In Beijing sind es die viel besungenen One Million Bicycles, in Hanoi definitiv die Motorcycles. Das Chaos herrscht jedoch nur auf den ersten Blick, beim zweiten stellt sich ein beinahe harmonisches miteinander ein. Zwischen Streetfood, Hitze und Bierstuben lernt der wissbegierige Reisende auch gleich das vietnamesische ABC. Quasi im Vorbeifahren. Unsere Erfahrung in Hanois Straßenverkehr.
Hochgewachsen, schlaksig, Anfang 20. Dazu orangefarbene Jacke und auf dem Kopf ein leichter Helm in gleicher Farbe, aus dem ein paar rabenschwarze Haare hervorlugen. So steht er vor mir mit breitem Grinsen: Kim, mein Fahrer. Die Jungs von Vespa Adventures haben sich für Hanois Touristen genau das einfallen lassen: eine Tour durch die abendliche Metropole auf dem Roller.

Foto: Andreas Dauerer
Roller, wohin man schaut
Rollenwechsel also. Denn heute morgen habe ich das Treiben unten auf der Straße noch vom 14. Stock meines Hotels aus beobachtet. Der Regen hatte sich gerade zurückgezogen und unzählige Pfützen hinterlassen. Das Thermometer zeigte sportliche 26 Grad mit schnell steigender Tendenz. Was die Hitze nicht automatisch an Wasser wieder aufsog, wurde von den vielen, Hunderten, ja Tausenden Reifen der Mofas, Roller, Motorräder und Autos weiter drangsaliert, bis der Asphalt in wenigen Augenblicken wieder vollständig getrocknet war. Wohin mein Auge auch blickte: Zweiräder. Mit und ohne Motor. Dazwischen Fußgänger, die beinahe lebensmüde die Straße überquerten.
Lebensmüde erscheinen einem die Passanten aber nur am ersten Tag. Am zweiten weißt du bereits, dass in Hanoi alles ein wenig anders funktioniert, vorausgesetzt, man beachtet ein paar Grundregeln im Verkehr. Fußgängersein ist hier nämlich wörtlich zu nehmen. Man geht, muss gehen. Der Verkehr, vor allem die vielen Rollerfahrer, haben das vorausschauende Fahren verinnerlicht. Vielleicht haben sie es aber sogar auch erfunden.

Foto: Andreas Dauerer
Verkehr in Hanoi: Eine Choreografie für sich
Hier wird nur jener Typus Fußgänger Probleme bekommen, der eben nicht geht, sondern vor Aufregung – oder Angst – stehen bleibt. Weil die motorisierten Fahrer nun einmal allesamt völlig zu Recht annehmen, dass man einfach weitergeht. Genau das ist das Kalkül. Sie sind es, die im Zweifel Slalom fahren, nicht der arme Fußgänger.
Alles folgt einer beinahe von höheren Mächten gesteuerten Choreografie, die man so wunderbar aus der Luft beobachten kann. Eine immerfort währende Welle des Verkehrs. Langsam, schneller, selten über 40 Kilometer die Stunde – innerorts, versteht sich. Alles im Fluss. Alles wirkt geregelt und bleibt doch chaotisch – vor allem für die fremden Augen des Reisenden, die sich aber jeden Tag mehr daran gewöhnen.
Nun also wieder Perspektivwechsel. Kim vorne, ich hinten. Er am Lenkrad, ich auf dem Beifahrersitz. Lieber wäre ich vorne, sage ich ihm. Er grinst. Geht nicht, schon allein versicherungstechnisch. Dann zieht er seine schwarze Maske über das Gesicht, die er vielleicht noch von der Pandemie übrig hatte, ihm aber jetzt gute Dienste leistet. Bei den Tausendschaften an Hanois Abgasen, eine sicherlich clevere Entscheidung. Übrigens auch die dass ich nicht vorne sitze. So kann ich genießen.
Eine Stadt, die niemals schläft
Ich muss mich nicht sorgen, doch noch einen zögerlichen Straßengängertouristen zu überfahren, sondern schaue mir eine Stadt von der Straße aus an. Theoretisch Feierabend.
Doch selbst um acht Uhr abends ist noch so viel los, dass München, Berlin oder Hamburg geradewegs zu Provinzstädtchen degradiert werden. Rein verkehrstechnisch, versteht sich.
Die Vespa, auf der wir sitzen, ist vollkommen entkernt, der Tacho längst ausgebaut. Aber sie fährt. Und mit Kim am Steuer kann eigentlich auch nichts schiefgehen, selbst wenn er mir einen heillos überdimensionierten Helm hat angedeihen lassen. Safety first, gewissermaßen. Dann gibt er Gas, und wir fahren durch die bunt glitzernde Nacht.

