Ganz im Norden Italiens wartet in einem abgelegenen Tal das ganz große Abenteuer auf Mountainbike-Fans: Livigno. Hier führen unzählige Trails die 3.000er hinab. Unsere Redakteurin Marie hat sich das E-Bike geschnappt und es ausprobiert. 

Zack. Da war wieder eines dieser ungeschossenen Fotos. Schottersteinchen springen lauthals unter meinen breiten Reifen weg, als ich scharf in die Rechtskurve biege. Nach dem Scheitelpunkt löse ich die Bremse und das E-Mountainbike bekommt einen merklichen Schub. Im Augenwinkel sehe ich, wie das Bike vor mir in die kommende Linkskurve geht, dahinter breitet sich der Stelvio-Nationalpark in all seiner Pracht aus: Die waldreichen Hänge laufen im Tal zusammen, wo sich der Lago di San Gaicomo in einem stechenden Helltürkis staut. Dahinter übermannt die schroffe Gipfelkette des Cima de la Casina mit 3.180 Metern die Szenerie. Die Silhouette der Mountainbikerin davor, wie sie ihr Bike scharf gen Hang neigt, ihr Körper sich allerdings genau entgegengesetzt gegen die Fliehkraft der Kurve stemmt – es wäre das perfekte Foto gewesen, das ich nie geschossen habe. Davon gibt es so viele auf diesem Trip.

Mountainbiker unterwegs vor der Kulisse des Lago die Livigno in Italien

Marie Tysiak

Aber vielleicht hat es auch etwas Gutes, dass man beim E-Mountain-biken keine Hand frei hat. Man muss sich durchgehend konzentrieren und der Kopf ist dadurch erstaunlich frei von anderen Gedanken. Seit wir von der Seilbahn Carosello 3000 auf fast 3.000 Metern gestartet sind, sind wir durchgehend auf Achse, wörtlich gemeint. Jetzt geht es steil bergab entlang der Bergflanke: Ich stehe in den Pedalen, die Knie und Ellenbogen angewinkelt, um die Unebenheiten abzufedern. Meine Armmuskeln und Oberschenkel zittern bei jeder kurzen Pause. Seit langer Zeit habe ich nicht mehr so etwas Aufregendes gemacht. Ich bin blutige Anfängerin, aber mutig, wie ich finde. Und dieser Adrenalinrausch fühlt sich unglaublich gut an.

Die Mountainbike-Community in Livigno

In der Mountainbike-Community ist das italienische Alpenstädtchen Livigno längst kein Geheimtipp mehr. Es könnte auch kaum perfekter liegen: Lang gezogen und schmal schmiegt es sich auf 1.800 Metern in das abgeschiedene Tal, das Jahrhunderte nur von Süden aus erreichbar war und nun durch einen Tunnel auch im Norden an die Schweiz angebunden ist. Zu drei Seiten erheben sich also die Berge, gigantisch hoch. Seilbahnen führen hinauf in die unwirkliche alpine Landschaft, Trails aller Schwierigkeitsgrade wieder hinunter ins Tal. Hier reihen sich die schmucken Holzchalets an der schmalen Hauptstraße entlang, die sich zu Stoßzeiten die E-Mountainbiker mit Fußgängern und Autofahrern teilen. Outlet-Shops verkaufen Outdoor-Mode zu sagenhaften Preisen, Eisdielen, Vinotheken und Pizzerien zeugen davon, dass das italienische Dolce Vita auch seinen Weg hierher in den letzten Winkel von »Bella Italia« gefunden hat.

Die Gruppe hält an. Unser Guide Nicola winkt uns Mountainbiker zu sich. Er erklärt, was nun ansteht: eine Passüberquerung, der Trela-Pass. Doch wir müssen uns beeilen, denn es ziehen dunkle Wolken auf, die Regen mit sich bringen. Und dann werden die Trails besonders rutschig.

Seilbahn fährt ins Tal von Livigno

Marie Tysiak

Mountainbiken in Livigno: Eine Passüberquerung mit Hindernissen

Wir treten also in die Pedale. Das kleine Stück bergauf meistern unsere E-Mountainbikes lässig, ich verstehe, warum sich die elektrifizierten Räder hier durchgesetzt haben. Die Federung gleicht grobe Wurzeln und selbst große Steine auf dem schmalen Trail mühelos aus. Dann wird der Pfad schmaler, der Hang nach links steiler. Nicola vor uns schlängelt sich durch das Gebirge, als wäre es ein Kinderspiel. Ich versuche, konzentriert zu bleiben und bloß nicht zu langsam zu fahren, denn dann wird es tendenziell schwieriger, die Balance zu halten. Schwindelfreiheit ist hier absolutes Muss. Ich schlage mich gut, erhalte ein Lob von Nicola und bin tatsächlich etwas stolz. Nur wenige Male muss ich mir eingestehen, dass die ein oder andere Passage eine Nummer zu groß für mich ist und ich schiebe. Doch sobald der Pass geschafft und die Baumgrenze wieder erreicht ist, flitzen wir durch dichten Nadelwald, der Trail schlängelt sich im Slalom hindurch. Es macht einen Heidenspaß, zu merken, wie sehr sich das Fahrrad schon nach kurzer Zeit fast wie eine Verlängerung meines Körpers anfühlt, ganz natürlich eben.

