Manchmal wirkt sie wie ein ungehobelter Haudegen, ab und zu wie ein ausgelassenes Blumenmädchen und zuweilen wie ein weltgewandter Gourmet. Die Normandie ist ein Traumort erzählt sie doch ereignisreiche und einzigartige normmanische Märchen. 

Wollige Schafe dienen als weiße Farbtupfer zwischen dem saftigen Grün der endlos weiten Weiden. Sie grasen in stiller Eintracht, scheinbar zufrieden, was die Landschaft ihnen als Mahl kredenzt. Nur das leise Rauschen des Windes begleitet das monotone grasende Geräusch der Schafe und Lämmer. In der Ferne erhebt sich – mitten im Watt – eine Art robustes Märchenschloss, das dieselbe Farbe trägt wie der es umgebende Wattschlamm. Nähert man sich dem festungsähnlichen Gebilde, zeigt das Märchenschloss sein wahres Gesicht: Eine komplett bebaute Felseninsel, die bei Flut das Meer umspült, und auf deren Spitze eine Kirche thront.

Mont Saint Michel in der Normandie vom Meer umspült

Gautier Salles

Eine außergewöhnliche Insel in der Normandie

Der Mont Saint Michel ist wohl das bekannteste Touristenziel der Normandie. Die erste Kirche auf dem Dach der Insel wurde im 8. Jahrhundert errichet. Als die raubeinigen Wikinger aus Dänemark zwei Jahrhunderte später die französische Region plünderten, hielt das kleine Inselchen erfolgreich dagegen. Mitte des 10. Jahrhunderts gründete dann eine Gruppe von Benediktinermönchen dort das Kloster, in dem noch heute Mönche des Benediktinerordens leben. Im selben Jahrhundert kam es noch zu einer weiteren sehr bedeutenden Gründung: die der Normandie vor 1.110 Jahren. Und deren Geschichte ist ebenso bewegt wie Ebbe und Flut.

Kirche von Mont Saint Michel

Thomas Evraert

Dabei zeigt sie sich – auch heute noch – in unterschiedlichen Gewändern. Manchmal wirkt die Normandie wie ein ungehobelter Haudegen, ab und zu wie ein ausgelassenes Blumenmädchen und zuweilen wie ein weltgewandter Gourmet. Die französische Region und ihre 3,5 Millionen Einwohner sind aber stets eine Reise wert.

Die raubeinigen Wikingern waren es!

Die Vergangenheit ruhen lassen? Stürmisch und kriegerisch war sie zweifelsohne, aber die Normannen haben ein entspanntes Verhältnis zu ihrer Geschichte.

»Die Normandie ist wie ein Apfelbaum, die Wurzeln fest in der Erde, die Stirn dem Meer zugewandt«,

wie der bekannte französischer Schriftsteller und Journalist Guy de Maupassant schrieb. Und die normannischen Episoden sind wahrlich einzigartig und ereignisreich – und äußerst hörenswert.

Alles begann mit den Nordmännern. Die raubeinigen Wikinger aus Dänemark betraten im 10. Jahrhundert normannischen Boden, mordeten und plünderten, was ihnen in die Quere kam. Besonders begehrt bei den ungehobelten Haudegen: die reichen Kirchen und Klöster. Die Raubzüge endeten mit dem Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte im Jahre 911 zwischen Karl dem Einfältigen und dem Wikingeranführer Rollo. Dieser besagte, dass fortan Normannenherzog Rollo über das Gebiet an der Seinemündung herrschen solle. Das Herzogtum Normandie ward gegründet, und die unkultivierten Normannen wurden zu vorbildlichen Bürgern: Sie wurden sesshaft, lernten Französisch und traten zum Christentum über. Die Wogen waren zunächst geglättet.

Eine denkwürdige Nacht in der Normandie

Dagegen schlagen die Wellen am Omaha Beach hoch. Mit voller Wucht knallen sie auf den Strand, ziehen sich wieder zurück und hinterlassen auf dem gelblichen Sand weiße schaumige Ränder. Tief und grau hängen die Wolken wie ein Trauerflor über dem Meer. Zwischen den Dünen hocken kleine Steinhäuser, deren Fensterläden teils geschlossen sind. Die Gräser auf den Dünen schunkeln unkontrolliert von rechts nach links. Ob das Meer vor 77 Jahren auch getobt hat? Auf den Dünen stehend, fallen die Ruinen von Bunkeranlagen ins Auge, die vereinzelt aus dem Sand lugen wie unförmige riesige, schwarzgraue Klötze.

Den stummen moosüberwucherten Zeugen des Zweiten Weltkrieges begegne Strandspaziergänger an diesem Teil der Küste, an den sogenannten Plages du Débarquement zwischen Cherbourg und Le Havre, häufig. Die Strände tragen Namen wie Omaha, Utah, Gold, Juno und Sword Beach.

Golden Beach in der Normandie

Edvard Alexander Rolvaag

Wie unheimlich muss es ausgesehen haben, als in der Nacht zum 6. Juni 1944 plötzlich an diesem ellenlangen Strand Tausende dunkler Gestalten aus dem Meer den Strand fluteten. Mit der Landung der britischen und amerikanischen Truppen an fünf Stränden der Normandie begann die deutsche Niederlage während des Zweiten Weltkriegs im Westen.

