Cast away. Oder: Warum man manchmal auf einer Insel wie Anguilla stranden muss, um sich selbst und Harrison Ford zu begegnen. Text: Carolin John

Aus dem Verandafenster sehe ich auf das karibische Meer. Ich reise alleine. Es ist Mittagszeit, ich habe eingecheckt und bin zwei Etagen hochgelaufen. Nun stehe ich in einer (mit Korbmöbeln und kreisförmig gehäkelten Bastteppichen) Understatement simulierenden Luxussuite. Auf dem Schreibtisch liegen cremefarbenes Briefpapier, drei Schwarz-weiß-Postkarten und ein Kugelschreiber. Auf dem Hocker liegt mein Koffer.

»Das werden Erinnerungen sein, die dir niemand nimmt«, hatte mein Freund zu mir gesagt, als ich packte.

Dann schloss ich den Koffer und meine Fragen darin ein. Vertagte die Antwort, weshalb ich mich immer wieder auf den Weg mache, warum ich mich immer wieder auf Reisen begebe. Mit Öffnen des Koffers in der schwülwarmen Fremde sind auch die Fragen wieder da. Das eigene Leben reist mit. Ich ignoriere mein gedankliches Gepäck, ziehe aus meinem Koffer meine Strandtasche hervor; ich verstaue das Briefpapier und den Hotel-Kugelschreiber darin. Dann mache ich mich auf den Weg, erst mal nur zum Strand.

Wunderschöner Strand in der Karibik

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Der Mann von der Handtuchausgabe schläft. Ich nehme mir dennoch ein Handtuch aus dem Regal. Der Strand des Hotels liegt am Endbogen einer größeren Bucht. Der Logistik des Nichtstuns folgend, blicke ich aufs Meer. Dort schaukelt einsam in der Ferne ein kleines Boot auf den Wellen. Ich komme zu dem Bewusstsein, dass ich nur deshalb nach Anguilla geflogen bin, weil ich mich befreien wollte. Aus meiner Strandtasche ziehe ich die Postkarten he­raus und schreibe an Hanna nach Deutschland. Ein paar Monate zuvor fragte sie mich am Telefon: »Und, wann fliegst du wieder?« – »Bald, sehr bald.«, sagte ich. Ein paar Wochen später bestätigte ich die Tickets nach Anguilla. Ich wollte weg.

Zehn Stunden Flug später

Und kam an. Nach zehn Flugstunden und einer kurzen, aber holprigen Speedbootfahrt von St. Martin nach Anguilla stand ich vor zwei uniformierten Einreisebeamten, Judy und Rick, beide schwarz – wie soviele Menschen hier in der Karibik Nachfahren der einstigen Sklaven sind. Ihre richtigen Namen habe ich vergessen. Judy und Rick hielten ein Schwätzchen. Nebenbei bedeutete mir Judy mit einer lässigen Armbewegung, ich solle durch den Türbogen gehen, der in der Mitte des Raums aufgebaut war. Rechts und links hätte man einfach so vorbeigehen können.

Anreisedock auf karibischer Insel

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Judy kicherte geheimnisvoll, und Rick lachte, schüttelte sich freudig und klatschte dabei lautlos in die Hände. Nachdem ich meinen Gürtel, meine Tasche und sämtliche lose an mir hängenden, steckenden oder in Taschen transportierten Kleinstgegenstände in einen von Judy dafür vorgesehenen Korb gelegt hatte, praktisch nur in Jeans und T-Shirt durch den Türbogen schritt, ja somit dem Türbogen keinen Anlass mehr gab, Alarm zu schlagen und zu piepsen, falls er jemals über diese Funktion verfügt haben sollte, reichte mir Judy den Korb mit den von mir abgelegten, potenziell den Türbogenalarm auslösenden Gegenständen – nicht durchleuchtet, noch nicht einmal mit einem Blick bedacht, am Türbogen vorbei. Rick summte eine Melodie. »No man, no cry.« Und Judys Hüften zeichneten den Takt zur Melodie in der Luft nach. Lächelnd betrat ich Anguilla.

Liebe Hanna, so beginne ich zu schreiben. Die Insel ist Offenbarung und Geheimnis zugleich, setze ich an. Und breche ab. Blicke wieder aufs Meer.

