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Es gibt Dinge, von denen träumen alle. Und es gibt Dinge, von denen träumen vor allem diejenigen, die auf der Nordseite der Alpen wohnen. Die Rede ist von einer Alpenüberquerung. War sie lange Zeit eher den Radlern vorbehalten, kann man sie mittlerweile auch gut zu Fuß bewältigen. Eine Woche lang, ohne jegliche Entbehrungen.

Ein »Mogst no aa Hoibe?« reißt mich aus meiner kurzzeitigen Tagtraumphase. Nicht jäh, eher sanft, spricht es doch eine der Wirtstöchter im feschen Dirndl über den Tresen. Ich bin gerade im Post-Wanderungsmodus an der Hotelbar. Dem Tag ein wenig Zeit geben, vor dem inneren Auge das Erlebte Revue passieren lassen und nebenbei sowohl den Beinen Ruhe gönnen sowie den möglichen Flüssigkeitsverlust ausgleichen. Wobei: So schlimm war die dritte Etappe der Alpenüberquerung jetzt auch nicht, als dass ich mich komplett ausgedörrt – auf allen Vieren – hier nach Pertisau geschleppt hätte. Aber ein bisserl spürt es der gemeine Schreibtischtäter dann ja doch, wenn er auf einmal Stift und Stuhl gegen Stock und Stiefel tauscht und die Bergwelt per pedes erkundet.

Landkarten für die Alpenüberquerung zwischen Deutschland und Österreich

Andreas Dauerer

Start der Alpenüberquerung am Tegernsee

»Freile«, entfährt es mir, ganz im bayrischen Idiom. Gerade, wenn die Müdigkeit ein bisschen über den Körper Überhand zu nehmen droht, dann ist man schnell drin in seiner Muttersprache, die hier jedoch alles andere als ungewöhnlich und schon gar nicht deplatziert wirkt, schließlich ist die Grenze ja ohnehin nur einen Steinwurf entfernt. Schwupps steht es auch schon da, das zweite Radler. Die Limo gegen den Flüssigkeitsverlust und das Helle als anregende Vorfreude auf den noch jungen Abend.

Begonnen hat alles am Tegernsee. Dort nämlich startet die genusswandernde Alpenüberquerung, für die sich gleich vier Tourismusregionen zwischen Oberbayern und Südtirol zusammengetan haben, um eine moderate Wanderungsmöglichkeit aus einer Hand über die Alpen zu erschaffen. Natürlich gab es die Wegerl an Seen und Bergen quasi schon immer, aber nun werden sie gemeinsam unter einem Dach vermarktet und instand gehalten.

Bootsfahrt über den Tegernsee in Bayern an einem sonnigen Tag

Andreas Dauerer

Flexible Routenplanung

Ausbaldowert hat die Route Georg Pawlata, Endvierziger, studierter Geologe, Alpenliebhaber und Abenteurer. »Für die Radfahrer gibt es ja zig Routen«, so der Innsbrucker. »Aber zu Fuß gab es einfach nichts Vergleichbares.« Das Schöne an seinem Weg: Man kann die Natur im Alpenraum hautnah erleben, ohne sich jedoch zu überanstrengen. Denn die Route mit dem »Ü« kann fast beliebig unterbrochen, verlängert oder auch gekürzt werden. Möglich macht das die gute Infrastruktur, sodass man schnell die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen kann, um letzten Endes genau die Intensität zu bekommen, die man haben möchte. Es ist ein bisschen Bergwandern mit ständigem Plan B im Hinterkopf, was gerade für Familien oder Gruppen mit sehr unterschiedlichen Motivations- oder Konditionsgraden zuträglich sein dürfte.

Wanderer am Achensee

Andreas Dauerer

Aber natürlich will man die sieben Tage durchhalten und aus eigener Kraft ans Ziel kommen, sonst ist das ja nur der halbe Spaß. Und dennoch ist da dieses Polster, dass man bei extrem schlechtem Wetter auch eine Alternative hätte, wunderbar praktisch, sodass letztlich auch kein Zeitplan torpediert wird.