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Eine Erinnerungsstätte, die am Tag herrlich belebt ist

Friedhöfe, wie jener am Omaha Beach in Colleville, erinnern an die vielen Soldaten, die ihr Leben dafür gelassen haben, Frankreich und Europa aus der Naziherrschaft zu befreien. Die blütenweißen Kreuze stehen säuberlich aufgereiht wie Soldaten zum Appell dem Meer zugewandt in Reih und Glied. Neben dem amerikanischen Soldatenfriedhof finden Normandie-Besucher weitere Gedenkstätten: ein Museum und ein Monument. Der Omaha Beach ist eine Erinnerungsstätte, eine Art Freilichtmuseum, das sich an sonnigen Tagen mit Leben füllt – Hunde tollen am Strand, Kinder bauen Sandschlösser, und Strandsegler flitzen parallel zum Wasser über den Omaha Beach.

Omaha Beach

Jonas Denil

Eine einzige gigantische Grünanlage

Auch wenn die Normandie rund 600 Kilometer Küste bietet mit traumhaften Sandstränden, steilen Klippen und gigantischen Steilküsten wie die »Falaise d’Aval« am Küstenort Étretat, sollte man nicht verpassen, auch das Hinterland zu erkunden, denn dort zeigt sich die Normandie als unendlich fröhliches Blumenmädchen, das spannende Geschichten im Repertoire hat.

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Herrlich gestaltete Gärten und Parks, üppige Weiden, auf denen weiß-schwarz gescheckte Milchkühe weiden, verträumte Dörfer mit den so typischen reetgedeckten Dächern, verziert mit Weißdornhecken und Kamelienbüschen. Idyllisch gelegene Herrenhäuser in normannischem Fachwerk, anmutige Schlösser und mächtige Burgen, Ruinen von Klöstern und gewaltige Kathedralen. Eine Landschaft, die grüner, üppiger, rauer und ursprünglicher kaum sein kann – eben eine einzige gigantische Grünanlage.

Nur getoppt durch die prachtvollen Parks und Gärten der zahllosen Schlösser und großen herrschaftlichen Anwesen. Von ihnen ließen sich zahlreiche Episoden erzählen, aber der wohl bekannteste Garten ist jener von Claude Monet in Giverny, einem kleinen Örtchen im Seinetal zwischen Paris und Rouen. In dem Haus mit dem großen Garten, das direkt an der Straße liegt, lebte der bekannte Maler über 40 Jahre, bis er 1926 im Alter von 86 Jahren hier starb.

Wenn der Blick aus dem Schlafzimmer um die Welt geht

Jeder Morgen, wenn Claude Monet aufstand und aus seinem Schlafzimmerfenster nach dem Wetter schaute, blickte er auf die Blütenpracht in seinem Garten und die dunkle Blutbuche am Seerosenteich. Dieser bekannte, in Bild gefasste Ausblick erlangte Weltruhm. Sein feudaler Garten und auch die landschaftliche Pracht der Normandie lieferten ihm unzählige weltberühmte Motive, wie die Wiesen mit den knallroten Kornblumen, an denen er sich nicht sattzeichnen konnte. Oder die mit Heu abgedeckte Getreideschober, die ihm bei einem Spaziergang über benachbarte Felder aufgefallen waren, und er unzählige Mal in Acryl festgehalten hat.

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Bald beginnt die Apfelblüte. Dann erblühen rund neun Millionen Apfelbäume im weißen Schimmer. Eine Zeit, in der sich die normannische Region noch üppiger und blühender offenbart. Wer die Normandie bereist, kommt nicht umhin, auch das Kapitel über den gewieften Gourmet aufzuschlagen.

Für Nachtisch ist immer Platz

Die vielen Äpfel veredeln die Bauern vor allem zu: Calvados und Cidre. Aber auch Crêpes, Crevetten und Camembert gehören unbedingt auf die Gourmetliste. Alles Käse?

»Ein Dessert ohne Käse ist wie eine Schöne, der ein Auge fehlt«,

schrieb der Schriftsteller und Feinschmecker Brillant-Savarin in seiner Physiologie des Geschmacks. Ob Neufchâtel oder der Camembert de Normandie – es lohnt sich, beim Hauptgericht etwas Platz für die Nachspeise zu lassen.

Auch wenn Lammrücken, -filet oder -keule neben Meeresfrüchten zweifelsohne zu den Highlights der Region zählen. Das Fleisch der Schafe und Lämmer schätzen die Normannen und Touristen wegen der salzhaltigen Luft und der nahrhaften Gräser besonders hoch. Doch um es im Märchenjargon auszudrücken: Wenn die Schafe und Lämmer Glück haben, dann grasen sie in stiller Eintracht glücklich und zufrieden bis zu ihrem Lebensende vor dem Mont Saint Michel.

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Wohnen. Ehemaliges Stadtpalais im Herzen von Rouen: Hotel de Bourgtheroulde. Ein Schloss mit 29 luxuriösen Zimmern: La Chenevière Hôtel in Port-en-Bessin.

Landungsstrände der Allierten. Auf dem Gelände des amerikanischen Soldatenfriedhofs am Omaha Beach befindet sich auch ein Besucherzentrum, mit Infos über die Invasion der Alliierten. Auch das Musée Mémorial d’Omaha in Saint-Laurent-sur-Mer zeigt Fotos, Filme und persönliche Gegenstände der gelandeten Streitkräfte.

Claude Monet. Sein Wohnhaus in Giverny mit dem großen Garten ist mittlerweile ein Museum, die Fondation Claude Monet. Informationen über alle Parks und Gärten in der Normandie gibt es auf der Seite des Normandie Tourismus.