Montenegro macht sich: Der kleine Balkanstaat werkelt intensiv am touristischen Brückenschlag zwischen mondäner Adriaküste und rustikalem Hochland. Und tatsächlich fügen sich die einzelnen Puzzleteile immer mehr zu einem schlüssigen und äußerst sehenswerten Gesamtbild zusammen. Text: Jan Schnettler
Sonnenbeschienen liegt die Bucht von Kotor in Montenegro im Tal, mikroskopisch-reglos wie die Landschaft einer Modelleisenbahn. Das namensgebende, venezianisch geprägte Städtchen, im Ensemble mit der Wasserstraße Unesco-Weltkultur- und -naturerbe, ruht friedlich in sich. Im Hafen dümpeln zwei Kreuzfahrtschiffe, die sich, glaubt man der Gischt, sogar bewegen – dann aber unfassbar langsam. Linker Hand klafft die leer gefegte Landebahn des Flughafens von Tivat, und noch weiter westlich drängt die offene, wolkenverhangene Adria ins Blickfeld.
Daneben und dazwischen: grüne Hügel und karge Berge, bereits in Sichtweite kroatisch, bei klarem Himmel am Horizont sogar bosnisch. Ein Panorama, das seinesgleichen sucht – doch wer es in seiner vollen Pracht genießen möchte, sollte zweifelsohne schwindelfrei sein. Denn für den atemberaubenden Ausblick auf tausend Höhenmetern sind 25 steile Serpentinen zu überwinden.
Montenegro präsentiert sich nicht auf dem Silbertablett
So wie im Lovćen-Gebirge über der Bucht von Kotor ist es vielerorts in Montenegro: Wer eine kleine Anstrengung auf sich nimmt, der wird reich beschenkt. Denn der erst seit 2006 unabhängige Balkanstaat ist kein leicht zugängliches Reiseziel, das sich dem Besucher auf dem Silbertablett darbietet. Der Name (»Schwarze Berge«) kommt nicht von ungefähr, der Norden ist ein einziger zerklüfteter Gebirgspass, die Infrastruktur noch nicht überall vorbildlich.
Das Land wirkt wie ein Puzzle, dessen Einzelteile sich erst allmählich zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Doch dass dieses einst schlüssig und äußerst sehenswert sein wird, ist schon jetzt erkennbar: An allen Ecken und Enden wird gewerkelt, die Aufbruchstimmung ist allgegenwärtig. Montenegro mausert sich – und verbindet die schon heute mondäne Küste mit dem einst osmanischen Süden und dem Norden, der bereits in wenigen Jahren nicht nur als Skidestination, sondern auch als Hotspot für Hiking und Biking bekannt sein dürfte. Es ist aufregend, dieses Zusammenwachsen von trendigem Chic, sozialistischen Bausünden und Habsburger Relikten (sehenswert: der stolze k.u.k.-Billardtisch im ehemaligen Königspalast von Cetinje!) in Echtzeit zu verfolgen.
Erst einmal die Schatten der Vergangenheit abstreifen
Denn die Montenegriner haben dankenswerterweise erkannt, über welchen immensen Reichtum an Kultur und Natur, an Geschichte und Moderne, an Speis und Trank sie verfügen. Und das auf einer Fläche kleiner als Schleswig-Holstein und mit einer Bevölkerungszahl, die die der Stadt Stuttgart nur geringfügig übersteigt.
Dabei gilt es nicht zuletzt, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln, die oft sogar zu Unrecht auf dem Land lasten: Weil Montenegro zu Serbien gehörte, als die Nato Belgrad bombardierte, galt es in der kollektiven Wahrnehmung zeitweise als eine Art Schurkenstaat, doch war es davon in Wahrheit ähnlich wenig betroffen wie von den Gräueln des Balkankriegs. Vor diesem – und bevor Reiseveranstalter und Fluggesellschaften die Region links liegen ließen – war sie lange ein Lieblingsreiseziel der Deutschen gewesen (nicht umsonst wurden hier 1999 die Mark und 2002 der Euro eingeführt, obwohl das Land noch nicht zur EU zählt), und das will sie endlich wieder werden. Budva? Da sind schon viele Urlauber gewesen, aber noch kaum einer war in Montenegro. Man fuhr damals schließlich nach Jugoslawien.
Dabei ist Budva heute ein weiteres Puzzlestück, das Montenegro sein Gesicht gibt. Über sage und schreibe die halbe Bettenkapazität des Landes verfügt der Badeort, der seinen eigenen griechischen Gründungsmythos hat und mindestens 2500 Jahre alt ist. Im Sommer wird er zur Partymetropole und zu einer einzigen Freilicht-Theaterbühne.
Budva wartet mit piekfeinen Häusern wie dem Avala und dem Splendid auf – sowie der Hotelinsel Sveti Stefan, einem äußerlich komplett beibehaltenen und im Inneren erst entkernten, dann mit modernen Annehmlichkeiten versehenen mittelalterlichen Fischerdorf, das sich längst als intimes Luxusresort für die Reichen und Schönen etabliert hat. Doch auch die komplett von Stadtmauern umgebene, verwinkelte Altstadt ist ein Blickfang – wenn auch ein nur bedingt originalgetreuer. Nach dem verheerenden Erdbeben von 1979 wurde die Stadt Stein für Stein wieder aufgebaut, sodass heute wieder alles genauso aussieht wie einst in »Pippi in Taka-Tuka-Land« – denn dieser Kinderfilm wurde 1970 in Budvas engen, urigen Gassen gedreht.
