Es gibt Orte, die scheinen aus der Zeit gefallen zu sein. In anderen tickt die Uhr nicht richtig oder läuft gar rückwärts – und dann gibt es da noch Helsinki. In der finnischen Hauptstadt ist die Zukunft längst Alltag. reisen-EXCLUSIV-Autorin Simone Sever war während ihres Kurzbesuch nachhaltig beeindruckt.

Ich trenne meinen Müll. Ich gehe zu Fuß, wann immer es möglich ist, ich nutze die öffentlichen Verkehrsmittel, und wenn ich Taxi fahren muss, dann steige ich (fast) nur noch in elektronische Sammeltaxen ein. Ein Auto hab ich gar nicht. Mein Kaffee ist Fairtrade, meine Hühnereier sind bio, mein Hack gern auch vegan, ich beiße in regionale Äpfel und erfreue mich an saisonalem Spargel. Dennoch: Mein ökologischer Fußabdruck ist ein paar Nummern zu groß. Das geht auch Menschen in anderen Ländern und Städten so. Ganz bestimmt. In Helsinki aber versuchen sie an vielen Orten, die Welt nachhaltiger zu gestalten. Wie, das habe ich mir einmal vor Ort angesehen.

Regionales und saisonales Obst und Gemüse

Dan Dealmeida

Wasser

»Quay 6« heißt die Arbeit des finnischen Künstlers Jaakko Niemelä, der auf der Helsinki Biennale 2021 unter dem Motto »The Same Sea« (dasselbe Meer) zum Nachdenken anregte. Auf dem verwilderten Eiland Vallisaari muten Niemeläs Installation auf den ersten Blick eher wie ein Baugerüst an. Doch hinter der Konstruktion steckt mehr, denn »Quay 6« versinnbildlicht nicht nur den Zusammenhang vom großen Ganzen, sondern ist zudem Schaubild der Auswirkungen des Klimawandels auf die Schären.

Jaakko Niemelä: Quay 6, 2021

Maija Toivanen/HAM/Helsinki Biennial 2021

Eine Erklärung: Nähme man etwa einen einzigen Baustein der Gerüststruktur weg, könnte das ganze Gebilde zusammenbrechen. Ein mögliches reales Szenario: Das nördliche Eisschild Grönlands schmilzt, der globale Meeresspiegel steigt um sechs Meter an, also in etwa auf die Höhe der alarmroten Plattform des Kunstobjekts. Zeit, zu handeln!

CO2-neutral bis 2035

Noch ist das Wasser im Schärengarten der finnischen Hauptstadt mit den über 300 Inseln glücklicherweise nicht auf einem bedenklichen Pegelstand. Damit das auch in der Zukunft nicht passieren wird, gehen Land und Städte und vor allem die Hauptstadt Helsinki mit großen Schritten voran. Bis 2035 wollen die Finnen ihren CO2-Ausstoß neutralisieren. Natürlich wird nachhaltig geplant.

Küste vor Helsinki in der Morgendämmerung

Kari Ylitalo/ Helsinki Marketing

In Vallila und Puu-Käpylä, zwei Stadtvierteln, wird aus Holz gebaut, in zwei anderen Teilen der Stadt, in Jätkäsaari und Kalasatama, wird der Müll bereits unterirdisch entsorgt und recycelt. Es wird über autonom fahrende Busse nachgedacht. Fahrräder und Elektroautos statt Verbrennungsmotoren. Öffentliche Institutionen dienen dem Gemeinwohl für mehr soziale Gerechtigkeit, und das Wasser aus dem Hahn wird von frischen Quellen gespeist. Plastikflaschen sieht man nur noch selten.

Moderne Architektur trifft auf nachhaltige Bauten aus Holz in

Kuvatoimisto Kuvio Oy/ City of Helsinki

Die Umwelt schützen, das ist für die Finnen so klar wie das Wasser, in das sie sich in Helsinki sommers wie winters nach der Sauna werfen. Offensichtlich macht das glücklich, denn die Finnen gelten als das glücklichste Volk der Welt.

Ganz ohne Müll

Glück ist es auch, was Köche und Köchinnen auf den Teller der jungen und modernen Restaurantszene komponieren. Regional und saisonal stehen dabei umweltschonend im Fokus. Im »Nolla«, was übersetzt Null bedeutet und für Zero Waste steht, entsteht kein Müll mehr.

Einblick in das Nolla Restaurant, ein Zero Waste Restaurant in Helsinki

Simone Sever

Man habe gar keinen Mülleimer, der sei obsolet. Wie das geht? Keine Lieferungen, die in Plastik geschweißt den Laden erreichen. Für alles gibt es eigene, wiederverwertbare Behälter, auch eine eigene Mikrobrauerei. Kein Obst und Gemüse, das in Kartons geliefert wird. Alles wird in den angebotenen Speisen verarbeitet oder landet schlussendlich auf dem Komposthaufen und fügt sich erneut in den Kreislauf des Lebens ein. Die Karaffen auf den Tischen aus heimischen Hölzern sind recycelte Wasserflaschen, die Outfits der Belegschaft aus Upcycling-Stoffen und die Kulinarik ist immer wieder so überraschend kreativ, dass sich das »Nolla« nun mit einem grünen Michelin-Stern schmücken darf.

