Ich mag entlegene Orte, wo kaum ein Mensch hinreisen mag. So war es ein lang gehegter Traum, einmal nach Manitoba, Kanada zu fahren. Genauer gesagt nach Churchill an der Hudson Bay, die Hauptstadt der Eisbären. Und die Stadt wird ihrem Titel gerecht. Schließlich ist Churchill der beste Ort um Eisbären in Kanada zu sehen.

Terry, oh Terry. Mein Leben liegt in deinen Händen. Ob ich Angst habe? Ein wenig. Du sagst zwar, das wäre nicht vonnöten, aber Wikipedia sagt, der Eisbär gehöre zu den größten Raubtieren an Land. Und Terry, vor Raubtieren habe ich Angst. Jetzt stehe ich inmitten der kanadischen Tundra, nur ein paar Meter von einem Polarbären entfernt. Zugegeben, er sieht harmlos aus. Und du hast dein Schrotgewehr geschultert und einen Stein griffbereit in der linken Jackentasche.

Aber reicht das denn, Terry, wenn der puschelige Polarbär vor meinen Augen zum sagenumwobenen Sprint ansetzt? Heißt es nicht, er könnte mindestens 30 Kilometer pro Stunde rennen? Lange hält er das nicht durch. Aber länger als ich. Aber du beruhigst mich und die anderen 20 Schaulustigen, die um uns herum mit ihren Kameras klicken und ihr Glück nicht fassen können.

Eisbären und Menschen begrüßen sich an einem Tundra Buggy in Manitoba

CTC

Ganz nah an der Bärenmutter und ihren Kindern

Ursus maritimus, direkt vor unserer Nase. Hat man ihn doch vor dem geistigen Auge – auf einer Eisscholle liegend – und kein Land in Sicht. Doch hier in der Tundra, die nicht annähernd so schneebedeckt ist, wie sie es um die Jahreszeit sein sollte, und deswegen auch nicht so fotogen, liegt er gemütlich auf Moos oder Flechte. Erst ein Blick zu dir, Terry, du nickst, und dann gehe ich einen Schritt vor. Möchte in der ersten Reihe stehen, für das perfekte Foto.

Terry ist das personifizierte Eisbärenlexikon

Du weißt so viel über die Bären. Wie groß sie werden (im Durchschnitt um 2,3 Meter) und wie schwer sie sind (zwischen 150 und 300 Kilogramm.) Du weißt, was sie fressen, kannst ihre Spuren lesen und ihre Schlafmulden finden. Faszinierend, wie du das machst, für mich sieht das aus wie Schneeverwehungen. Aber du hast ja jahrzehntelange Erfahrung.

Terry, der unerschrockene Eisbären-Guide in Churchill

Jennifer Latuperisa-Andresen

Allein, sagst du, darf ich mich nicht aus meiner Dymond Lake Lodge von Churchill Wild bewegen. Immer musst du mit deinem Gewehr dabei sein. Du holst mich ab und bringst mich hin. Hinter dir verschließe ich die Tür noch einmal mit einem Extrariegel. Vorsicht muss sein. Und dann, als du nicht da warst und ich gedankenverloren am Fenster saß, kam er angetapst. Unbeholfen und naiv – der Eisbär. Er stolperte die Treppen hoch und schnüffelte an der Tür. Mein Adrenalinspiegel stieg. Vor Aufregung habe ich meine Kamera nicht gefunden. Und konnte kein Foto davon machen, wie sich der Eisbär aus der schier unendlich scheinenden Tundra genau mein Fleckchen Veranda aussucht.

Tiere auf Knopfdruck – nein, so läuft das nicht

Leider ist dies kein Tierpark, sagst du immer, und die Tiere (Schneeeule, Polarfuchs und Vielfraß sind hier auch beheimatet) kommen nicht auf Knopfdruck. Aber du findest selbst die zaghaften Spuren der Schneehühner, und ich weiß nicht einmal, wie ein Vielfraß aussieht, bis ich ihn in der Google-Bildersuche finde. Da steht auch, dass ein Vielfraß einen Elch töten kann. Und du hoffst für mich, dass ich mal einen zu sehen bekomme.

spuren von einem Eisbär im Schnee in Manitoba, Kanada

Jennifer Latuperisa-Andresen

Und am nächsten Tag ist es dann tatsächlich so weit. Du fuchtelst wild mit den Armen, ich gucke nach rechts und sehe einen wuscheligen Schwanz zwischen dem niedrigen Geäst verschwinden. Wahnsinnig schnell ist er, so ein Vielfraß oder Wolverine, wie die Kanadier ihn nennen. Plötzlich knackt es unter meinem Schuh, und ein Bein verschwindet im Morast. Knietief. Rauskommen unmöglich. Es ist wie mit der Legende vom Schwarzen Moor. Es zieht einen trotz Gegenwehr nach unten, bis man für immer in der schwarzen Erde versinkt. Ich soll nicht melodramatisch sein, sagst du und buddelst mich aus. Mit nasskaltem Schuh müssen wir zurückwandern.