Zwei Mountainbiker in Livigno

Marie Tysiak

Als der Letzte unserer Gruppe aus den Bäumen am Trailende gesaust kommt, beginnt es, zu regnen. Perfektes Timing – wir erreichen noch trocken das Ristoro Val Alpisella am Ufer des großen Stausees, der Livigno nach Norden begrenzt. Serviert wird Polenta, das hier in den unwirtlichen Alpen jahrelang die Bevölkerung im Winter ernährte.

Ein Alpendorf mit Geschichte

Denn früher, wie ich später im MUS!, dem Museum für Livigno samt seinem hoch gelegenen Stadtteil Trepalle, lerne, war das Leben hier einst ein Knochenjob. In den harten Wintern war das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten und das örtliche Bauernvolk völlig auf sich allein gestellt. Deswegen erklärte Napoleon Livigno zur zollfreien Zone, wovon die Stadt noch heute profitiert. Das lockte besonders Schmuggler an – einer von ihnen sollte später in den Geschichten von Don Camillo und Peppone Weltruhm erlangen.

Denn 1948 besuchte der Schriftsteller Giovannino Guareschi den Stadtteil Trepalle in den Bergen, der manchen Quellen nach als Europas höchstgelegener, dauerhaft besiedelter Ort gilt. Dort lernte er den örtlichen Pfarrer, einen gewissen Don Alessandro Parenti, kennen, ebenso den Schmuggler Giàn. Die Begegnung mit den tüchtigen Menschen aus Livigno, die mehrere Monate bei bis zu minus 30 Grad Celsius in ihrem Bergdorf verharrten und geschmolzenen Schnee tranken, beeindruckte Guareschi sehr, besonders der engagierte Priester. Don Parenti inspirierte den Schriftsteller so sehr, dass er ihn später zu mehreren Geschichten und Erzählungen verewigte: Don Camillo, der gemeinsam mit dem Schmuggler Peppone in Geschichten und Filmen ein Sinnbild für das ländliche Italien wurde, ist in Wahrheit der Priester aus Trepalle in Livigno.

Landhaus in italienischem Alpendorf

Marie Tysiak

Seit 1951 ist Livigno auch im Winter erreichbar. Das lockte wiederum Skifahrer an, die die Livigno-Alpen für sich entdeckten und dem Ort seinen reichen Tourismus bescherten. Auch wenn das Alpenstädtchen für seinen Wintersport bekannt wurde (und hier auch einige Wettkämpfe der Olympischen Winterspiele 2026 ausgetragen werden) – Livigno ist auch im Sommer ein ebenbürtiger und spannender Outdoor-Spielplatz. Allen voran eben für Mountainbiker. Und so kommt es, dass ich am kommenden Tag noch ein paar weitere Trails ausprobieren mag.

Karge Schönheit auf 3.000 Metern Höhe

Es ist Sonnenaufgang. Ich stehe mutterseelenallein am Monte delle Rezze, einer kargen Schönheit auf fast 3.000 Metern. Wo früher Schäfer in einer Hütte unterkamen, steht heute ein steinernes Häuschen zwischen Felsen, Wildblumen wackeln wacker im Wind. Hier gibt es einen warmen Unterschlupf samt Ofen, wo wir die Nacht verbracht haben. Hergekommen sind wir über Trails, die ich mich früher kaum zu wandern gewagt hätte – doch plötzlich sehe ich die Berge mit ganz neuen Augen.

Mountainbike steht an schmalem Alpentrail

Marie Tysiak

Das magische Morgenlicht klettert wie in Zeitlupe über die Bergkämme und bestrahlt in einer wundersamen Zeremonie Gipfel für Gipfel. Diesmal habe ich meine Kamera zur Hand. Auch wenn es viele Fotos gibt, die ich in Livigno nicht geschossen habe, die Erlebnisse bleiben allesamt fest in meinem Gedächtnis verankert, wo die vorbeirauschenden Alpen noch lange nachwirken. Diesen Rausch der Berge von Livigno werde ich irgendwann wieder erleben, ganz bestimmt.

Infos für Livigno

Im Rifugio Costaccia wird in einer Berghütte Gourmetküche vom Feinsten serviert, zum Beispiel Hummer mit Kartoffelschaum.

Die Montivas Lodge ist eine schlichte, aber schöne Unterkunft auf 4-Sterne-Niveau. DZ ab € 120 pro Nacht.

Bike Livigno bietet geführte E-Bike-Touren in die umliegende Bergwelt an.

Im »MUS! Museo di Livigno e Trepalle« im Herzen von Livigno erfahren Interessierte alles über die Entwicklung der einst abgeschiedenen Bergdörfer zum Outdoor-Paradies für Bergefans.

Mehr Infos über Livigno und die Region gibt es bei Fremdenverkehrsamt von Livigno.

Hier findet ihr alle praktischen Reise-Tipps für Livigno.

Esel stehen auf einem Trail in den Alpen

Marie Tysiak