Es gibt im Nordatlantantik eine wackere Inselkette, die den Wetterkräften trotzt und dabei dennoch jede Menge Lebensfreude versprüht. Die Shetlandinseln züchten nicht äußerst robuste kleine Ponys, sondern wissen auch, wie man Feste feiert, bis die Funken sprühen.
Es ist weit nach Mitternacht. In der Turnhalle der Primary School in Lerwick sind die Löwen los – und zwei Leopardendamen. Auf Rihanna tanzend bändigen die Leoparden die Löwenbande, die außer Rand und Band scheint – auf den zweiten Blick entpuppen sich alle Beteiligten dann als verkleidete Männer. Die Schaulustigen grölen und klatschen vor Freude.
Kaum haben sich die Löwen- und Leopardenmenschen getrollt, fliegt Flybe in die Turnhalle ein. Ebenfalls in menschlicher Form. Die britische Fluglinie kommt bei der Performance schlecht weg und wird wegen ihrer dauernden Verspätungen aufs Korn genommen. Apropos, Korn: Zeit für einen Drink. Die Umkleidekabine ist der »Alkoholraum«. Nur hier dürfen die Feierwütigen Alkohol zu sich nehmen, den sie selbst in rauen Mengen dorthin geschleppt haben. So nippt die knapp bekleidete Jugend einträchtig neben grauhaarigen Anwesenden an ihren Plastikbechern. Fast könnte man meinen, man befinde sich mitten in einem abstrusen Traum.
Aber es ist Realität. Ich stehe tatsächlich in dieser Turnhalle in Lerwick, der Hauptstadt der Shetlandinseln, und feiere mit den Einheimischen. Ich muss zugeben, ich bin etwas erschöpft. Der Tag hat seine Spuren hinterlassen. Party like a Shetländer? Eine Herausforderung.
Wie alles begann
Heute früh war ich bereits um acht Uhr aufgebrochen. Bewaffnet mit einem Schirm und einer Regenjacke. Der Schirm brach auf der kurzen Strecke zwischen Hotel und Auto. Da der Regen eh von allen Seiten zu kommen schien, war es kein großer Verlust. »Die Windstärke erkennen wir nur daran, wie viel Kraft wir brauchen, um die Haus- oder die Autotür aufzubekommen. Bäume und Büsche wachsen hier nicht«, erklärte Robina Barton mir lachend. Die Enddreißigerin hat in das Inselreich eingeheiratet, lebt seit zehn Jahren in Lerwick und zeigt Touristen wie mir die Shetlandinseln.
Zum Inselreich gehören rund 100 mal mehr, mal weniger große Inseln, die sich 180 Kilometer vom schottischen Festland wacker im Nordatlantik den Gegebenheiten anpassen und von denen gerade einmal 16 bewohnt sind.
Die Hauptinsel heisst Hauptinsel – so einfach ist das
Das Robina parkt das Auto im Zentrum Lerwicks, das mit rund 6.950 Einwohnern die größte Stadt und Verwaltungssitz der Shetlandinseln ist. Ich muss mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Autotür stemmen, um sie aufzubekommen und wäre am liebsten sofort wieder hineingekrochen so ungemütlich schlägt mir das Wetter entgegen.
Lerwick liegt auf Mainland, der Hauptinsel. Sie schlicht und ergreifend »Mainland« zu nennen, offenbart viel vom Charakter der Einwohner: Die Shetländer sind herrlich direkt und unkompliziert. Und trotzen fast tagtäglich einem böigen Wind, der stets zornig an ihren Dächern, Fenstern und Türen rüttelt, als habe man ihn ausgesperrt. Der Regen scheint nie senkrecht, sondern stets waagerecht herunterzuprasseln. Doch trotz dieser Wetterkapriolen sind die Straßen von Lerwick an diesem Morgen sehr gut gefüllt.
»Für viele ist heute der wichtigste Tag im Jahr. Wichtiger als Silvester oder Weihnachten«,
weiß Robina. Das Up Helly Aa Festival ist der Tag der Tage im Inselreich. Es ist der Tag, an dem die Einwohner eine Mischung zwischen Karneval und Sankt Martin feiern.
Ein Tag der Brauchtumspflege, der alljährlich am letzten Dienstag im Januar begangen wird und an die skandinavischen Wurzeln erinnern soll. Denn einst waren hier die Wikinger zu Hause. Im 15. Jahrhundert trat dann aber Christian I., König von Norwegen und Dänemark, die Inseln als Mitgift für seine Tochter Margaret an James III., König von Schottland, ab. Sonst wären die Shetlandinseln vielleicht noch heute skandinavisch.