Es heißt Abschied nehmen von Terry und den Eisbären

Gehe niemals allein, hast du gesagt. Und mal wieder recht behalten. Zum Abschied von der Dymond Lake Lodge kommen noch einmal zwei Eisbären ganz nah heran. Als würden sie sich verabschieden. Es wird nicht dein letzter Eisbär sein, sagst du mir, als ich mit dem Helikopter gen Churchill entschwinde und von dir Abschied nehmen muss. Es dauert noch ein bisschen, bis die Hudson Bay zufriert und die Bären wieder auf Robbenjagd in die Arktis entschwinden können. Churchill – ohne dich.

Dymond Lake Lodge

Jennifer Latuperisa-Andresen

Eine ganz neue Umgebung. 1.000 Einwohner leben in Churchill. Abgeschottet vom Rest der Welt. Es ist die letzte Bastion vor dem 1,23 Millionen Quadratkilometer großen Randmeer Hudson Bay. Wer hierherkommen möchte, muss in das Flugzeug steigen oder den Zug nehmen. Denn Churchills Straßen enden irgendwo im Nirgendwo, höchstwahrscheinlich aber im borealen Nadelwald.

Churchill lebt vom Eisbär-Tourismus

Churchill gilt als Hauptstadt der Eisbären. Und die Gemeinde lebt nicht schlecht vom Tourismus mit den Polarbären. Die Bären, die ihren Sommer hier verbringen, sind gezwungen, hier auszuharren, bis die Bucht gefriert und der Migrationsweg zu ihrer Nahrung, den Robben, wieder frei wird. Getrieben durch den Hunger sowie dank ihres außergewöhnlichen Geruchssinns (Eisbären können Robben über einen Kilometer weit riechen) kommen sie in die Stadt. Und auch hier hattest du mir geraten, niemals allein zu gehen. Schon gar nicht im Dunkeln.

Manche Bären, hattest du erwähnt, werden auch mit einem Sender versehen, um Daten zu sammeln. Denn obwohl sich die Population der Eisbären im letzten Jahrzehnt wieder regeneriert hat (immerhin von 5.000 auf 16.000 Tiere), gehören sie weiterhin zu den gefährdeten Tierarten. Du sagtest, dass Eisbären heute bis zu 50 Kilogramm leichter sind als vor 20 Jahren und auch im Durchschnitt weniger Junge bekommen.

Der Tundra Buggy wirkt von innen wie ein Schulbus

Statt mit dir über Stock und Stein zu laufen, sitze ich jetzt in einem sogenannten Tundra-Buggy. Du hast mir schon davon berichtet, wie dieses Gefährt 1979 praktisch aus einer fixen Idee heraus entstanden ist und heute zahlreiche Touristen durch die Tundra vorbei an den Eisbären in Kanada bugsiert. 40 Menschen haben in dem wohlig beheizten Buggy Platz. Wer jedoch ein kleines Gefährt erwartet, wird überrascht sein, da es sich eher um das Gegenteil handelt. Innen die Atmosphäre eines Schulbusses, von außen optisch eher ein Wohncontainer auf einem Lkw-Fahrgestell. Aber es ist sicher. Denn das Gefährt rollt auch bei minus 50 Grad über die ehemaligen Militärwege Manitobas.

Tundra Buggy

Jennifer Latuperisa-Andresen

Du hattest prophezeit, aus dem Buggy werde ich viele Eisbären sehen. Das Gefühl ist jedoch ein anderes. Distanzierter. Aber es hat den Vorteil, mit dir, Terry, durch die subpolare Flora zu wandern. Zudem bist du ein wandelndes Bärenlexikon. Und ein Lebensretter. Und wer will das im Angesicht des Eisbären schon missen?

Luxus-Eisbär-Safari beim Anbieter Churchill Wild: Manitoba ist der einzige Ort auf der Welt, an dem man organisiert zu den Eisbären wandern kann. Anreise mit dem Buschflugzeug oder Helikopter zu einer der drei abgelegenen Wildnis-Lodges von Churchill Wild, die alle inmitten der Tundra liegen. Buchbar über mehrere Reiseveranstalter in Deutschland.

Fahrplan: Die Anbieter Frontiers North, Lazy Bear Expeditions und Great White Bear Tours bieten Touren mit den kolossalen Fahrzeugen an. Frontiers North hat vor Kurzem den weltweit ersten Tundra-Buggy mit Elektroantrieb auf den Markt gebracht, der ein völlig geräuschloses, unaufdringliches Tourerlebnis bietet. Tundra-Buggy-Touren lassen sich leicht vor Ort buchen.

Tundra Hotel: Frontiers North und Great White Bear bieten eine einzigartige Buggy-Lodge an. Das Gefährt wird in der Tundra geparkt, verfügt über individuelle Schlafkojen und Aussichtsplattformen, über die man rund um die Uhr Eisbären in Kanada beobachten kann. Zudem befinden sich die Lodges an Orten mit der höchsten Eisbärenaktivität. Tagsüber bringen die Tundrafahrzeuge die Gäste auf Tierbeobachtungstouren, bevor sie für die Nacht zu diesen besonderen Unterkünften zurückkehren.

Wissenswert: Biologin und Naturschützerin Alysa McCall berichtet bei einem Ted-Talk von einem Leben mit Polarbären in Churchill.