Foto: Andreas Dauerer
Das französische Erbe zeigt sich besonders kulinarisch
Morgens riecht die Straße nach Croissants und Kaffee in allen Variationen, die einen gewissermaßen an jeder zweiten Straßenecke zum Verweilen einladen. Hier zeigen sich die französischen Reminiszenzen wohl am eindrucksvollsten, sucht man sonst Broterzeugnisse in asiatischen Ländern eher vergebens. Croissants, Baguette, belegte Brötchen bekommt man in Hülle und Fülle und an wirklich jeder Ecke.
Und, das darf hier nicht ungenannt bleiben: Die Backwaren, ob ohne oder mit Belag, schmecken vorzüglich. Der Kaffee im Übrigen ebenso, was für den Koffein-Aficionado wirklich etwas Besonderes sein dürfte. Kalt, warm, mit oder ohne Milch und selbstverständlich auch alle gängigen Abarten davon wehen den Fremden als wohlbekannte Aromen um den Kopf.
Zu Besuch auf dem Giai-Markt
Je nach Umgebung können es aber auch ganz andere Duftmarken sein. Auf dem Giai-Markt, wo jeder Handwerker und Elektroniker seine wahre Freude haben würde, weil es die kleinsten und gleichzeitig größten Schrauben, die längsten Kabel, das beste Schmieröl, das ausgefeilteste Werkzeug, aber auch gleich ganze Motoren zu kaufen gibt, riecht es, wer hätte es gedacht, überwiegend nach Metall und Gummi.

Der Giai-Markt in Hanoi I Foto: Andreas Dauerer
Einen Steinwurf weiter weicht das Metall dem Fleisch- und Fischgeruch und wieder zwei Meter danach riecht es schlicht nach frischem Obst. Alles intensiv. Lebende Tiere, tote Tiere, Fische, die noch nach Luft japsen und doch keine Chance haben. Der Boden ist feucht vom Eis, das gefühlt alle 15 Minuten aufgefüllt werden müsste, damit der Fisch auch kalt bleibt. Je später man als Besucher kommt, desto intensiver die Gerüche.
Ein dunkles Kapitel der Geschichte: Das H6a-La-Gefängnis
Mit Kim bin ich inzwischen auf dem Weg in die engen Gassen der Altstadt und ich schmecke nur den etwas schalen Stadtwind, der noch einmal schaler wird, als wir am Gebäude mit der Aufschrift Maison Centrale vorbeifahren. Ein Relikt aus der ganz dunklen Zeit, das H6a- La-Gefängnis. Diente es Anfang des 20. Jahrhunderts während der französischen Besatzung dazu, vietnamesische Rebellen einzusperren, wurde es während des Vietnamkriegs zum Foltergefängnis für amerikanische Kriegsgefangene.

Das H6a-La-Gefängnis in Hanoi I Foto: Andreas Dauerer
Was die Geschichte eint: Die jeweiligen Machthaber überboten sich geradezu mit gewieften Foltermethoden, um die Menschen darin in jeglicher Form zu brechen. Besucher erfahren viel über die Geschichte Vietnams im jetzigen Museum, aber man sollte sich im Vorfeld schon ein bisschen darauf einstellen, was einen erwartet. Einer der berühmtesten Insassen war ein gewisser John McCain, der ab 1967 für fünfeinhalb Jahre dort Einzelhaft und Folter über sich ergehen lassen musste, deren Auswirkungen ihn sein ganzes Leben begleiten sollten.
Ein Stopp an der Kathedrale St. Joseph und das La Place
Dann geht es entlang des mächtigen Ho-Chi-Minh-Mausoleums inklusive nächtlicher Illumination und weiter Richtung Norden zum Trúc-Bach-See, ehe wir uns im Zickzackkurs wieder gen Süden winden. Erster Stopp: Die Kathedrale St. Joseph und das La Place. Die Luft ist ein wenig biergeschwängert, aber vom Balkon des Restaurants hat man beste Sicht auf die Kathedrale – und ein paar leckere Hühnerfleischspieße, herausgebraten in einer ganz zarten Süßsauersoße, warten darauf, verzehrt zu werden.

Fotos: Andreas Dauerer
Eine sehr willkommene Pause. Das ist wohl auch das Einzigartige an Hanoi: Manchmal scheint die Stadt ein einziger großer Streetfoodverkauf zu sein. Das merkt man wiederum an den Aromen, die einem in die Nase strömen. In Öl herausgebratenes Fleisch, Fisch, Gemüse, dann gegrillt, dazu Reis oder Teigtaschen oder Frühlingsrollen gefüllt mit Fisch, Meeresfrüchten, Fleisch oder, wenn man viel Glück hat, auch mal vegetarisch.
Die Pho: Die Königin unter dem Streetfood
Die Königin unter schnellem Straßenessen: die Pho. Es dürften die wohl berühmtesten drei Buchstaben sein, die einen auf Schritt und Tritt verfolgen werden, wenn sich nach einem langen Tag auch nur annähernd ein Hungergefühl melden sollte. So einfach das Gericht scheint, so unterschiedlich wird es von einer Garküche zur nächsten rezeptiert. Auf den ersten Blick ist es eine Nudelsuppe mit Einlage. Reis, Gemüse, Fleisch, Fisch, Frühlingsrollen, Gewürze. Mal alles auf einmal, mal fehlen ein paar Ingredienzen, die es anderswo wie selbstverständlich noch gegeben hatte. Das Schöne: Die Pho passt immer und man darf sie den ganzen Tag, ja auch in der Nacht, über genießen. Ganz ohne Reue.