Verdammt viele Buchten hier

Die karibische Koralleninsel, auf deren Sandstrand ich gerade liege, ist konsequent klein, schmal und flach. Anguilla ist sogar derart klein, dass sie selbst in den großen legendären Reiseführern keine oder kaum mehr als auf einer Seite Erwähnung findet. Die Nordseeinsel Sylt zum Beispiel ist dreimal so groß wie Anguilla. Mit etwa 14.000 Einwohnern ist Anguilla so etwas wie ein Dorf. Jeder kennt jeden, und wenn nicht, grüßt man sich trotzdem. Anguilla ist flach wie eine Flunder.

Pärchen spaziert an einem Strand auf Anguilla

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Es gibt keinen Berg oder gar einen Vulkan wie auf den anderen Antilleninseln. Und eine Inselrundfahrt erübrigt sich, weil die Insel nicht rund, sondern lang ist; Anguilla heißt schließlich »Aal« auf Spanisch. Die Hauptstraße, die eher ein breiter Feldweg ist, führt von einem Zipfel zum anderen – biegt man in eine Stichstraße ein, gelangt man in der Regel zu einem Small-Leading-Hotel-of-the-World, dahinter beginnt das Meer. Da die Insel – neben der Hauptstraße – eigentlich nur aus Buchten besteht, gibt es auch keine Straßennamen. In der Hauptstadt The Valley gibt es einen Tante-Emma-Laden, eine Tankstelle und die einzige Ampel der Insel. Die Ampeln haben, als sie in den 1990er-Jahren installiert wurden, zu nachhaltiger Verunsicherung geführt. Zwar wusste man, dass man bei Rot anhalten und bei Grün fahren sollte. Doch dieses Gelb konnte man sich nicht so recht erklären. Achtung, sollte es heißen. Und deshalb blieben bei Gelb alle stehen.

Die Promi-Dichte auf Anguilla ist ziemlich hoch

So klein die Insel auch ist, so groß hingegen ist die Prominentendichte. Thomas Gottschalk und Paris Hilton nächtigen im superben, jungen und dynamischen Luxushotel Cap Juluca. Calista Flockhart, alias Ally McBeal, sonnt sich im Schutz des gediegenen, liebenswert und persönlich geführten Luxushotels Malliouhana. Robert de Niro, Eric Clapton und Prinz William (»Der sieht ja aus wie jeder andere«) Windsor sind in Badeshorts und Kaltgetränk in der Hand kaum von anderen Strandurlaubern zu unterscheiden. Und so ist Anguilla erfrischend unaufgeregt, die Ruhe selbst. Keine Bäume für Paparazzi, keine versteckten Hauseingänge. Auf ganz Anguilla gibt es so wenige Gebäude mit Geschichte, dass man die alte Grundschule neben der neu gebauten stehen ließ – als Denkmal. Weit und breit also keine Konkurrenz für Sonne, Strand und Meer.

Mann in Bademantel spaziert durch karibisches Luxushotel

Cory Bjork

Das war’s eigentlich. Was ist von so einem Aal bloß Aufregendes zu erzählen? Ich lege die Postkarte zur Seite. Und schlage den in vielen Regenbogenfarben bebilderten Gedichtband mit karibischen Gedichten und Liedern auf, den ich am Flughafen in St. Martin gekauft habe:

»Be true to your dreams, and keep them alive. Always believe in yourself. Keep good thoughts in your mind and good feelings in your heart. Keep love in your life, and you will find the love and light in everyone.«

Eine Strophe gefällt mir. Ich schreibe sie auf die Postkarte:

Karibische Lyrik
Be true to yourself in the paths that you choose.
Follow your talents and passions.
Don’t take the roads others say you must follow because they are the most popular.
Take the paths where your talents will thrive – the ones that will keep your spirits alive with enthusiasm and everlasting joy.

Hanna wird mich fragen, ob ich zu viel Sonne abbekommen habe. Noch nicht genug, beschließe ich, klappe den Sonnenschirm zu und schiebe mir meine Sonnenbrille ins Gesicht. Was in den lyrischen Zeilen zum Ausdruck kommt, ist der Verzicht auf Effektivität. Die Anguillaner haben sogar nicht nur esoterische Mantras, sondern auch einen Fachterminus dafür: Liming. Liming bedeutet so viel wie hundertprozentige Vollentspannung.