Hervorragende Alpenküche

Also geeignete Kleidung und Schuhwerk anlegen und einfach loslaufen. Tegernsee, Wildbad Kreuth, Achensee, Hochfügen, Mayrhofen, Pfitsch und schließlich Sterzing. Man kann die Tour allein machen und sich selbst die Unterkünfte aussuchen oder sich über ein Reisebüro helfen lassen und ein kleines Paket buchen. Letzteres hat den Vorteil, dass auch das Gepäck transportiert wird und Shuttlebusse auch mal die Arbeit des Nahverkehrs übernehmen können. Das ist dann schon sehr komfortabel. Genächtigt wird durchgängig in familiär geführten Hotels und Pensionen mit – das möchte ich an dieser Stelle einmal betonen – richtig gutem Essen. Keine Haute Cuisine, aber hervorragende, alpenländische bis mediterrane Küche, die deutlich mehr ist als ein bloßer Energielieferant.

Forst Bier in einer Almhütte in den Alpen

Andreas Dauerer

So kommt nach einem langen Tag bei Kürbiscremesuppe, Hirschbraten, Vanilleeis und hausgemachtem Käse schnell wieder Schwung in die müden Glieder und auch das ein oder andere Getränk kann Körper und Geist mit einem gefüllten Magen besser vertragen. Wobei, wer wandert, der schlägt sich nicht die Nächte um die Ohren, sondern ist weit vor Mitternacht im Bettchen. Schließlich fängt vor allem der frühe Vogel bekanntlich die wunderbaren morgendlichen Stimmungen so richtig ein und ist ganz nebenbei auch schneller am Ziel, um dann die Abendsonne zu genießen.

Alpenüberquerung für jedermann

Überhaupt ist es dieser Genuss, der sich beständig durch alle Etappen zieht. Die Alpenüberquerung vom Tegernsee bis nach Sterzing ist eine Wanderung ohne lebensgefährliche Verrenkungen und auch ohne vorheriges Trainingslager. Man wandert durch die Berglandschaft, wo es zu anstrengend oder kompliziert wird, steigt man in den Bus oder die Seilbahn. Es ist ein etwas anderer Ansatz und der ist schön. Familien treffe ich auf der Route, auch ältere Wanderer haben hier ihre Freude an der Natur – ganz ohne Seilschaft. Zarte Bande knüpft man ohnehin am besten bei den Pausen am Wegesrand oder bei deftigen Mahlzeiten in den Almhütten und am Abend im Hotel sowieso.

Einkehr im Pfitscher-Jochhaus

Andreas Dauerer

»Ich finde es total geil«, sagt Clemens, Anfang 50, leicht ergraute Mähne und bekennender Bulli-Fahrer aus Nordrhein-Westfalen.

»Alles ist top organisiert, nicht zu schwer und das Schönste: Wir treffen immer wieder auf richtig tolle Leute, die die gleichen Erlebnisse machen wie wir selbst.«

Wahrscheinlich ist es genau diese doch etwas ungewöhnliche Mischung auf der Strecke, die den besonderen Reiz dieser Alpenüberquerung ausmacht. Wandern in den Hochalpen, links und rechts scharfe Zacken, die einen immer wieder majestätisch begleiten, ein Weg, der anspruchsvoll, aber auch für relativ Ungeübte machbar ist. Eine Grundfitness darf man schon mitbringen, meint Georg zwar. Aber auch schon über 80-Jährige hätten die Tour bis dato wunderbar meistern können.

Wanderer bei einer Alpenüberquerung zwischen Deutschland und Österreich

Andreas Dauerer

Ein Highlight der Alpenüberquerung: Die Gaisalm am Achensee

Wer nach einzelnen Höhepunkten fragt, den muss ich an dieser Stelle enttäuschen. Hinfahren, selber wandern. Jeder Tag ist anders, außerdem spielt auch das Wetter immer eine gewichtige Rolle. Der Vorteil der Alpen ist jedoch auch, dass das Wetter schnell umschlagen kann. Sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Aber natürlich gibt es ein paar Highlights. Der Weg am Achensee in Tirol etwa, der wohl anspruchsvollste, was weniger an den Höhenmetern liegt, die überwunden werden müssen, sondern am Weg selbst.

Immer wieder etwas steiler abfallende Hänge, die natürlich wunderbare Blicke auf den See ermöglichen, die bei manchen Wanderern jedoch eher ein Anschmiegen an die Felsseite zur Folge haben. Trittsicher und ein wenig schwindelfrei sollte man bei der ganzen Tour dann schon sein. Belohnt wird man aber im konkreten Beispiel mit einer Wanderung am Seeufer und durch Buchenwälder sowie einem obligatorischen Kaltgetränk auf der Gaisalm. Hier kommt man nämlich nur zu Fuß hin oder mit dem Ausflugsschiff. Ein grünes Idyll mit Blick auf die umliegenden Berge.