Foto: Andreas Dauerer
Fehlt zur Königin natürlich noch der Gemahl, und was könnte besser passen als ein guter alter Bún cha? Kein Geringerer als die abenteuerliebende Kochlegende Anthony Bourdain hat die zweimal drei Buchstaben lange Suppe einem noch berühmteren Mann ans Herz gelegt. Die Rede ist von Barack Obama. Legendär sind die Bilder der beiden aus dem Bun Cha Hương Liên im Hàng-Bài- Viertel. Auf Plastikstühlen sitzend essen sie gemütlich die berühmte Fleischsuppe, deren Rezept selbstredend streng geheim ist. Dazu gibt’s Salatblätter, Fleisch- und Fischeinlage, die separat in den leckeren Fond getunkt werden und im Mund eine wahre Geschmacksexplosion geben.
Auf den Spuren von Obama in Hanoi wandeln
Gleich auf vier Ebenen buhlt das Restaurant um die Gunst der Gäste. Überwiegend Touristen sind es, die jetzt auf Obamas und Bourdains Spuren wandeln wollen, aber bei Weitem nicht nur. Das hat Gründe. Denn der schier grenzenlose Hype hat der Essensqualität keinen Abbruch getan, so viel darf man konstatieren.
Und einmal vor einer Vitrine sitzend die eigene Bun cha schlürfen, während man auf leere Teller und Becher guckt, von denen ein ehemaliger Präsident nebst Fernsehkoch gegessen haben sollen, hat man sicherlich nicht alle Tage.
Fehlt zum Abschluss des Abends eigentlich nur noch ein Kaltgetränk. Das kann man selbstredend an der Train Street zwischen den Straßen Trän Phú und Diên Biên Phu einnehmen und wird zugleich Teil ganz hipper, internationaler Instagrammer oder solcher, die sich dafür halten. Spätestens mit dem Durchfahren des Zugs hat man aber mehrere Kameralinsen auf einmal im Gesicht – und sollte gleichzeitig dabei aufpassen, die Füße einzuziehen. Zugfahrer sind mitunter besonders rigide.

Die berühmte Train Street in Hanoi I Foto: Andreas Dauerer
Die vietnamesische Gastfreundschaft
Oder man geht einfach zurück in Richtung Hotel und guckt, wo noch kleine Plastikstühle draußen stehen. Mal sechs, mal zehn, mal 18. Bia Hoi heißt das lokale Bier, das hier so lange ausgeschenkt wird, bis das Fässchen leer sind. Ein leichtes Bier, sehr bekömmlich, für umgerechnet unter 50 Cent.
Wer sich hier auf unscheinbaren Straßen aber darauf einlässt, sein Bier zu trinken, der wird belohnt. Mit einer Gastfreundschaft sowieso, vor allem aber mit einer Neugier den Fremden gegenüber, die ihresgleichen sucht.
Ins Gespräch kommen mit Händen und Füßen. Vielleicht auch auf Spanisch, wenn das 70-jährige Gegenüber von seiner Zeit auf Kuba erzählt und wie sehr es doch noch einmal dieses Land sehen möchte, ehe es abtritt. Das tut einen Augenblick weh. Dann prostet man sich zu und trinkt.
Der kubanische Vietnamese, dessen Namen ich nie richtig verstanden habe, oder der Mann im Sakko, der gerade seinen Feierabend genießt, oder der Zugführer, Bauarbeiter, Schuhverkäufer. Leute aus dem Viertel, die hier kurz runterkommen. Nicht die schlechteste Idee, um genau hier lokales Flair aufzusaugen. Und wer weiß, vielleicht haben ja auch die Reisenden ein paar Geschichten für die Menschen aus Hanoi im Gepäck. Sie werden es euch danken, so oder so. »Dzô«, rufen die Herrschaften vom Nachbartisch. Na dann prost!

Foto: Andreas Dauerer
Mehr Infos zu einer Reise nach Vietnam
Allgemeine Infos über Vietnam und Hanoi gibt’s beim Fremdenverkehrsamt.
Anreise. Vietnam Airlines bietet täglich einen Flug nonstop von Frankfurt nach Hanoi an.
Hotel. Das Fünf-Sterne-Hotel Grand Mercure Hanoi bietet schöne Suiten in unmittelbarer Nähe des Literaturtempels an. Zum Zentrum sind es etwa 1,5 Kilometer. Die Deluxe-Suite etwa mit rund 75 Quadratmetern ist ab 250 Euro zu haben.
Vespa. Eine geführte Tour bekommt man bei den Mädels und Jungs von Vespa Adventures. Der Preis variiert je nach Tour, ab etwa 70 Euro für eine vierstündige Fahrt.
Reiseveranstalter. Enchanting Travels bietet maßgeschneiderte Reisen weltweit an. Hanoi kann hier natürlich auch im Paket mit weiteren Destinationen in Vietnam oder auch Kambodscha kombiniert werden.

Foto: Andreas Dauerer