die Federn optimal mit Wasserdampf vorzubereiten und zu beschneiden«, erklärt die Designerin brasilianischer Abstammung in ihrem Studio nahe dem Place des Vosges.
Federkunst hat eine lange Tradition in Paris. Auch Königin Marie-Antoinette und ihre Entourage schmückten sich üppig mit Federn. Bis zum Washingtoner Artenschutzabkommen 1975 gab es in der Stadt eine große Zahl an Putzmacherinnen, die mit Federn von exotischen Vögeln arbeiteten.
Fedrige Modewelt
Die Modistin Johanna Braitbart verwendet vor allem Hahnenfedern, für die kein Tier eigens sterben muss. Ihr Werkstattladen mitten im Altstadtviertel Marais quillt über an Hüten und Haarschmuck. Seit 25 Jahren fertigt sie Einzelstücke nach Maß – auffällig verziert mit Federn.
»Die Feder ist ein nobles Material, in dem sich das Licht spiegelt«,
begeistert sich die Hutmacherin.
Handtaschen aus dem Meer
Den Wow-Effekt lösen auch die krachfarbenen Handtaschen von Marianna Ladreyt aus. Zum Beispiel die, die in ihrem früheren Leben eine Luftmatratze in Krokodilform waren. Von überall her schicken ihr Leute ausgediente Wasserspielzeuge und kaputte aufblasbare Schwimmtiere. Deren Material kann nicht recycelt werden. »So mache ich Upcycling und schneidere daraus Taschen«, sagt die junge Fashiondesignerin. »Drei Tage brauche ich für eine.« Die Handtasche mit Vorleben – ein Pariser Unikat und zugleich ein Statement!
Mariannas Atelier, von dem sie einen fantastischen Blick auf die Basilika Sacré-Cœur hat, befindet sich im Métropole 19. Der Gebäudekomplex in dem von Touristen weitgehend gemiedenen 19. Arrondissement im Norden von Paris bietet Start-ups und innovativen Kleinunternehmen günstigen Gewerberaum. Ein Tummelplatz für Kreative.
Französisches Neon
Darunter Alexis Dandreis, einer der raren Neonisten Frankreichs. Seine Werkstatt ist bestückt mit den unterschiedlichsten Neon-Kreationen. Jedes Leuchtelement hat seine partikuläre Farbe. Neon – ein Zauber aus Glas, Gas, Strom und phosphoreszierendem Puder.
»Ein Franzose erfand Neon vor rund einem Jahrhundert«,
berichtet der Neon-Künstler und biegt über der Flamme Glasröhren zu geschwungenen Formen. »Neon hält lange, ist kein Wegwerfartikel.« Aber wie bekommt man nur so leuchtende Basketballkörbe zustande? In Workshops weiht Alexis Gäste in die von LED bedrohte französische Neon-Kultur ein.
Kunst trifft Kulinarik
Die französische Lebensart ist in Paris eng mit dem Savoir-faire des guten Essens verbunden. Allerorts in der Stadt locken Manufakturen, in welchen lukullische Köstlichkeiten fabriziert werden. In der Rue de la Roquette duftet es verführerisch nach Kakao. Durch die Fensterscheibe in der Schokoladenmanufaktur von Sternekoch Alain Ducasse kann man dabei zusehen, wie flinke Hände Kakaobohnen in Maschinen füllen oder Teigmassen für Biskuits rühren.
Als wahre Geschmacksexplosionen erweisen sich die Kreationen seiner Eis-Manufaktur, die Ducasse 2021 eröffnet hat. Originelle Sorten mit frischen Kräutern, Olivenöl oder bittersüßer Grapefruit mit Vermouth überraschen selbst erfahrene Eis-Gourmets durch verblüffende Aromen.
Aus Paris – für Paris
So ist Paris nicht nur ein Ort des kulinarischen Genusses, sondern auch der Produktion von feiner Kost, fest oder flüssig. Mitten in der Stadt, in einem Bogen des hohen Viaduc des Arts aus dem 19. Jahrhundert, destilliert Théo Boussion Gin, sowie den typisch französischen Pastis.
»Im Zuge der Pandemie haben viele ihren Job gewechselt«, erklärt Théo. »Ich mutierte vom Weinhändler zum Ginerzeuger.« Im Kupferkessel braut er gemeinsam mit seinem Kollegen das hochprozentige Getränk nach eigenen Rezepturen. Die Devise der Distillerie du Viaduc: biologisch, lokal und handgemacht.