Eine Vision namens Porto Montenegro nahm Gestalt an
Damals war der Hafen von Tivat, ein paar Kilometer weiter nördlich, noch auf dem absteigenden Ast. Von einer einst berühmt-berüchtigten U-Boot-Station – Österreich-Ungarn und Deutschland benutzten ihn im Ersten Weltkrieg als zentralen Flottenstützpunkt – verkam er nach und nach zur Industriebrache. 2004 war der Tiefpunkt erreicht. Doch dann stieg eine Gruppe internationaler Investoren ein – mit mehreren Hundert Millionen Euro und einer kühnen Vision namens Porto Montenegro.
Die Idee: anstelle des ehemaligen Arsenals eine »Stadt in der Stadt« zu errichten, ein Monaco Dalmatiens, mit einer exklusiven Marina für bis zu 630 Yachten, davon alleine 130 Plätze für Superyachten von mehr als 30 Metern Länge. Schon 2009 wurden die ersten Liegeplätze eröffnet, Apartmentgebäude, Einzelhandelsflächen, Infrastruktur und der exklusive Strandclub Purobeach folgten, ein Luxushotel nach Vorbild eines italienischen Palazzo ist im Bau. An die industrielle und kriegerische Historie erinnern längst nur noch ein Museum und ein freistehendes Original-U-Boot.
Tiefe Schlucht
Und was Montenegro da zu bieten hat, soll Schleswig-Holstein bitte einmal versuchen nachzumachen. Die Schlucht des Flusses Tara ist nach dem Grand Canyon die zweittiefste der Welt – und mindestens zweimal so herzzerreißend schön. Der dank Kalk- und Mineralgestein durchgängig türkis- bis smaragdfarbene Fluss, ein wahres Paradies für Rafting-Fans, windet sich gen Norden in immer irrwitzigeren Volten durch eine als Unesco-Weltnaturerbe anerkannte Landschaft, die die wenigen Einheimischen nicht ohne Grund als »brutal« bezeichnen.
Zahlreiche von Montenegros 48 Zweitausendern ragen an den Ufern der Tara ehrfurchtgebietend gen Himmel; wer auch immer in der Geschichte diesem kargen Land ein auskömmliches Leben abgewinnen wollte, dem blieb nebenbei kaum noch Zeit zum Atmen. Hin und wieder taucht ein Kloster hinter einer Kurve auf, das serbisch-orthodoxe Morača etwa, mit seiner einmaligen Ikonensammlung und Fragmenten von Fresken aus dem 13. Jahrhundert.
Die mit 198 Metern höchste Eisenbahnbrücke Europas, an der Strecke Bar–Belgrad gelegen, quält sich an den majestätischen Hängen entlang. Straßen sind nur in Form endloser, sich langsam bergan hievender Spitzkehren möglich. Wasserfälle stürzen sich immer wieder meterweit in die Tiefe.
Besucher betört Montenegro mit einem Grün, so weit das Auge reicht
Und doch ist das Land grün, und zwar in allen Schattierungen, die das Farbspektrum hergibt: So gilt der Nationalpark Biogradska Gora, einer der ältesten der Welt, als einer der drei letzten Urwälder Europas. Hier lässt es sich durch Unterholz voller Bärlauch stapfen, so weit das Auge reicht, lind und lichtdurchflutet sind die Wälder.
Sechs unberührte Bergseen liegen still wie Spiegel zwischen den Bäumen verborgen, und man munkelt von Wölfen und Bären, die jedoch kaum jemand je zu Gesicht bekommen hat. Und wer sich tatsächlich weitere 500 Meter die Hänge hochquält, an Enzian und wilden Orchideen vorbei, der trifft auch Ende Mai noch festgebackenen Schnee an – und findet sich in Katun Goleš wieder, einer Ansammlung von elf kleinen Almhütten, die im Sommer bewirtschaftet werden. Einst dienten die vielen, über die Almen gesprenkelten »Katuns« Schafhirten als Sommerunterkunft, heute Wanderern als Übernachtungsmöglichkeit. Ganz im Sinne des Öko-Tourismus, den das Land sich auf die Fahnen geschrieben hat, werden viele von ihnen mit Solaranlagen betrieben.
Wo Montenegro in Montenegro wirklich noch ein Geheimtipp ist
6000 Kilometer Wander- und Radwege hält die ungezähmt wilde Bergwelt Montenegros bereit, etwa die Hälfte davon sind bereits vorbildlich markiert und ausgeschildert. Highlight schlechthin ist der Weitwanderweg Transversale, der sich auf seinen 160 Kilometern von Kamm zu Kamm hangelt, mehrere Nationalparks verbindet und nur zwei mögliche Abstiege aus der Höhe von 1500 bis 2000 Metern beinhaltet. Angelegt ist die Transversale als achttägige Tour. Hier oben, im kargen und doch so wunderschönen Hochland, ist Montenegro vielleicht tatsächlich Europas letzter Geheimtipp, zumindest was Wander-, Trekking- und Radtouren angeht.