»Es geht darum zu fühlen, nicht zu denken«, erklärte mir mein Inselguide.

Ich taste mich langsam an den Zustand heran. Hätte ich nicht das Bedürfnis, dieses Gefühl in Worte zu fassen und auf eine Postkarte nach Deutschland zu schicken – mir würde das Liming fast gelingen. Liming widersetzt sich jeder Art gedanklicher Reflexion.

Fühlen, nicht denken. Denke ich. Ich schließe probeweise die Augen. Spüre den warmen Passatwind, rieche – eigentlich nichts, kein Salzwasser, keinen Tang. Die Insel ist fast ätherisch rein. Plötzlich vernehme ich ein kindliches Lachen. Ein blasser, etwa fünfjähriger Junge mit dunkelbraunen Locken läuft mit weit ausgebreiteten Armen Richtung Meer. »Scht, be quiet, the lady is trying to relax«, flüstert ihm seine Mutter halblaut hinterher. Was den Lockenschopf aber nicht davon abhält, wie Johnny Depp in »Fluch der Karibik« das Terrain zu erobern.

Kleiner Junge rennt ins Meer

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Nur spiegelverkehrt: Während Johnny Depp vom Boot sprang und mit wehenden Zöpfen Richtung Land lief, findet hier vor meinen Augen gerade eine Neuinterpretation der Szene statt. Es sollte mehr solcher Perspektivenwechsel geben, denke ich bei mir. Ein größerer Pirat, Mitte 60, entert kurz darauf schlendernd den Strand. Beigefarbene Shorts, dunkelblaues Poloshirt, Baseballkappe, mit Getränk in der Hand stakst er tiefenentspannt durch den tiefen weichen Sand und mein Sichtfeld. Es ist Harrison Ford. So langsam beginne auch ich die Leichtigkeit dieser Insel zu fühlen. Toll ist es, hier, auf diesem Aal, nur eine Palmwedellänge entfernt neben Indiana Jones zu liegen.

Der letzte Tag? Am Strand von Sandy Bay!

Nach einer Woche Aal-Ferien möchte ich bleiben, auf Anguilla, in der Limingzone. Ich habe weiße, wirklich weiße Strände gesehen. Wasser in Ultraultramarineazurtürkisblau. Ich habe Elvis gesehen, der dunkelhäutig ist, Rastalocken hat und glücklicher Besitzer eine Bar ist, die seinen Namen trägt. Ich habe einen tropischen Mond erlebt, der heller strahlte als jedes Diskolicht, und ich habe Harrison Ford beim Frühstück, beim Sonnenbaden und beim Abendessen gesehen. Ich weiß nicht so viel mehr über mich als zuvor. Aber ich hatte eine wunderschöne Zeit und sehr viel Spaß.

Auf meiner Karte an Hanna ist noch Platz. Den vorletzten Nachmittag auf der Insel verbringe ich im Johnno’s, einer Jazz-Bar direkt am Strand von Sandy Bay. Dort erzählt uns die Künstlerin Sue die Legende vom Fischer und dem Amerikaner: Vor vielen Jahren kam ein amerikanischer Geschäftsmann nach Anguilla. Im Hafen sprach er einen Fischer an. Mit Blick in dessen Holzboot voller Fische beglückwünschte der Geschäftsmann den Fischer zu seinem guten Fang und fragte, wie lange er denn gebraucht habe, die alle zu fangen. »Ach«, sagte der Fischer, »nicht lange.« – »Warum bleibst du denn nicht länger auf See, um noch mehr Fische zu fangen?«, fragte der Geschäftsmann ermunternd. Woraufhin ihm der Fischer antwortete, es sei doch genug, um gut zu leben und die Familie zu ernähren. Darauf entgegnete der Geschäftsmann: »Und was machst du mit dem Rest deiner Zeit?«

Postkartenidylle an einem Strand auf Anguilla

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»Ich schlafe lange, fische ein wenig und spiele mit meinen Kindern, mache Mittagspause mit meiner Frau Maria, genieße die Natur, und jeden Abend trinke ich ein Glas Wein mit meinen Lieben oder spiele Gitarre mit meinen Freunden. Ich habe ein erfülltes und glückliches Leben«, sagte der Fischer.