Zero Waste Kitchen im Nolla Restaurant

Simone Sever

Nachhaltiges und Design in Helsinki

Schmückendes, Kleidendes und Lokales in Sachen Design, Fashion und Art findet sich auf zwei Etagen im Glasshouse Helsinki. Der Gedanke der Glasshouse-Macher: die Kunden zu nachhaltigem Denken zu ermutigen, etwa mit handgefertigten Holzschuhen, plastikfreien Designerregenjacken, Schmuck aus Altmetallen.

Postkarten werden auf Flohmarkt im nachhaltigen Helsinki verkauft

Jussi Hellsten/ Helsinki Marketing

Auch der »Hidaka Ohmu Seaweed Pavilion« von Julia Lohmann, ein begehbares Kunstwerk aus dem Meer, zeigt, dass Nachhaltigkeit, Design und Kunst in Helsinki Hand in Hand gehen. Kunst in außerordentliches Design verpackt, ist seit 2018 im Amos Rex zugänglich, besonders die unterirdische Etage des Kunstmuseums wurde von den JKMM Architects zum eigenen Kunstwerk erhoben: weißes Licht, weiße Treppen, weiße Lichtinstallationen, runde Oberlichter, die dem Raum Tageslicht schenken – und oberirdisch wie das Cockpit eines U-Boots aus dem Boden ragen – sind wohlgestaltete Hingucker, die die wechselnden Ausstellungen umrahmen und in den Ausstellungsräumen die grauen Hirnzellen der Kunstinteressierten stimulieren.

Kunstmuseum Amos Rex von außen und innen in der finnischen Hauptstadt Helsinki

Tuomas Uusheimo & Mika Huisman/ Amos Rex

Wissen für alle

Wie wichtig gute Bildung ist, und dass man das in Finnland auch kann, wissen wir, seitdem die Nordlichter Jahr für Jahr zu den Spitzennationen im Pisa-Bildungsranking gehören. Kein Wunder also, dass sich die Stadt Helsinki zum 101. Geburtstag der finnischen Unabhängigkeit eine Bibliothek für alle geschenkt hat.

Das spektakuläre Leseschiff der Oodi Bibliothek, das formschön sämtliche Kameralinsen auf sich zieht, ist ein öffentlicher Raum ohne Eintrittskarte, denn der Zugang zu öffentlichen Büchereien im Land ist ein festgeschriebenes Bürgerrecht. Im Oodi ist jeder willkommen, alles auszuprobieren. Musikinstrumente, die vielleicht für die eine oder den anderen nicht finanzierbar sind. Studios, in denen eigene Songs oder Podcasts aufgenommen werden können. Wer mag, nimmt Platz an Nähmaschinen und kreiert aus alten Stoffen Neues oder versucht sich an den hochmodernen 3D-Druckern. Bücher, Video- und PC-Games, einfache Brettspiele – alles für alle.

Zentralbibliothek Oodi in Helsinki

Tuomas Uusheimo/ Helsinki Marketing

Manch einer kommt nur für einen Kaffee auf der Außenterrasse oder macht es sich mit einer Zeitschrift in einem der Ball Chairs gemütlich. Die Zentralbibliothek ist auf so vielen Ebenen eine gelungene Sache, auch für diejenigen, die der finnischen Sprache nicht mächtig sind. Auf den Wänden der Wendeltreppe, des spiralförmigen Herzstücks, lohnt es sich, innezuhalten und sich all die fremdartigen Wörter auf der Zunge zergehen zu lassen: Rauhallisille, Elämänjanoisille, Perheille, Prinsessoille, Serkuille, Sympaattisille.

Menschen sitzen auf der Terrasse der Oodi Zentralbibliothek

Aleksi Poutanen/ Helsinki Marketing

Ich kannte bisher nur ein finnisches Wort: Kalsarikännit. Das steht für »sich zu Hause in Unterwäsche betrinken, ohne den Wunsch, noch ausgehen zu wollen!« Ein Emoji gibt es übrigens auch für den Begriff. Spinnen die Finnen also vielleicht doch? Oder sind sie auch hier beim Thema Social Distancing der Zeit schon lange einen großen Schritt voraus?

Um Land und Leute in Finnland besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in Gudrun Söffkers unterhaltsamen Reiseknigge aus der Serie »Fettnäpfchenführer: Finnland – Wenn der Fisch nicht beißt, spart man den Wurm«. Erschienen im Conbook Verlag. ISBN: 978-3-95889-181-4 für € 12,95

Seitenstraße führt zur Kathedrale in Helsinki, der finnischen Hauptstadt, die sich sehr für Nachhaltigkeit einsetzt

Emilia Hoisko/ Visit Finland

Weitere Informationen zu Helsinki gibt es in unseren Reise-Tipps Helsinki.