So haben beispielsweise noch nicht viele Touristen entdeckt, dass der Wintersportort Kolašin mit dem edlen Bianca-Hotel (nicht von der Außenoptik irritieren lassen – dann erinnert das Haus an eine Skisprungschanze und steht zu allem Überfluss auch noch direkt neben dem vielleicht hässlichsten sozialistischen Bau der Welt, dem Rathaus, das aussieht wie ein abgestürztes und mit Beton übergossenes Ufo) auch im Sommer ein idealer Ausgangspunkt ist, um das Umland zu erkunden. Eine verborgene Perle ist etwa der botanische Garten am Rande Kolašins, der nur ein zu einem Wohnhaus gehörender Garten ist, aber dennoch rund 400 Pflanzenarten aus der Bergwelt der Region beinhaltet. Der Bergwanderer, Botaniker und Buchautor Daniel Vincek führt auch im hohen Alter noch mit leuchtenden Augen durch das von ihm geschaffene Kleinod. Nur das nach ihm selbst benannte, da von ihm entdeckte Pflänzchen übersieht der bescheidene »Kräuterkönig« Montenegros dabei gerne.
Der Nationalpark Durmitor kommt düster und morbide daher
Ein anderer Nationalpark wiederum, benannt nach dem Gebirgsmassiv Durmitor, 80 Kilometer nordwestlich gelegen, ist das farbliche Gegenstück zu Biogradska Gora: düsterer und morbider kommt er daher, wegen der Nadelhölzer, geheimnisvoller, alpiner. Auch Durmitor mit seinen 16 Gletscherseen, »Bergaugen« genannt, ist Weltnaturerbe: Die Schluchten von insgesamt fünf Flüssen finden sich auf seinen 39000 Hektar.
Ein weiteres Puzzlestück, um das facettenreiche Bild Montenegros zu vervollständigen, verbirgt sich im äußersten Süden an der Grenze zu Albanien. Die Hafenstadt Bar ist so etwas wie das Eingangstor zum Skadarsee, dem größten Süßwassersee des Balkans. In Bar gibt es eine Altstadt zu besichtigen, die den Namen verdient wie keine zweite: Nach dem Erdbeben 1979 wurden die Ruinen sich selbst überlassen und die Stadt einige Kilometer weiter an der Küste komplett neu aufgebaut.
Und so wurde Alt-Bar zu einer Art Freilichtmuseum, in Teilen restauriert, in Teilen, wie etwa das alte Kastell, völlig verfallen. Als Kulisse für Mittelalterepen drängt es sich ebenso auf wie der nahegelegene und angeblich älteste lebende Olivenbaum der Welt; 2000 Jahre soll er auf dem Buckel haben. Neben Oliven ist die Region auch für die Vranac-Trauben berühmt, eine autochthone Rebsorte, die kräftige und international gerühmte Rotweine ergibt.
Und der Skadarsee, auch Skutari genannt? Er vervollständigt das Puzzle. Das Gewässer ist ein gutes Stück kleiner als der Bodensee, doch im Gegensatz zu diesem weitgehend sich selbst überlassen, weder Strandtouristen noch Wassersportler stören die Idylle.
Europas größtes Vogelschutzgebiet
Wer Glück hat, erhascht in Europas größtem Vogelschutzgebiet – 270 Arten wurden hier bisher gezählt, nebst 40 Fischsorten – sogar einen seltenen Blick auf einen Pelikan. Denn gelegentlich tummelt Europas nördlichste Kolonie sich beispielsweise auf der winzigen ehemaligen Gefängnisinsel Grmožur, die ebenso zur Folklore des Sees zählt wie die Schmugglerromantik rund um die albanische Grenze. Apropos Bootstour: Vom Dörfchen Virpazar ist ein Abstecher zum Restaurant Pješačac dringend zu empfehlen. Durch Schilfrohr, Seerosen und dann durch absolute Stille auf der spiegelglatten Wasseroberfläche dauert es eine gute halbe Stunde mit dem Motorboot, die sich mit dem selbst gebrannten Traubenschnaps Loza wunderbar versüßen lässt. Und dann: Völlerei. Karpfen und Ukeleien aus dem See, Kartoffeln, Ziegenkäse, Lammkeule, Brot, Wein, dazu spielt eine Kapelle Weisen vom melancholischen Volkslied bis zum Lambada. Den Mund abputzen, die Sonne genießen, zurücklehnen, tanzen, und Prost: Montenegro eben. So lässt es sich leben.
Anreise. Montenegro Airlines fliegt täglich von Frankfurt a. M. nach Podgorica und zurück.
Buchungen. In Budva für Pakete (Flug, Hotel, Transfers): Neckermann Reisen. In Kolašin: Bianca Resort & Spa.
Touren. Alfa Tours, Touren circa € 40.
Info. Montenegro Tourismusbüro