Doch der Ehrgeiz des Geschäftsmanns war geweckt, er sprach energisch: »Ich bin Harvard-Absolvent, und ich kann dir helfen! Du solltest mehr Zeit darauf verwenden, fischen zu gehen, und von dem Gewinn, den du durch den gesteigerten Umsatz erzielst, kannst du dir ein neues, größeres Boot kaufen. Mit diesem kannst du noch mehr Fische an Land holen, und bald kannst du dir eine ganze Flotte leisten. Dann verkaufst du die Fische nicht mehr über einen Zwischenhändler, sondern gründest dein eigenes Vertriebssystem. Dazu wird es nötig sein, dass du dein kleines Dorf verlässt, du gehst vielleicht erst nach San Juan, dann nach Los Angeles und später nach New York. Du baust dir dein eigenes expandierendes Unternehmen auf!«

Daraufhin fragte der Fischer: »Wie lange wird das alles dauern?« Und der Geschäftsmann antwortete: »Etwa 15 bis 20 Jahre.« – »Aber, was dann?«, wollte der Fischer wissen. »Dann«, lachte der Geschäftsmann, »dann kommt der beste Teil: Wenn die Zeit reif ist, verkaufst du dein Unternehmen und wirst sehr reich. Du machst Millionen!« – »Millionen«, wiederholte der Fischer und fragte ein letztes Mal: »Und dann?« Auch darauf wusste der Geschäftsmann eine Antwort:

»Dann gehst du in den Ruhestand, ziehst in ein kleines Fischerdorf, fischst ein wenig, spielst mit deinen Kindern und Enkeln, machst Mittagspause mit deiner Frau Maria, genießt die Natur und trinkst jeden Abend ein Gläschen Wein mit deinen Lieben und spielst Gitarre mit deinen Freunden.«

Sonnenuntergang am Strand

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Ich hole noch einmal die Postkarte an Hanna hervor. Und schreibe:

P. S.: Lass uns bald bei mir eine gute Flasche Wein zusammen trinken. Bald, sehr bald!
Deine Carolin

Hoteltipps. Malliouhana Hotel & Spa, Meads Bay. Das Malliouhana ist berühmt für seinen exzellenten Weinkeller.

CuisinArt Resort & Spa. Rendezvous Bay. Neben einer exzellenten Küche ist besonders die Hydroponical Farm eine Besonderheit des Hauses, ein einzig auf Wasser- und Mineralbasis funktionierendes Gewächshaus, das sämtliche Kräuter und Gemüse täglich frisch bereithält.

Cap Juluca, Maundays Bay. Hier wurde nicht nur die Raffaello-Werbung gedreht, sondern das Hotel wird auch regelmäßig zu den besten Hotels der Karibik gekürt.

Weißer Sandstrand an einem der schönsten Strände der Welt

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Ausgehen. Johnno’s: Jazz-Bar direkt am Strand von Sandy Ground, geöffnet von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, Samstags abend und sonntags Livemusik Pumphouse: Rustikale In-Kneipe unter deutscher Leitung am Salzsee in Sandy Ground, donnerstags und samstags Livemusik Veya: Gourmet-Restaurant in stilvollem Baumhausflair, Road to Sandy Ground Dune Preserve Restaurant: Am Zipfel der Rendevous Bay gelegen, ist die Bar mittags Bistro und abends ein entspannter Nachtclub; der Inhaber, Bankie Banx, ist ein berühmter Musiker – er wird auch als »Bob Dylan von Anguilla« bezeichnet.

Temenos Golfplatz. 18-Loch-Championship Golfkurs, entworfen von Greg Norman, geführt vom Cap Juluca.

Strände. Insgesamt gibt es 33. Dies sind die besten: Shoal Bay, Rendevouz Bay, Maundays Bay.

Reisezeit. Hauptsaison ist von November bis April. Von Mai bis Juli ist mit Regenschauern zu rechnen. Hurricane-Saison ist von August bis Oktober.