Highlight der Alpenüberquerung: Die Gaisalm am Achensee

Andreas Dauerer

Auch Tag vier mit dem Einstieg in hochalpine Regionen. Die Ausblicke vom Spieljoch auf den Hochfügen und ins Zillertal sind atemberaubend. Ende September leuchten die Berge dazu feuerrot, weil die Blätter der Beerensträucher sich jetzt ins Rötliche verfärben.

Yoga im Freien

Und natürlich ist die vorletzte Etappe ein wirkliches Schmankerl. Vom Schlegeisspeicher hinauf zum Pfitscher Joch und dem Grenzübertritt von Österreich nach Italien und anschließend wieder hinunter ins Tal. Die Überquerung des Alpenhauptkamms ist nicht besonders schwer, dafür landschaftlich unbeschreiblich schön. Ein glasklarer Wasserfall begleitet den ersten Teil des Aufstiegs, irgendwann sind es nur noch Sonne, Wind und ein paar andere Wanderer, die man überholt oder die an einem vorbeihuschen.

Wegweiser zum Pfitscherjoch in den Alpen

Andreas Dauerer

Mal sind es Kuhglocken und wenn man Glück hat, sieht man auch mal Gemsen. Das Knirschen der Steine unter der Sohle, das bewusste Wahrnehmen des eigenen Herzschlages, Ein- und Ausatmen. Wer seinen eigenen Rhythmus, sein eigenes Tempo gefunden hat, der wird ein ganz natürlicher Teil der Szenerie. Der Körper funktioniert, der Geist fliegt. Ein bisschen wie Yoga im Freien. Herrlich.

Natürlich kommt der Einkehrschwung auf 2.275 Metern über dem Meeresspiegel – im Pfitscherjochhaus –gerade recht. Die Maccaroni sind kein Geheimtipp mehr, schmecken aber immer noch hervorragend. Dazu eine Apfelschorle, ein kühles Bier oder einen grünen Veltliner. Runterkommen. Ratschen. Rausgucken. Auf die Hohe Wand, den Schrammacher, Olperer, Hochferner und, natürlich, weit ins Tal. Genießen. Einfach immer wieder genießen.

Kühe stehen am Wegesrand in den Alpen

Andreas Dauerer

Das Gefühl von Glückseligkeit

Anschließend geht es dann hinunter ins Pfitschertal. Der Abstieg wird begleitet von andauernden Blicken in das langgezogene, saftig grüne Tal. Das hat den Vorteil, dass man immer genau weiß, wo man hinmuss. Je nach Konditionslage kann es auch mal nerven, weil es mitunter den Anschein hat, dass dieses Tal auch nach einer Stunde Abstieg noch nicht signifikant näher gekommen ist. Spätestens, wenn das Geröll weniger und der Waldboden überhand nimmt, ist man nicht nur auf der richtigen Route, sondern auch nah am Tal.

Wanderer legen Pause ein im Pfitschertal

Andreas Dauerer

Ich ziehe die Schuhe aus und laufe die letzte halbe Stunde hinunter nach St. Jakob, barfuß über den weichen Untergrund. Ein paar Wurzeln und Steine können mir nichts mehr anhaben. Genau diese Momente sind es, die ich festhalten möchte. Ein Stück Glückseligkeit, die sich wie ein Kokon ganz zärtlich um mich wirft. Ein Augenblick, in dem ich gerne die Zeit anhalten möchte.

Weitere Informationen zur Alpenüberquerung

Infos. Offizielle Seite der Alpenüberquerung vom Tegernsee bis nach Sterzing mit allen wichtigen Informationen, Karten und Beschreibungen zur Route sowie direkte Buchungsmöglichkeit. Preise ab 850 Euro im DZ für individuelle Touren, inkl. Frühstück, bis 1.470 Euro pro Person im DZ inklusive sechsmal Halbpension. Weitere Infos zu Angeboten und allgemeinen Fragen beim Buchungsbüro Feuer und Eis Touristik unter +49 8022 66364 0

Aussicht in Pfitschertal

Andreas Dauerer

Reisezeit. Die Alpenüberquerung lässt sich von etwa Mitte Juni bis Mitte September durchführen. In den Anfangs- und Endmonaten kann durchaus einmal Neuschnee fallen.