Burning love und eine Horde wilder Wikinger
Heutzutage ist das Up Helly Aa vor allem eine Megaparty, an der 5.000 Menschen teilnehmen und die die Hauptstadt in Ausnahmezustand versetzt. »Wir läuten mit dem Festival die Mitte des Winters, also der dunklen Monate ein«, erklärt Robina, wird aber unterbrochen von lautem Gebrüll: Eine Horde bärtiger Wikinger, die zwischen der Menge Wartender entlangmarschieren, nähert sich – allen voran der »Guizer Jarl«, der Häuptling.
Ein Bär von einem Mann mit einem wirklich beeindruckend üppigen Bart, in dem ein kleines Vogelnest nicht weiter auffallen würde. Auf seiner Mähne thront ein Helm mit Rabenflügeln. Seine Garde trägt erdfarbene Helme, Umhänge aus Schafsfell, Kettenhemden, grobe Lederstiefel und Schutzschilder.
Sie singen lauthals ein Lied namens »Burning Love«. Moment, ist das nicht Elvis? Eine Horde wilder Kerle entsprungen aus einem anderen Jahrhundert und der King of Rock ′n′ Roll? Rock ′n′ Roll war schließlich auch wild und ungezügelt.
»Schlägereien und Massenbesäufnisse – das waren der Beginn des Up Helly Aa im Jahr 1840«,
schreit Robina gegen Wind, Männergebrüll und vorbeiziehende Dudelsack-Kapelle an. Zu Beginn hätten Horden Betrunkener brennende Teerfässer durch die Straßen gerollt. »Eine brandgefährliche Sache«, ruft sie. Deswegen sei der Brauch im Jahr 1870 abgeschafft worden und mehr und mehr das Up Helly Aa ins Leben gerufen worden, wie es heute gefeiert wird. Robina winkt ab. Die Geschichtsstunde setzen wir später im Warmen und Trockenen fort. In der Ferne sehen wir den Mast einer beeindruckend großen Galeere auf uns zukommen, an der das Festkomitee ein Jahr lang gezimmert hat. Wikinger im Grundschulalter werden in ihr chauffiert. Fast möchte man loslaufen und sie in warme Decken hüllen, so blau angelaufen bibbern ihre Lippen.
Ponyhof? Nicht auf den Shetlandinseln!
Das Leben als Wikinger ist eben kein Ponyhof. Ich brauche Stunden, um später im Shetland-Museum wieder aufzutauen. Ganz anders der Häuptling. Nicht nur sein Helm verleiht ihm Flügel, sondern wohl auch die Ehre und das Adrenalin. Es ist die Rolle seines Lebens.
»Lyall Gair, der diesjährige Guizar Jarl hat 15 Jahre auf diesen Tag hingearbeitet«,
erklärt mir Robina. Häuptling könne nur der werden, der mindestens so lange Zeit Mitglied im Organisationskomitee sei. Mittlerweile sind auch die Wikinger im Museum für eine kurze Stippvisite angekommen. »Es ist diese unglaubliche Stimmung und der Spirit des Volkes, die mich heute durch den Tag bringen werden«, sagt Lyall Gair. »Das und ein weiterer Drink«, lacht er im Vorbeigehen.
Doch dem Guizar Jarl bleibt nicht viel Zeit zur Konversation. Die Leute toben, als die 58 Mann starke Garde und der Häuptling »I’m on my way« zum Besten geben. Ein Lied, das mir noch wochenlang im Ohr bleiben wird und im Original von der schottischen Folk-Band The Proclaimers gesungen wird. Kaum ist die letzte Silbe verklungen, gibt es kein Halten mehr. Die Zuschauer drängeln sich zwischen die Wikinger und werfen sich in Pose für diverse Selfies. »Sich einen Tag lang wie George Clooney fühlen? Gibt Schlimmeres«, grinst Michael Johnson, Mitglied der Garde, mit einem so wilden Bart, als habe er heut früh in die Steckdose gefasst.
Wenn die Augen und die Galeere brennen …
Doch der Höhepunkt des Up Helly Aa ist zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreicht. Wir treffen uns alle am Abend wieder. Draußen in der Dunkelheit rund um den Jubilee-Flower-Garden-Platz mitten in Lerwick. Der Wind tobt und peitscht die Regentropfen kreuz und quer, als habe er endgültig die Nase voll. Die Luft ist petrolgetränkt. Meine Augen tränen schlimmer als beim Zwiebelschneiden.