Während unten im Bogen des Viadukts aus Gewürzen und Kräutern »Geistige« entsteht, spaziert man oben auf dem ausgedienten Bahngleis durch einen erdigen Garten. Meterhoch über der Straße blühen Blumen. Und der Flaneur ist dort den Dächern von Paris ganz nah.
Über den Dächern von Paris
Wie macht diese Stadt das nur – eine solch umwerfende Dachlandschaft fortwährend zu erhalten? Diese grau-blaue Ikone, kunstvoll gefertigt aus Zink und Schiefer, mit Kuppeln und Kaminen. Die legendären Dächer von Paris – sie sind verewigt in Romanen, Chansons und Filmen.
Welche Fertigkeit man mitbringen muss, um Paris aufs Dach zu steigen, erfahren Neugierige in einem Workshop bei dem Dachdecker Frédéric Cordier. Schallend hallen die Schläge der Kursteilnehmer durch den Showroom von Les Toits Parisiens im Marais. Schwer liegt der Hammer in der Hand, leicht bricht der Schiefer am Rand ab. Kurz: Gar nicht so einfach, diese Berühmtheit zu bearbeiten. Da wächst der Respekt vor der Kunstfertigkeit der Pariser Dachdecker gewaltig.
»Wir Dachdecker schmücken die Braut, heißt es bei uns«, sagt Frédéric. Und Paris, die Braut, will perfekt sein. Alles dort oben steht unter Denkmalschutz, ob die Schieferschindeln aus dem Mittelalter oder die Zinkdächer aus dem 19. Jahrhundert. Bei jeder Reparatur heißt es: Bloß nichts verändern. Eine Verschandelung ist bei dieser Schindelarbeit somit ausgeschlossen.
Auf diese Weise hat sich der einzigartige Anblick auf die eleganten Dächer erhalten. Der Mythos der Weltstadt. Paris ist stolz darauf. Dachdecker Frédéric schwärmt von der luftigen Höhe.
»Auf den Dächern von Paris fühle ich mich wahrlich frei.«
Infos und Tipps zu den Kunsthandwerksorten in Paris
Bei der Veranstaltung parislocal (17.-19. November 2023) im Großraum Paris stehen Hunderte von Werkstätten, Ateliers, Manufakturen und Degustationen offen. Besucher können im persönlichen Kontakt das Pariser Savoir-Faire (Know-how) kennenlernen.
Viele der im Artikel vorgestellten Kunsthandwerker nehmen an parislocal teil. Einige bieten darüber hinaus Workshops und Atelierbesichtigungen an (zum Teil auch auf Englisch). Aktuelle Informationen gibt es auf den jeweiligen Webseiten. Die Räume von Le Mobilier National sind zu den European Heritage Days am 16. und 17. September 2023 für die Öffentlichkeit zugänglich. Eine rechtzeitige Ticketbuchung ist grundsätzlich bei allen Veranstaltungen angesagt.
Hier gibt es mehr Infos zu Paris und zu parislocal.
Wo Speisen in Paris?
Das Café Mulot liegt im Garten des Wohnhauses von Nationaldichter Victor Hugo, direkt am herrlichen Place des Vosges. Unter Kastanienbäumen wird moderne französische Küche serviert. Der Besitzer Fabien Rouillard ist Meister der Patisserie.
Das Baca‘v versprüht das Gefühl eines ländlichen Gasthauses mitten im 5. Arrondissement. Chefkoch Emile Cotte bereitet bodenständige Gerichte im modernen Antlitz zu. Das Lokal ist eines von 1.700 Restaurants, die zum Collège culinaire de France gehören und sich für eine Kochkultur ohne industrialisierte Lebensmittel einsetzen.
Das Lokal Le Potager du Marais zählte 2003 zu den ersten veganen Lokalen in Paris. Heute wird nicht nur vegan gekocht, sondern auch lokal, saisonal, meist glutenfrei, mit biologischen und fair gehandelten Zutaten.
Hipp und stylisch ist das Ambiente im Feuille de Chou im Hotel Mob House in Saint-Quen, nahe dem 19. Arrondissement. Philippe Starck entwarf die großräumige Brasserie mit einer Bar als Augenfang. Aufgetischt wird biologische Kost.
Die Zimmer und Suiten des Mob House Hotels sind für moderne Nomaden gedacht, ausgestattet mit einer Küche für längere Aufenthalte und mit Büromöglichkeiten zum Arbeiten unterwegs. Bei den natürlichen Materialien dominieren Holz und Marmor.