Zu den Regentropfen gesellen sich Abertausende Funken, die mit dem Wind Fangen spielen. Ein nicht abreißen wollender Fackelzug von rund 1.000 zum Teil ulkig verkleideten Einheimischen – allen voran der Wikinger-Tross – umkreisen die Galeere, während sie mit tiefen Bassstimmen das Volkslied »The Norseman’s Home« singen.
Inmitten des Gänsehautspektakels steht mit stolz geschwellter Brust und einem Grinsen, das bis zum schottischen Festland reicht, der Häuptling im flackernden Licht. In welchem Jahr befinde ich mich? 2017? Oder eher in einem früheren Jahrhundert? Ich vergesse alles um mich herum: den Regen, dem Funkenregen auszuweichen (zum Glück ist nichts mehr an mir trocken), meine Füße, die Eisklumpen gleichen, meine brennenden Augen – und schaue gebannt zu, während die Galeere in Flammen aufgeht.
Das Festival, von Einwohnern für Einwohner, das seinesgleichen sucht, hat seinen Showdown erreicht. Und hat das raue Wikingerleben von damals in die Neuzeit katapultiert. Damals, als die Einheimischen noch keine wetterfeste und windabweisende Kleidung trugen und sich wahrscheinlich nicht danach in einer der zwölf Hallen trafen, um verkleidet bis zum Morgengrauen den Nationalfeiertag zu begießen – ganz nach dem Motto
»Was in der Turnhalle passiert, bleibt besser in der Turnhalle«.
Bis zum Morgengrauen mit den Feierwütigen mitzuhalten, schaffe ich nicht annähernd. Kein Wunder, dass nur Personen, die seit fünf Jahren im Land leben, an der Prozession teilnehmen dürfen. Shetländer – robust, ein klein wenig verrückt und ausdauernd – sein, muss gelernt sein.
Inselhopping bis nach Unst, der Insel der Superlative
Wie das Land, so die Einheimischen? Die nächsten beiden Tage bekomme ich einen kleinen Einblick und lerne das Land, oder besser gesagt die Inseln kennen, die ebenso robust wie idyllisch scheinen. Wo gelandete Touristen zunächst einmal mit dem Auto die Landebahn queren müssen, um vom Flughafen Sumburgh Richtung Stadt zu fahren. Wo Shetland-Ponydamen namens Penny, stolze 29 Jahre alt, in aller Seelenruhe mit allen vier Hufen im Schlamm stehen, Heu kauen, dem eisigen Wind trotzen, als wäre das Leben hier doch ein Ponyhof.
Mein Ziel: Unst. Die nördlichste der Shetlandinseln. Von Nordmainland geht es in 20 Minuten mit der Fähre nach Yell, wo mich Les Sinclair abholt. Der Comedian, Lehrer und Guide lebt auf Unst, der Insel der Superlative mit der nördlichsten Postfiliale, dem nördlichsten Hotel, der nördlichsten Bushaltestelle, dem nördlichsten Pub, der nördlichsten Brauerei und Gin-Destillerie Großbritanniens.
Roter Schimmer über Yell
»Les, wie lange brauchen wir bis zur nächsten Fähre nach Unst«,frage ich den Endfünfziger. In 25 Minuten hätten wir die Insel überquert. Karg und gespenstisch ruhig ist es auf Yell. Wir fahren über Straßen, die bei uns als Radwege gekennzeichnet wären. Stets so vor- ausschauend, dass wir in die schmalen Haltebuchten ausweichen können, wenn uns ein Auto entgegenkommt. Da dies auf der Strecke genau einmal der Fall ist, kann ich den Blick schweifen lassen. Ab und an ducken sich graue Häuseransammlungen in die Landschaft, zusammengedrängt wie eine Schafherde bei Gewitter. Das Heidekraut scheint hier wie Unkraut zu wachsen und überzieht die Insel mit einem rötlichen Schimmer.
»Yell ist zu zwei Dritteln von einer durchschnittlich anderthalb Meter dicken Torfschicht bedeckt«,
erklärt mir Les. Abbau und das Verheizen von Torf seien aber mittlerweile fast eingestellt. Öl, Schafzucht, Wolle und Fischerei – das bringe den Shetlandinseln den Wohlstand.
1.000 Bewohner leben auf der zweitgrößten Insel. Es gibt ein Diner, drei Grundschulen, eine weiterführende Schule und einen Shop sowie ein paar Bed and Breakfasts. Und die Touristen? Die lieben Yell für die Natur, die Otter, die hier zuhauf herumlaufen, und das Vogelsreservat, sagt Les.
Mehr Wind ist nicht zu händeln
Fünf Windräder stehen auf der einzigen Anhöhe der Insel und drehen sich fl eißig. Auf meine naive Frage, warum es bei dem Wind nur fünf sind, lacht Les nur. Mehr Energie könnten sie hier nun wirklich nicht händeln.
»Der Wind, das ist hier auf den abgelegenen Inseln die größte Herausforderung«,
fügt er hinzu. Er legt nicht selten alles lahm. Ist unplanbar. Macht, dass die Einwohner festsitzen, weil der Fährbetrieb eingestellt wird. Und dass die Kinder nicht zur Schule können. Mittlerweile haben wir die Ablegestelle nach Unst erreicht. Wie um Les Worte zu unterstreichen, rüttelt der Wind so stark am Auto, dass mir lieb wäre, die Fähre würde nicht fahren. Ein Seehund streckt seinen Kopf aus dem Wasser wie eine neugierige Nachbarin. »Nichts bleibt hier unbemerkt«, lacht Les, »wer anonym leben möchte, muss nach Lerwick ziehen.«
Die Überfahrt ist dann wie erwartet abenteuerlich. Jedenfalls meinem Empfinden nach. Eine riesige Bugwelle ergießt sich über das Auto. Ich sehe uns schon im Nordatlantik versinken, als meine panischen Gedanken vom Fährangestellten unterbrochen werden, der von Auto zu Auto wandert und die Tickets kontrolliert. Auf der Fähre von Mainland nach Yell war kein Fährangestellter weit und breit zu sehen. Ich habe keines. »Glück für dich«, lautet seine entspannte Antwort. Zwinkernd fügt er noch hinzu: »Du bist doch unsichtbar, oder nicht?« Ich mag sie, die unkomplizierte, humorvolle Art der Shetländer.
Die nördlichste Bushaltestelle Grossbritanniens
Unst – rund 20 Kilometer lang und 9,5 Kilometer breit, mit 630 Einwohnern, Zahl abnehmend. Das Mutterland der Shetlandponys, wie Les erklärt, als wir an einem der »Vorsicht, Pony«-Schildern vorbeifahren. Man wähnt sich ein bisschen am Ende der Welt. Und ist es irgendwie auch. Jedenfalls am Ende von Großbritannien. Danach ist Schluss.
Unst ist hübscher als Yell. Hügeliger, wenn auch ebenso karg. Im Sommer können Touristen hier Papageientauchern begegnen und Walen mit dem Kanu hinterherpaddeln. An der bekanntesten Sehenswürdigkeit auf Unst machen sie alle Halt: Bobby’s Bus Shelter, die nördlichste Bushaltestelle Großbritanniens.
Sie genießt Weltruhm und hat sogar eine eigene Homepage. Wartende nehmen auf der Couch Platz und tragen sich ins Gästebuch ein. Eine herrlich verrückte Idee mitten im Nirgendwo. »Les, wir haben vergessen, das Auto abzuschließen«, fällt mir plötzlich ein. Les lacht nur.
»Wohin soll man denn hier fliehen?«
Das Leben ein Ponyhof? Auf den Shetlandinseln wahrlich nicht. Aber das muss es für die Einwohner auch gar nicht sein.
Hinkommen, übernachten, feiern
Anreisen. Mit British Airways oder flyBE von mehreren deutschen Flughäfen direkt oder über Aberdeen nach Sumburgh, dem internationalen Flughafen der Shetlandinseln.
Schlafen. Ein wirklicher Geheimtipp ist das von außen recht unspektakulär daherkommende familiengeführte Scalloway Hotel im gleichnamigen Ort. Der kleine Hafenort liegt rund 15 Autominuten von der Hauptstadt Lerwick entfernt. Die 23 Zimmer sind zwar etwas in die Jahre gekommen, aber der plüschig-britische Stil ist dennoch charmant. Grandios ist das Essen. Unbedingt Fisch und Seafood bestellen, das ist gehobener Gaumenschmaus, und auch das Frühstück ist exzellent mit viel Obst wie frischen Beeren. DZ ab € 140 die Nacht inklusive Frühstück.
Feiern. Das Festival UP HELLY AA findet alljährlich am letzten Dienstag im Januar statt. Nächster Termin: 25. Januar 2022.
Infos. Weitere Informationen über die Shetlandinseln gibt es bei Visit Scotland. Du planst eine Reise auf die Shetlandinseln? Lasst euch sich von unserem reisen-EXCLUSIV-Guide inspirieren.
Noch mehr Eindrücke von den fasziniernd rauen Shetlandinseln? Klicke dann durch unsere Bildergalerie »Die Shetlandinseln sind on Fire«.
Up Helly Aaaaaaa – was die Wikinger sonst noch gerne machen und wohin sie gerne reisen? Nach Glasgow!